Ginger und Fred. Oder: die Vergiftung des politischen Klimas

Text für die Zeitschrift Wespennest Nr. 176, erschienen im Mai 2019
In seinem 1985 entstandenen Film Ginger
und Fred
zeigt der große italienische Regisseur Federico Fellini das Paar
Giulietta Masina und Marcello Mastroianni als gealterte Varietékünstler, die
das verhängnisvolle Angebot eines Fernsehsenders annehmen, nach vielen Jahren
noch einmal gemeinsam aufzutreten. Fellini beschreibt in Ginger und Fred zwei Entwicklungen, die in den folgenden
Jahrzehnten bestimmend sein sollten: eine Unkultur der organisierten
Massenunterhaltung des Fernsehens und der kommerziellen Werbung sowie einen
Verlust der Menschlichkeit in der modernen Konsumgesellschaft. Ginger und Fred ist die Ankündigung
einer seelenlosen Gesellschaft.
Was
sich damals erst abzeichnete, ist heute das beherrschende Modell. Diese
gesellschaftliche Entwicklung mag zum Kippen des politischen Klimas beigetragen
haben. Das politische Klima am Anfang des Jahres 2019 ist nicht nur ein anderes
als zur Zeit der Entstehung von Ginger
und Fred
vor mehr als dreißig Jahren. Es unterscheidet sich auch von der
politischen Atmosphäre, wie sie noch vor Kurzem herrschte. Das wäre an sich
nichts Besonderes. Die politischen Stimmungen, lokal und global, sind einem
häufigen Wandel unterworfen. Sie unterliegen Trends, sie werden von
charismatischen Persönlichkeiten mitbestimmt, durch Naturkatastrophen oder
wirtschaftliche Entwicklungen beeinflusst. Doch diesmal ist es etwas anderes. Es
wird oft beschrieben und zu erklären versucht, fast alle spüren es in der einen
oder anderen Form: In dem politischen System, wie wir es seit 1945 bis vor
einigen Jahren hatten, ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Vorerst nur
atmosphärisch; doch in einigen Staaten gilt dies bereits für die Institutionen.
So wie 2018 einer breiten Bevölkerung in Europa durch die extreme Hitze und
Trockenheit der Klimawandel auf der Erde bewusst wurde, so spürbar war auch die
Veränderung des politischen Klimas. Eigentlich: die Vergiftung des Klimas.
Den
atmosphärischen und tatsächlichen Wandel kann man an einigen markanten
Aufnahmen festmachen. In den USA folgt auf den intellektuellen Präsidenten
Obama mit Trump ein notorischer Lügner, der Frauen öffentlich verächtlich macht
und genüsslich einen unkultivierten Umgang pflegt. Ein Faschist wird zum
Präsidenten Brasiliens gewählt. In Europa wird Schiffen, die Flüchtlinge im
Meer aufgegriffen haben, die Landung verwehrt. Vor einigen Jahren noch hätte
man das Verweigern der Landung strafrechtlich verfolgt, nun ermittelt man gegen
die Retter. In Österreich wird jemand Innenminister, der Flüchtlinge in «Lagern
konzentrieren» möchte. Ein niederösterreichischer Landesrat setzt das um, er
bringt jugendliche Asylwerber in einer Grenzbaracke unter, lässt das Haus mit
Stacheldraht umzäunen und spricht von einer notwendigen «Sonderbehandlung». Es war
dies die Wortwahl der Nationalsozialisten, wenn sie ihren Massenmord
umschreiben wollten. Die Bundesregierung betont regelmäßig die Verantwortung
Österreichs für die Verbrechen in der NS-Zeit, sie verurteilt Antisemitismus.
Und gleichzeitig nährt sie mit verschiedensten Mitteln der politischen
Kommunikation Rassismus und führt alle Probleme, vom Bildungssektor bis zum
Budget, auf Migration und den Islam zurück. Sie bricht in immer kürzeren
Abständen Tabus. Wird sie kritisiert, dreht sie den Spieß um und inszeniert
sich als Opfer. Man mag die politische Strategie und Haltung mit guten Gründen
als niederträchtig bezeichnen, aber es bleibt: diese Form der Politik, vor
einigen Jahren undenkbar im Mainstream, ist erfolgreich.

Hetze
und Hassdelikte, eine weitere Erscheinung der Gegenwart, werden von den
Regierenden in Österreich verurteilt. Gleichzeitig sind die Social-Media-Seiten
mancher österreichischer Spitzenpolitiker, jener der FPÖ insbesondere, Orte des
geballten Hasses.
Die Ursachen
Was
ist da passiert? Was hat das politische Klima so kippen lassen? Vielfach wird
die Erklärung im Jahr 2015 mit dem starken Flüchtlingszuzug nach Mitteleuropa
gesucht. Doch das Jahr 2015 ist nur ein Mosaikstein, es erklärt weder den
Wahlsieg Trumps in den fernen USA und noch weniger den Wahlsieg Bolsonaros in
Brasilien; eines Verehrers der früheren Diktatur, die doch bisher so gefürchtet
war in der Bevölkerung. Ganz bewusst wählen die Bürgerinnen und Bürger in immer
mehr Staaten gegen ihre eigenen Interessen. Sie bringen Politikerinnen und
Politiker in Ämter, die kein Hehl daraus machen, die Reichen zu fördern. Das
Angebot an die Masse ist eine Politik des Hasses und der Demütigung von
Minderheiten. Nicht nur der Politik, auch dem Wahlverhalten der Bevölkerung ist
die Vernunft verloren gegangen. Bei allen Beteiligten ist die Handlungsweise
von Gefühlen bestimmt.
Die
Ursachen der beschriebenen Prozesse werden erst mit der nötigen zeitlichen
Distanz verstehbar. Derzeit können wir lediglich Hypothesen bilden. Wir müssen
auch davon ausgehen, dass vieles zusammengewirkt hat, um diesen Umbruch
herbeizuführen. Vielleicht hilft uns ein Blick zurück, wenn wir auf die
Vorgeschichte blicken, die Fellini erst zur Idee von Ginger und Fred hingeführt hat. Fellini führte Anfang der
1980er-Jahre eine gerichtliche Auseinandersetzung gegen den Fernsehmogul Silvio
Berlusconi, lange vor dessen Einstieg in die Politik. Es waren die ersten Jahre
des privaten Fernsehens und damit der Beginn der Werbeunterbrechungen, die man
zuvor in Europa nicht gekannt hatte. Berlusconi erwarb die Rechte an Fellinis
Filmen, er sendete sie in seinen privaten Kanälen mit Werbeunterbrechungen.
Fellini wollte die Unterbrechungen nicht dulden; er sah sein künstlerisches
Wirken dadurch beschädigt. Fellini verlor das Verfahren. Das römische Gericht
stellte in
seiner Urteilsbegründung fest: «Der künstlerische Wert der Filme Fellinis steht
ebenso außer Frage wie die Unzulässigkeit eines Eingriffs in den
Erzählrhythmus, der als Kunstwerke anerkannten Arbeiten. Es steht allerdings
auch fest, dass sich der Fernsehzuschauer an das Phänomen der
Werbeunterbrechungen gewöhnt hat.» Fellini fand zum Urteil Worte, die weit über
den Anlassfall hinausgehen: «…wenn das Gericht behauptet, dass sich der
Zuschauer an die Werbung gewöhnt hat, heißt das nicht etwa, dass man
sanktioniert, dass das Fernsehen die Menschen unterwirft?» Fellini griff damit
ein Thema auf, das ihn schon länger beschäftigte. Zwar hatte er selbst 1969 Block Note für die NBC und 1970 I Clown für die RAI gedreht sowie
legendäre Fernsehspots für Campari und Barilla produziert. Doch seine Kritik am
Fernsehen nahm zu, und in den Privatsendern sah er eine nicht mehr zu
besiegende Macht, die die Gesellschaft vulgarisiert und die Demokratie bedroht.
In den 1980er-Jahren entstand die Konsumgesellschaft heutigen Stils,
begleitet vom Fernsehen und später von Social Media, die den oberflächlichen Alltagsmodus
ergänzten. In Ginger und Fred rechnet
Fellini mit Berlusconi und dem Privatfernsehen ab, er selbst fasste die
Botschaft seines Films einmal in folgende Worte: «Wir sollten fähig sein, das
Fernsehen aufzugeben oder es auf zwei Kanäle zu begrenzen.»
Politik der
Gefühle
Fellini
war unsterblich geworden mit seinen Träumen und Visionen. Doch die Zeit der
Träume und Visionen ging in den 1980er-Jahren zu Ende. 1986 gelangte in
Österreich Jörg Haider an die Spitze der FPÖ. Es begann eine Hetze gegen
Gutmenschen und Idealisten, in die immer wieder auch die großen politischen
Kräfte, SPÖ und ÖVP, einstimmten. Es war dieselbe Zeit, in der dem damaligen
Kanzler Vranitzky die Aussage «Wer Visionen hat, braucht einen Arzt»
zugeschrieben wurde. Und dies nur wenige Jahre, nachdem Kreisky als Kanzler
Österreich von Grund auf umgebaut hatte. Ein Mehr an politischer und gesellschaftlicher
Vision als in der Regierung Kreisky war gar nicht denkbar. Politikertypen wie
Kreisky, Brandt, Palme und Tito gestalteten Europa in den 1970er-Jahren um, es
war eine Zeit der Visionen, der großen Bauten und Projekte. Dennoch folgten diese
Visionen und Projekte einem höchst rationalen Prinzip und Gedanken, nämlich der
Idee eines dauerhaft friedlichen Europa und eines besseren Lebens für alle. Es
gelang, dieses zutiefst vernünftige Ansinnen einer breiten Bevölkerung zu
vermitteln. In den 1980er-Jahren wechselte der Politikertypus, gefragt war nun
der fernsehgerechte Macher. Und es zog das große Gefühl in die Politik ein,
befördert vom Fernsehen. Josef Haslinger beschrieb es 1987 im Essay Politik der Gefühle. Starke Bilder
entstanden, wie etwa jene von Jörg Haider, der nach seiner Wahl zum Parteichef
der FPÖ 1986 von seinen Unterstützern auf Schultern durch die Parteitagshalle
getragen wird. Der Gegenschuss zeigte zwei Jahrzehnte später sein zu Schrott
gefahrenes Luxusauto, dazwischen lagen rund neunzehn Milliarden Euro, die die
Republik mit der Kärntner Hypo verloren hat. Man könnte polemisch sagen: Dem
Steuerzahler waren zwanzig Jahre rechtspopulistischen Spektakels knapp zwanzig
Milliarden wert.
In
dieselbe zeitliche Phase des Entstehens der Konsumgesellschaft und der
Ausbreitung des Privatfernsehens in Europa, also in die 1980er-Jahre, fallen
das Ende des Kalten Kriegs und der Zusammenbruch des «Realen Sozialismus» in
Osteuropa. Die Geschehnisse wurden als Sieg des Kapitalismus und Niederlage der
sozialistischen Idee gedeutet – ein mehrfacher Irrtum, denn das autoritäre
Regieren hatte originär nichts mit der sozialistischen Idee zu tun; und den
Erfolg des Kapitalismus muss man heute mehr denn je in Frage stellen. Der
ungezügelte Primat der Wirtschaft über die Politik, man mag es Neoliberalismus
oder Turbokapitalismus nennen, bedroht mittlerweile den Planeten und die Menschheit
– wie der Klimawandel deutlich macht. Die beiden großen Systeme, wie wir sie
nach 1945 kannten, sind beide gescheitert; die UdSSR für alle sichtbar 1989,
der kapitalistische Westen zwischenzeitlich ebenso erkennbar.
Nachdem
der Zusammenbruch des Kommunismus 1989 irrig als Versagen der sozialistischen
Idee, fataler noch, als Scheitern der Idee der Solidarität gedeutet wurde,
hatte der Neoliberalismus freie Bahn. Thatcher, Schröder, Schüssel, Berlusconi
– sie alle haben die Politik der Wirtschaft unterworfen, die Masse der
Bevölkerung den Konzernen und einer kleinen reichen Schicht untergeordnet. Social
Media, Fernsehen, billige Kleidung und Smartphones sind heute das Opium, das
die Bevölkerung von der ungleichen Verteilung und unfairen Lebensverhältnissen
ablenkt. Wo die Ablenkung nicht mehr gelingt, wird die Gesellschaft von den
Regierenden so polarisiert, dass der Streit über abstrakte und hypothetische
Fragen alles andere überlagert. Den Schwachen werden noch Schwächere als Feindbilder
vorgeschlagen, es wird das Feld für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Faschismus bestellt.

Die
vermehrt über Social Media geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
polarisieren zusätzlich. Wenige Player produzieren viele Tweets, Hass im Netz
entsteht. Vor allem Rechtsparteien agieren über eigene TV-Kanäle im Netz, sie
diffamieren öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und die alteingesessenen
seriösen Medien.
Zur
Abwesenheit der Vernunft und zur Konsumgesellschaft, also der Dominanz des
Ökonomischen beziehungsweise Kommerziellen, tritt ein dritter Faktor, der
zunehmend auch das politische Geschehen bestimmt: Narzissmus. Die Distanzierung
von der Vernunft führt dazu, dass die Argumentation mit Sachargumenten genauso
diskreditiert wird wie Idealismus oder die Unterstützung von Schwachen. Wer
ruhig und vernünftig argumentiert, läuft Gefahr als langweilig oder
realitätsfremd hingestellt zu werden; im Privaten genau so wie in der Politik.
Die Attraktivität dieser Verbindung von Unvernunft, Narzissmus und Geld zeigt
sich im Politikertypus eines Berlusconi oder Trump, eines Haider, Guttenberg
und Sarkozy. Sie durchdringt aber alle Lebensbereiche. Sie führt dazu, dass die
Schönheitschirurgie boomt, und sie führt zu journalistischen Manipulationen wie
jenen durch Spiegel-Reporter Claas
Relotius. An die Stelle der Reportage tritt die prosaähnlich gestaltete Story,
an die Stelle des Redakteurs der undurchschaubare Starjournalist. In der
Politik wie in anderen Lebensbereichen dominiert die Inszenierung. Marketing
ist allerorts höher bewertet als der Inhalt. Dazu kommt eine Kurzlebigkeit und
Schnelligkeit, die durch Social Media angeschoben wird. Das Wegwischen am
Smartphone mag die charakteristische Geste unserer Zeit sein. Eine Info
weggewischt, das nächste Foto ist da, in der Sekunde darauf überfliegt man eine
Mailnachricht oder liest die Onlineschlagzeilen. Das alles sind denkbar
schlechte Voraussetzungen für eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik.
Geschichtsvergessenheit
und Narzissmus

Und
noch eines spielt bei der Beschreibung des politischen Klimas eine Rolle: die
Geschichtsvergessenheit beziehungsweise der Abstand zu Faschismus und Zweitem
Weltkrieg. Bis vor Kurzem war eine Politikergeneration an der Macht, die
Faschismus und Kriege entweder selbst erlebt hatte oder noch durch die
Erzählungen von Eltern und Großeltern geprägt war. Der Holocaust, das
systematische Morden der Nazis, die Erfahrungen des Infernos von Erstem und
Zweiten Weltkrieg haben Europa und die Welt lange geprägt. Die gesamte globale
Menschenrechtsordnung ist die Schlussfolgerung aus Weltkriegen und Faschismus.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen stammt
aus dem Jahr 1948, die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950.
Österreich hat die Menschenrechtskonvention nicht nur aus rechtlichen Gründen,
sondern auch als symbolische Geste in sein Verfassungsrecht übernommen. Im Jahr
1955 hat Österreich die Rechte der ethnischen Minderheiten im Staatsvertrag
zugesagt und ebenfalls in den Verfassungsrang gebracht. Das gemeinsame
Bekenntnis zu den Menschenrechten und die Absage an den Faschismus war der
Grundkonsens der Zweiten Republik und des Nachkriegseuropa. Die europäische
Bevölkerung war vielleicht nicht so menschenrechtsfreundlich und progressiv
eingestellt wie manche JuristInnen und PolitikerInnen, aber sie hatte das
Grauen des Nationalismus und seiner Folgen noch in den Gliedern. Die
schreckliche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerät nun in
Vergessenheit; sie erleichtert politisches Zündeln mit Nationalismus, Rassismus
und Rückbau des Sozialstaats. Erste Stimmen, in Großbritannien genauso wie in
Österreich, sprechen einen Austritt aus der Europäischen
Menschenrechtskonvention an. Das Asylrecht wird in vielen Ländern offen in Frage
gestellt. Ein von der Regierung Kurz-Strache für den österreichischen
Verfassungsgerichtshof nominierter und mittlerweile als Verfassungsrichter
bestellter Universitätsprofessor sprach davon, dass der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte zur Entstehung eines «multikriminellen Europa» beigetragen
habe. Solche Aussagen und Andeutungen sind zivilisatorische
Ungeheuerlichkeiten. Es ist eine regelrechte Gegenaufklärung, die das
politische Klima vergiftet. Österreichs Regierung geht einen ähnlichen Weg wie
Ungarn, indem sie Migration und Asyl zu ihrem zentralen Thema macht. Das Asylthema
wird immer weiter diskutiert, auch wenn kaum mehr Antragsteller Österreich
erreichen. Jede andere Debatte wird durch immer neue Vorschläge zur
Verschärfung des Fremdenrechts erschlagen. Die Schraube wird immer
weitergedreht, Unsicherheit geschürt, Migration permanent mit Kriminalität und
Sicherheit verlinkt. Obwohl die Kriminalitätsrate seit Jahrzehnten und
weiterhin sinkt, wird so ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt, das wiederum
staatliche Überwachung, Militarisierung und Hochrüstung der Sicherheitskräfte
rechtfertigt. Diese Strategie weist Parallelen zu faschistischen Prozessen auf.
Hindernisse auf dem Weg zu autoritären Ansätzen sind Medien und Justiz, sie
sind Hauptangriffspunkte der rechtspopulistischen Politik. Es lässt sich
beobachten, wie Österreichs Regierung linientreue Journalistinnen und
Journalisten hegt und belohnt, während sie kritische Journalisten mit Spott
oder falschen Vorwürfen verfolgt.
Wenn
wir nun aber unter anderem Narzissmus und Geschichtsvergessenheit als Mitursachen
des veränderten politischen Klimas ausmachen, so liefert uns das auch eine
Erklärung, warum Deutschland bisher nicht in gleichem Maß in ein populistisches
Fahrwasser geraten ist wie Italien, Österreich oder Ungarn. Denn Deutschland
steht wie kein anderes Land unter Druck, sich mit seiner faschistischen
Vergangenheit auseinander zu setzen. Das Wissen um die Folgen von Nationalismus
und Faschismus sind dort präsenter, die Warnung steht noch im Raum. Und Angela
Merkel hat das Land in ihrer Nüchternheit geprägt. Tatsächlich wirkte sie
zuletzt wie aus der Zeit gefallen, ihre Position in der Flüchtlingsfrage entsprach
der Haltung des alten Nachkriegseuropa: in ruhiger Weise nach den Regeln der
Menschenrechte und Menschlichkeit zu verfahren. Nicht Merkel hat sich in den
letzten fünfzehn Jahren verändert, sondern das sie umgebende Europa ist
moralisch und in seiner politischen Kultur verfallen.
Aber
was ist eine gute politische Kultur, welches ist das ideale politische Klima,
das wir uns wünschen sollen? Es wird keine Gesellschaft ohne Social Media mehr
geben. Die Zeitzeugen des Faschismus und Holocaust leben nicht mehr, ihre
mahnenden Stimmen verklingen. Die Welt wird nicht langsamer werden. Und wir
dürfen auch die Vergangenheit nicht verklären – denn ein Teil der heutigen
Unruhe geht auch darauf zurück, dass die Bevölkerung selbstbewusster geworden
ist. Wenn wir heute fremdenfeindliche und nationalistische Stimmen hören, so
dürfen wir nicht vergessen, dass wahrscheinlich noch nie so viele Menschen von
Europa überzeugt waren und noch nie so viele aktiv in der Flüchtlingshilfe
mitgearbeitet haben. Jede demokratiefeindliche Aktion produziert auch heftige
Gegenwehr. Eltern demonstrieren gemeinsam gegen die Abschiebung von
Mitschülerinnen und Mitschülern ihrer Kinder. Die Sache ist also komplex.
Insel der Seligen?
Welches
ist also das ideale politische Klima? Österreich wurde lange als Insel der
Seligen bezeichnet, auch was den politischen Umgang betraf. Keine Streiks,
keine großen Auseinandersetzungen, keine radikalen Kräfte. Aber das war wohl
immer auch ein Trugbild. Das politische Klima der Zweiten Republik war geprägt
von der Sozialpartnerschaft und einer vordergründigen Harmonie und
Konfliktscheu. Die Lehre aus der Zwischenkriegszeit war es, den Kampf zwischen
den Lagern zu vermeiden. Aber der Nationalsozialismus wurde erst spät
aufgearbeitet und das nur partiell. Die Zahl der Täterinnen und Täter war so
hoch, dass nicht einmal alle schwer belasteten Personen aus öffentlichen Ämtern
entfernt wurden. Austrofaschismus und Bürgerkrieg sind bis heute Tabus, und sie
wirken bis heute nach. Überspitzt gesagt: Die Regierung Kurz-Strache ist der
Beleg dafür, dass das Bürgertum in Österreich lieber mit Rechtsextremen regiert
als mit den Sozialdemokraten. Oder wie soll man die vom Kanzler bei jeder
Gelegenheit betonte gute Stimmung im Kabinett sonst verstehen? Die ruhige
politische Phase, die Österreich von 1945 bis zumindest zur Mitte der
1980er-Jahre, bis zum Aufstieg Jörg Haiders, erlebte, hatte also auch viel mit
dem Zudecken der dunklen Vergangenheit zu tun und mit der Scheu, Konflikte
auszutragen. Aber der Übergang zu einer gesunden Diskussions- und
Konfliktkultur ist bis heute nicht gelungen. Dafür fehlt es an den
Voraussetzungen. Die Linke ist kraft- und ideenlos. Sie stellt oft keine
Forderung mehr mit der Begründung, dass das politische Klima nicht danach sei.
Zuletzt meinte die Vorsitzende der SPÖ, ihre Partei sei für Erbschafts- und
Vermögenssteuern, aber derzeit sei keine Phase, in der man das fordern wolle.
Man verzichtet unter Verweis auf das politische Klima darauf, das politische
Klima und die politische Situation zu ändern. Und die Glaubwürdigkeit der
Linken ist verloren, sie kommt nicht so bald zurück. Bleiben die
Intellektuellen, wie Köhlmeier, Kehlmann und andere. Sie haben sich im vergangenen
Jahr kraftvoll zu Wort gemeldet. Doch sie sind zu wenige, um eine Wende
herbeizuführen.
Die
politische Rechte führt keine Auseinandersetzung mit Argumenten, sie agiert mit
Häme, Untergriffen und wirtschaftlicher Macht, gut belegt durch den Waldheim-Wahlkampf
und die Regierungen Schüssel und Kurz. Der Bildungsminister, vormals Vizerektor
der Universität Wien, verkündet in Interviews, dass sich die Bildungspolitik
nicht nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichte. Den Medien gilt er
dennoch als Vorzeigeminister. Ein gutes Beispiel für die intellektuelle
Austrocknung des Landes.
Eine
Entwicklung hin zu einer reifen direkten Demokratie nach dem Vorbild der
Schweiz ist unrealistisch, es fehlt die Tradition und die gesellschaftliche
Verantwortung, auch die Verantwortung der Medien. Es ist kein Zufall, dass die
Schweiz mit der Neuen Zürcher Zeitung
ein Weltblatt hat, während das viel größere Wien kein vergleichbares Medium
hervorbrachte. Wie bringt man die Politik der dumpfen Gefühle, wie baut man eine
Spektakelkultur zurück zu einer ruhigen, aufgeklärten, vernunftorientierten
politischen Landschaft? Und geht das überhaupt, oder sind wir bereits im Sog
des Autoritären? Es wurde zuletzt oft gesagt, die autoritäre Herrschaft komme
nicht über Nacht, sie ergreife die Macht in vielen kleinen Schritten. Der Economist hat kürzlich vier Stufen des
Zerfalls von Demokratien genannt: charismatische Führer, die Schaffung von
Feindbildern, die Aushöhlung demokratischer Institutionen und die Zerschlagung
der verbliebenen Opposition. Alle diese vier Erscheinungen und Tendenzen sind
sichtbar, in Österreich so wie in anderen Ländern. Entschieden ist wohl noch
nichts: Wer zum Optimismus neigt, wird auf die Allianz verweisen, die Van der
Bellen ins Präsidentenamt gebracht hat, auf die breite Plattform, die die
Initiative des grünen Politikers Rudi Anschober gegen die Abschiebung von
Lehrlingen unterstützt und auf die starke Zivilgesellschaft insbesondere der
Ballungsräume.
Sehen
wir die österreichische politische Gegenwart, so müssen wir Federico Fellini
zustimmen: «Für viele ist die Erkenntnis vielleicht
schmerzlich – aber auch die Moral ist saisonbedingt und unterliegt der Mode.»
Und tatsächlich, im
Augenblick sind die Kräfte, die sich nach Solidarität
und Chancengleichheit sehnen, weitgehend paralysiert. Was fehlt, ist ein
breiterer Aufbruch, der den wichtigen Reden einzelner Intellektueller folgt.
Wir alle dürfen uns den Glauben an den Ausgleich in der Gesellschaft durch
Diskurs und Konfliktlösung auf Sachebene nicht nehmen lassen. Wir sollten
unbeirrt einem starken Sozialstaat das Wort reden. Und uns vielleicht an
Fellini orientieren, der noch viel mehr Träumer als Realist war – Träumer im
besten Sinne des Wortes. Unsere Gesellschaft muss Smartphone und Fernbedienung
beiseitelegen und das Träumen wieder lernen, das Träumen von großen Projekten
und dem großen humanistischen, gesellschaftlichen Fortschritt. Denn, wie sagt
Fellini: «Der einzig wahre Realist ist der Visionär.»
 
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Sozialdemokratie: letzter Aufruf – die Neuausgabe ab Juli 2019 im Buchhandel

Der erste Text vom März 2019 ist nun erweitert und überarbeitet, er berücksichtigt das Ende der Regierung Kurz in Österreich und das Ergebnis der EU-Wahlen vom Mai 2019. Der Wiener Verlag bahoe books hat die Auflage gestaltet und in sein Programm aufgenommen – vielen Dank dafür!

Sozialdemokratie: Letzter Aufruf!

Der Weg zur Auferstehung / Der Weg in den Tod
BuchKartoniert, Paperback

80 Seiten
Deutsch
Für die Sozialdemokratie ist es 5 nach 12. Linke Parteien zerfallen, in manchen Staaten existiert die Sozialdemokratie praktisch nicht mehr. Unterdessen machen sich rechtspopulistische Regierungen daran, die europäischen Gesellschaften zu spalten, den Sozialstaat abzubauen und ihn aus den Angeln zu heben. Der Neoliberalismus hat sich mit dem latent vorhandenen Nationalismus zu einer für die Demokratie gefährlichen Allianz verbunden, er attackiert Institutionen, Medien, Justiz.
Die Sozialdemokratie, die Linke insgesamt, muss sich politisch völlig neu aufstellen, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen und kraftvoll agieren. Es ist Zeit endlich wieder mit Feuer für die großen Ideen der Gleichheit, der Geschwisterlichkeit und der Gerechtigkeit zu kämpfen. Oliver Scheibers Manifest ist ein Appell für Zusammenhalt und macht eine Vielzahl von Vorschlägen für Inhalte und Strategien der Linken unter insgesamt 10 Überschriften: Solidarität – politische Arbeit – Kommunikation – personelle Breite – Strukturen – Vision und Aktion – Wirtschaft – Transparenz und starker Staat – Strategie – Internationalität und Europa.
Letzter Aufruf! kursiert seit März 2019 als Pamphlet und wird breit diskutiert. In einer überarbeiteten und umfangreich erweiterten Ausgabe findet der Text nun seine verlegerische Heimat.

Im Buchhandel oder online bestellbar zB bei Morawa: 
https://morawa.at/detail/ISBN-9783903290167/Scheiber-Oliver/Sozialdemokratie-Letzter-Aufruf?bpmctrl=bpmrownr.1%7Cforeign.165193-1-0-0#r147342-0-150336:154894:145672

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Justizpolitische Vorschläge für die kommende Legislaturperiode

Justizminister Jabloner warnt vor einem stillen Tod der Justiz, Chefredakteur Florian Klenk beschreibt die Probleme im aktuellen Falter. Tatsächlich ist es höchste Zeit für die Rückkehr der Justizpolitik. Ich habe 10 vordringliche Punkte für die nächste Legislaturperiode zusammengeschrieben:
1) Recht muss verständlich werden: Justizministerium, Anwaltschaft, Notariate, Rechtswissenschaftliche Fakultäten und Sprachwissenschaft entwickeln gemeinsam ein Programm, um JuristInnen zu einer einfacheren, verständlicheren Sprache zu führen. Verständlichkeit muss ein zentrales Ziel der Justiz und aller Rechtsberufe werden.
2) Antikorruptionsinitiative: Stärkung und Reform der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, Vereinfachung der Weisungskette, Reorganisation der Staatsanwaltschaften mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung;
Beschlagnahme krimineller Vermögenswerte ist international ein Schwerpunkt der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – dieses Ziel muss für Österreich schnell vorangetrieben werden (Schulung, Ressourcen, Strukturen dafür)
3) Justizakademie: als eines von wenigen Ländern in der EU hat Österreich noch keine Justizakademie; daher: Schaffung einer Akademie, Modernisierung des Fortbildungssystems, bundesweit einheitliche Didaktik, Einsatz moderner Bildungstools, Spezialausbildung als Tätigkeitsvoraussetzung im Familienrecht, Jugendstrafrecht, Wirtschaftsrecht usw
4) Ressourcen: der Kanzleidienst der Justiz steht vor dem Zusammenbruch – daher: Aufnahme von bundesweit 300 gut qualifizierten Kanzleikräften, angemessene Gehaltseinstufung
5) Digitalisierungs- und Bürgerserviceinitiative, einheitliche, spezialisierte Justizservicecenter bundesweit
6) Zivilrecht, Konsumentenschutz: Anpassung an international hohe Standards durch Schaffung von Sammelklage etc. Sammelklagen sind auch für Kleinunternehmen oder Landwirte wichtiges Instrument.
7) Familienrecht: Kulturänderung hin zu runden Tischen, Gesprächsforen; Fristen zur Garantie von schnellen Entscheidungen in dringlichen Angelegenheiten (Kontaktrecht etc)
8) Strafvollzug: große Reform bei Maßnahmen- und Strafvollzug, Konzentration auf Schwerkriminalität, Reduzierung des Häftlingsstands um rund 30% binnen 10 Jahren, Attraktivierung des Berufsbilds der Justizwache
9) Verfassungskampagne- und Rechtsstaatlichkeitskampagne im Zusammenwirken mit Schulen und Universitäten: Stärkung des Verfassungsbewusstseins in Bevölkerung und im öffentlichen Dienst
10) Internationalisierung: mehr österreichische Justizinitiativen in der Europäische Union, Forcierung von Austauschprogrammen

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Mit einer Oppositions-Wahlplattform zur „Van-der-Bellen-Mehrheit“ – derstandard.at/2000102489562/Mit-einer-Oppositions-Wahlplattform-zur-Van-der-Bellen-Mehrheit

Kommentar der Anderen für den STANDARD (Papierausgabe  4./5.5.2019)

Es braucht neue Mittel gegen autoritäre Tendenzen – auch eine ernsthafte Debatte über Minderheitsregierungen

Österreichs Oppositionsparteien erkennen die Gefahr der illiberalen Demokratie, machen aber den Fehler, nicht in großen Bahnen zu denken, findet Oliver Scheiber. Im Gastkommentar erklärt der Jurist und Publizist, warum bei der Europawahl im Mai eine Chance vergeben wurde.

Die Angriffe von Regierungspolitikern auf Journalisten und das öffentlich-rechtliche Fernsehen, der Umgang mit dem Verfassungsschutz, mit NGOs, mit Einrichtungen wie der Statistik Austria, die derben verbalen Ausritte von FPÖ-Politikern gegen politische Gegner machen klar: Es ist ein reales Szenario, dass sich Österreich in Richtung einer illiberalen Demokratie nach dem Muster Ungarns oder Polens entwickelt. Mehr noch: Es ist mittlerweile unklar, wie die ÖVP mit ihrem Regierungspartner eine solche Entwicklung vermeiden will. Das kürzlich bekannt gewordene Absinken Österreichs im Index der Pressefreiheit ist kein Zufall, es ist Ergebnis des Regierungshandelns. 

Alle österreichischen Oppositionsparteien – SPÖ, Neos, Jetzt und die derzeit nicht im Nationalrat vertretenen Grünen – haben die Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie früh erkannt. In Parlamentssitzungen warnen ihre Abgeordneten regelmäßig und nachdrücklich vor autoritären Tendenzen. Aber das reicht nicht, und es ist nach allen Umfragen bisher auch ohne Wirkung auf die Wählerinnen und Wähler.

Gemeinsames Bündnis

Wenn wir über autoritäre Entwicklungen in Staaten wie Ungarn, Polen oder der Türkei sprechen, dann heißt es meistens: Die Opposition scheitert, denn sie ist nicht geeint. Österreichs Oppositionsparteien laufen Gefahr, in einer für das Land entscheidenden Stunde denselben Fehler zu machen: Sie denken nicht in großen Bahnen, marschieren getrennt, jagen sich wechselseitig Stimmen ab. Alle, die sich im Befund einig sind, dass Österreichs politische Situation ungewöhnlich ist, eben weil demokratische Strukturen abgebaut werden, müssten den logischen zweiten Schritt gehen: ungewöhnliche Mittel ergreifen.Das Mittel der Stunde wäre ein Zusammenwirken der Opposition in Form von Wahlplattformen oder Wahlbündnissen. SPÖ, Neos, Grüne, Jetzt sind sich in allen wichtigen demokratiepolitischen Fragen einig. Es wäre naheliegend gewesen, den Erhalt von Weltoffenheit, Demokratie, Pressefreiheit als gemeinsame Basis eines Wahlbündnisses bei der EU-Wahl zu nehmen.

Energieschub für Opposition 

Sichere Gewinner wären alle beteiligten Parteien gewesen. Die Listenplätze hätte man vorab aufgeteilt, gemeinsame Wahlkampfthemen hätten sich mit dem Ausbau der europäischen Integration, einer ernsthaften Klimapolitik oder etwa einer geänderten EU-Förderpolitik bei einigem guten Willen gefunden. Ergebnis wäre ein deutlich abgesicherter Platz eins am Wahlabend und ein starkes Signal für ein anderes, weltoffenes Österreich gewesen. Es hätte einen Energieschub für alle beteiligten Parteien bedeutet und die Botschaft des Miteinanders, des Nicht-spalten-Wollens, die alle Oppositionsparteien zu Recht vertreten, vom Schlagwort zum realen Beispiel erhoben. 

Der oft vorgebrachte Einwand, bei einem Wahlbündnis würden die Einzelparteien an Profil verlieren, überzeugt nicht. Wozu an diesem Profil weiterarbeiten, das keine politischen Erfolge zeitigt, wenn gleichzeitig der Umbau des Staates in Richtung illiberaler Demokratie fortschreitet? Es ist die staatspolitische Verantwortung der Oppositionsparteien, die interne Konkurrenz für einige Monate oder Jahre zurückzustellen, wenn es um die Absicherung von Demokratie und Rechtsstaat geht.

Eigenes Schattenkabinett

Blicken wir doch auf die Zahlen: Bei der Nationalratswahl 2017 erreichten die beiden aktuellen Regierungsparteien rund 57 Prozent der Stimmen, die aktuell im Parlament vertretenen Oppositionsparteien rund 40 Prozent. In Umfragen zur Nationalratswahl liegen ÖVP und FPÖ gemeinsam stabil bei etwa 56 Prozent, SPÖ, Neos, Jetzt und Grüne gemeinsam bei 40 bis 42 Prozent. Derzeit streiten die Oppositionsparteien also untereinander um das kleinere Kuchenstück, statt gemeinsam ihren Anteil am Kuchen entscheidend zu vergrößern. Wer die autoritären Tendenzen stoppen will, muss also danach trachten, den Anteil des Kuchens der derzeitigen Opposition auf mindestens 51 Prozent zu bringen. Dazu wäre ein Wahlbündnis mit drei, vier Leuchtturmprojekten, auf die man sich verständigen kann, vielleicht mit einem attraktiven alternativen, gemeinsam erstellten Schattenkabinett, ein neues Rezept.

Stärkung des Parlaments

Ein zweiter wichtiger Impuls neben Wahlbündnissen oder Wahlplattformen wäre eine ernsthafte Diskussion über Minderheitsregierungen – dies müsste auch im Interesse der ÖVP liegen. Der Kanzler stünde im Ansehen heute weit besser da, hätte er den Versuch einer Minderheitsregierung unternommen. Es war eine vergebene Chance, so wie schon im Fall der Amtsvorgänger Werner Faymann und Christian Kern. Das Modell der Minderheitsregierung erweitert die Zahl möglicher Regierungskonstellationen und beschränkt die Einflussmöglichkeiten populistischer Parteien. Es bedeutet ein schwierigeres Regieren, aber in einer erfahrenen Demokratie wie Österreich sollten die Parteien daran nicht scheitern. In Verbindung mit einer Lockerung des Klubzwangs könnten Minderheitsregierungen eine spürbare Belebung der parlamentarischen Demokratie und die wünschenswerte Stärkung des Parlaments bringen. Die autoritären Tendenzen im Land verpflichten zu entschlossenem Handeln für die Demokratie – und zwar nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition. 

(Oliver Scheiber, 5.5.2019) 

Oliver Scheiber ist Jurist und Publizist in Wien.
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