Gespräch für den falter mit Michael Buschheuer

„Wir haben Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen“

Michael Buschheuer, ein bayrischer Unternehmer, gründete 2015 die NGO Sea-Eye, die seither 16.000 Menschen im Mittelmeer das Leben rettete

OLIVER SCHEIBER
02.03.2023

Sea-Eye- und Space-Eye- Gründer Michael Buschheuer

In seinem Brotberuf ist Oliver Scheiber amtierender Strafrichter in Wien – darüber hinaus aber auch ein engagierter Beobachter gesellschaftspolitischer Debatten, Moderator aktueller Podiumsdiskussionen, wie etwa kürzlich zu den Protesten im Iran und nicht zuletzt regelmäßiger Autor für den Falter.

Diesmal sprach Scheiber mit Michael Buschheuer, einem Mann, der ein mittelständisches Malerei- und Lackiererunternehmen im bayrischen Regensburg führt – darüber hinaus aber 2015 die private Seenotrettungs-NGO Sea-Eye gegründet und auf diese Weise 16.000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hat. Danach gründete er die NGO Space-Eye, die sich vorwiegend um die Versorgung von Geflüchteten an Land kümmert.

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Falter: Was veranlasst einen erfolgreichen Unternehmer aus Bayern, in die Seenotrettung im Mittelmeer einzusteigen?

Michael Buschheuer: Mir ist vor einigen Jahren bewusst geworden, dass wir in Ländern wie Deutschland und Österreich einen immer höheren Wohlstand genießen, während es anderen Staaten deutlich schlechter geht, und dass das gleichzeitig mit einer wachsenden Angst vor den Ärmsten, etwa vor Flüchtlingen, einhergeht. Meine Familie hat schon lang ein Boot in Kroatien, mit dem wir jedes Jahr in der Adria unterwegs waren, was meine Gedanken zum Sterben im Mittelmeer führte. Irgendwann wollte ich diesem Sterben im Mittelmeer nicht mehr zusehen. Ich habe mich informiert und mit Experten besprochen und schließlich einen alten Fischkutter gekauft, so ein Schiff kostet nicht mehr als ein Kleinwagen. Wir haben ein Team zusammengestellt, da waren Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen dabei, und haben 2016 mit der Seenotrettung begonnen. In den letzten Jahren haben wir ungefähr 16.000 Menschen aus dem Mittelmeer geborgen.

Falter: Wie kann man sich die Seenotrettung im Mittelmeer praktisch vorstellen?

Buschheuer: Die Lage ist insgesamt fatal. Die Flüchtlinge im zentralen Mittelmeerraum brechen fast ausschließlich aus Libyen auf. Die Situation in Libyen selbst ist katastrophal. Flüchtlinge, die es aus anderen afrikanischen Ländern bis Libyen schaffen, sind dort nicht mehr Herr ihres eigenen Schicksals. Sie werden in Lagern angehalten, gefoltert, die Frauen werden vielfach in die Zwangsprostitution gebracht, bis sie dann schwanger werden. Die Flüchtlinge wollen aus dem Horror hinaus. Sie werden in Schlauchboote gebracht. Diese Boote sind so schwach, dass damit eine Überfahrt nach Europa in keinem Fall gelingen kann. Von den vielen Anrainerstaaten des Mittelmeers ist zudem Italien das einzige Land, das Rettungsschiffen überhaupt noch ein Anlegen erlaubt. Das wurde in den letzten Jahren allerdings auch in Italien stark behindert.

Falter: Hat sich die Lage in den letzten Jahren verschlimmert?

Buschheuer: Das für mich Bedrückende ist, dass die Europäische Union, die so viele Verdienste im Menschenrechtsbereich und in der Flüchtlingshilfe hat, an ihrer Außengrenze einen rechtsfreien Raum zulässt bzw. aktiv schafft. Mit der Operation „Mare Nostrum“ hat Italien rund 150.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Im Jahr 2014 hat Italien diese Rettungsoperation auf Druck anderer europäischer Staaten, auch Deutschland und Österreich eingestellt. Es hat dann die EU-Agentur Frontex die Grenzsicherung übernommen, deren Philosophie nur die Abwehr von Flüchtlingen ist. Zum Teil wurden die Menschen in Not direkt nach Libyen zurückgetrieben, wo sie Folter oder Tod erwartet. Mittlerweile sind nur mehr drei oder vier NGOs in der Seenotrettung aktiv. Wir wollen einfach das internationale Seerecht durchsetzen, das vorsieht, Menschen in Not in den nächstgelegenen Hafen zu bringen. Oft erhalten die Rettungsschiffe keine Landeerlaubnis, es ist ein tage- oder wochenlanges Warten. Wir sind damit konfrontiert, dass Menschen auf den Schiffen sterben, da sind dann auf einmal Mütter an Bord, deren tote Kinder wir am selben Boot in den Kühltruhen mitführen. Die Seenotrettung an sich ist nicht ungefährlich, es gibt Seepiraterie und es wurden zum Beispiel zwei unserer Crewmitglieder entführt und nach Libyen verbracht. Sie wurden später Gott sei Dank frei gelassen.

Falter: Gibt es überhaupt noch Seenotrettung in anderen Bereichen des Mittelmeers?

Buschheuer: Wie gesagt ist Italien das einzig verbliebene Land, das noch eine Landung von Rettungsschiffen zulässt. Mit Space-Eye haben wir jetzt als einzige NGO auch ein offiziell gelistetes Rettungsschiff vor den griechischen Gewässern, allerdings geht die griechische Regierung brutal gegen jede Form von Hilfeleistung vor. Das ist eine extrem schwierige Situation.

Falter: Es gibt immer den Einwand, dass nicht alle Menschen nach Europa kommen können.

Buschheuer: Ich sehe die Dinge realistisch. Selbstverständlich können nicht alle Menschen nach Europa kommen. Gleichzeitig muss die Europäische Union Menschenrechte, Menschenwürde und Asylrecht hochhalten. Dieser Mittelweg ist möglich. Die EU darf sich auch keine Unmenschlichkeit erlauben und darf nicht nötige Hilfeleistung für Menschen in Lebensgefahr unterlassen. Europa ist dadurch stark geworden, dass es in den letzten Jahrzehnten immer ein möglichst flaches wirtschaftliches Gefälle nach außen ausgebildet hat. Wenn wir nun an unseren Außengrenzen Mauern und Zäune errichten und dieses Europa in seinem heutigen Zustand quasi innerhalb der Mauern einfrieren, dann wird das für die Gesellschaft insgesamt furchtbare Folgen haben. Ich habe auch Angst davor, dass flüchtende Menschen dauerhaft in einem gesetzesfreien Raum bleiben.

Falter: Eines der Anliegen von Space-Eye ist die Dokumentation der Flüchtlingsschicksale.

Buschheuer: Aus unseren Erfahrungen in der Seenotrettung wissen wir, was für ein hoher Anteil unter den Flüchtlingen Opfer von Raub, Mord oder Vergewaltigung wird. Erst wenn wir Fluchtgeschichten besser dokumentieren, dann wird deutlich werden, dass diese Vielzahl von Raub, Mord und Vergewaltigungen an Flüchtlingen nicht Einzelverbrechen sind, sondern dass ihnen organisierte, verbrecherische Strukturen zu Grunde liegen. Wir werden durch die Dokumentation immer dieselben Täternamen und Tätergruppen sehen und es wird klar werden, dass es sich hier um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, gegen die unter anderem die Europäische Union entschlossen vorgehen muss.

Falter: Glauben Sie, dass die Bevölkerung hinter der Flüchtlingshilfe steht?

Buschheuer: Wir erfahren in unserer Arbeit viel Zuspruch. Zu Beginn des Ukrainekriegs gab es in Regensburg ein massives Spendenaufkommen und das Anliegen der Regensburger Bevölkerung an Space-Eye, in der Ukrainehilfe aktiv zu werden. Da haben wir begonnen, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen und auch Menschen von dort zu retten und in Regensburg aufzunehmen. Generell meine ich ja, dass Europa in der Flüchtlingshilfe viel geschafft hat. Wenn wir das Jahr 2015 betrachten, so war doch Angela Merkels Ausspruch „Wir schaffen das“ das Selbstverständlichste der Welt. Wir erwarten doch von unseren Politikerinnen und Politikern, dass sie Probleme lösen. Und das ist im Jahr 2015 gut gelungen. Ich würde mir wünschen, dass wir dieses Jahr 2015 als humanitäre Sternstunde sehen können. Diese Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zeigt sich jetzt gerade wieder. Wir haben etwa bei unserer Flüchtlingshilfe für die Ukraine in Regensburg die Unterbringung von Menschen in Zentralquartieren vermieden. Tatsächlich ist es gelungen, binnen weniger Monate 1200 Menschen in Privatquartieren in Regensburg unterzubringen, alle angekommenen Kinder besuchen Schulen. Jetzt kommt das Ganze langsam an die Grenzen, aber es ist doch eine gewaltige Leistung, die wir geschafft haben.

Falter: Wie könnte die Flüchtlingspolitik der EU in der Zukunft aussehen?

Buschheuer: Was wir brauchen, ist ein solidarisches Vorgehen der europäischen Länder. Wir müssen mit den Grenzkontrollen innerhalb der EU und mit dem Ausbau von Mauern an den Außengrenzen aufhören. Ein rechtsstaatlich organisierter Grenzschutz und eine Politik der Menschenrechte und Flüchtlingshilfe schließen sich nicht aus. Frontex leidet seit seiner Gründung an einem Konstruktionsfehler, es gibt einen untragbaren Mangel an parlamentarischer Kontrolle, das Ganze hat sich katastrophal entwickelt. Frontex sieht keine Menschen, sondern nur Objekte, die es abwehrt.

Falter: Erleben Sie persönliche Anfeindungen?

Buschheuer: Anfeindungen gibt es, das ist normal und ich kann damit leben. Ich habe eine Botschaft, die ich unter die Menschen bringen möchte. Dazu stehe ich.

Falter: Wie sehen Sie die Situation in Österreich?

Buschheuer: Ich verfolge die Situation in Österreich nicht im Detail. Aus meinem Bereich der Flüchtlingshilfe würde ich sagen, dass mir die österreichischen Behörden weniger offen erscheinen als etwa die deutschen Behörden. Das Aufstellen von Zelten halte ich etwa für verheerend. Es ist schlimm für die betroffenen Flüchtlinge und es befördert eine ablehnende Haltung in der Bevölkerung. Ich würde mir viel mehr Dialog und Zusammenarbeit wünschen. Ich suche in unserer NGO-Arbeit immer die Kooperation mit den Behörden. In vielen Fällen, in der Seenotrettung wie auch bei der Flüchtlingshilfe in Regensburg, hat das – nicht immer, aber sehr oft – gut funktioniert.

Das Interview wurde von Oliver Scheiber geführt. Er ist regelmäßiger Falter-Autor und Richter in Wien.

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Initiative Bessere Verwaltung

Aviso: PK „Initiative Bessere Verwaltung“ – Di., 28. Februar, 10:00 Uhr

Einladung zur Präsentation der unabhängigen „Initiative Bessere Verwaltung“ und deren 50 Vorschläge für eine zukunftsfähige österreichische Bundesverwaltung

Wien (OTS) – Die Qualität der österreichischen Verwaltung hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Vor allem die überbordende Parteipolitik bzw. „Verpolitisierung“ hat die Motivation im Verwaltungsapparat massiv geschwächt. Gleichzeitig steht die Verwaltung vor einer gewaltigen Pensionierungswelle, die angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels zu einem gravierenden Problem wird.

Es muss ein besseres Zusammenspiel von „Verwalten und Gestalten“ gelingen, wenn Österreich im internationalen Vergleich wieder zur Gruppe der am besten verwalteten Staaten aufschließen will.

Aufgrund der sich zuspitzenden Probleme hat eine überparteiliche Gruppe von 16 hochrangigen Expertinnen und Experten aus Verwaltung und Wissenschaft in den letzten Monaten die Stärken und Schwächen der österreichischen Verwaltung analysiert und darauf aufbauend zahlreiche Reformvorschläge ausgearbeitet.

Wir laden die Vertreterinnen und Vertreter der Medien sehr herzlich zu einer Pressekonferenz ein, in deren Rahmen die Ziele und Forderungen der „Initiative Bessere Verwaltung“ erstmals öffentlich vorgestellt werden.

Datum: Dienstag, 28. Februar 2023

Beginn: 10:00 Uhr

Ort: Presseclub Concordia, Bankgasse 8, 1010 Wien

Als Gesprächspartner:innen stehen Ihnen zur Verfügung (in alphabetischer Reihung):

  • Michael FÄLBL, Projektmanager Digitalisierung
  • Nikolaus FORGÓ, Universität Wien
  • Wolfgang GRATZ, Organisationsberater
  • Irmgard GRISS, ehem. Präsidentin des Obersten Gerichtshofs
  • Clemens JABLONER, Vizekanzler und Justizminister aD, Präsident des Verwaltungsgerichtshofs aD
  • Judith KOHLENBERGER, Wirtschaftsuniversität Wien
  • Heinz MAYER, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien aD
  • Oliver SCHEIBER, Jurist

Im Anschluss an das Pressegespräch findet – ebenfalls im Presseclub Concordia – ab 11:30 Uhr ein rd. einstündiger Workshop zum Thema Politik und Verwaltung (in Präsenz) statt, zu dem wir Sie ebenfalls sehr herzlich einladen. Im Rahmen dieses Workshops wird u. a. die ehem. OGH-Präsidentin Irmgard Griss einen einleitenden Impulsvortrag halten. Bitte beachten Sie, dass für die Teilnahme eine vorherige Anmeldung erforderlich ist.

 

Ö1 Abendjournal

Standard

Falter

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Neue Reihe Freitagsgespräch in der Alten Schmiede in Wien

Freitag, 24. Februar 2023

Interkulturelle Diplomatie?

FREITAGSGESPRÄCH

17:00

Shoura Hashemi

Oliver Scheiber im Gespräch mit der Diplomatin Shoura Hashemi
über die Welt der Diplomatie und des öffentlichen Diensts, die biographische Verbindung zweier Kulturen und die aktuelle Situation im Iran.

Shoura Hashemi, * im Iran, kam mit fünf Jahren nach Österreich, wo ihre Familie Asyl erhielt. Nach Jus-Studium Diplomatische Akademie, seit 2008 im höheren auswärtigen Dienst tätig.

Zum Video: https://alte-schmiede.at/alte-schmiede/recital-3/ifreitagsgespraechi-shoura-hashemi-oliver-scheiber

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Gusen: Österreichs Umgang mit der NS-Zeit

Ich habe heute zum ersten Mal die Gedenkstätte am Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Gusen I in Oberösterreich besucht. Selten habe ich eine erschreckendere Örtlichkeit gesehen. Der Ort ist heute wie ein Brennglas des Umgangs Österreichs mit seiner Vergangenheit.

 

Gusen, Nebenlager des KZ Mauthausen, war größer als das Hauptlager Mauthausen. Rund 35.000 Menschen kamen hier ums Leben. Nach Kriegsende wurde das ehemalige Lager recht rasch in die Ortschaft Gusen integriert, das Lagergelände wurde großteils parzelliert und eine Siedlung entstand. Das Krematorium steht heute noch inmitten der Wohnsiedlung, viele Wohnhäuser stehen am Fundament der Lagerbaracken, das ehemalige Lagerbordell, besonderer Folterort, ist heute ebenfalls ein Wohnhaus. Das Lagertor ist in ein kitschig ausgebautes Wohnhaus integriert.

Den Angehörigen der aus vielen Ländern stammenden Opfer wurde lange Zeit ein auch nur halbwegs würdiger Gedenkort verwehrt. Ihnen bleibt nichts als das ehemalige Krematorium, um dort Blumen niederzulegen oder Kerzen anzuzünden. Selbst die Asche der ermordeten Menschen wurde noch als Schüttmaterial für Bauten verwendet. Renommierte Firmen wie Steyr Daimler Puch profitierten in der NS-Zeit vom Zwangsarbeitsmodell und hätten gute Gründe gehabt, eine würdige Gedenkstätte zu finanzieren. Nichts dergleichen geschah. Heute noch sind Straßenschilder auf Zaunpfeiler des ehemaligen KZ montiert, ohne Hinweis auf die schreckliche Vergangenheit.

Erst als Polen vor einigen Jahren androhte, Grundstücke in der Siedlung aufzukaufen und eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die rund 13.000 ermordeten Polen zu errichten, wurde die Republik Österreich aktiv. Es besteht nun ein kleines Museum inmitten der Wohnsiedlung. Die ehemalige Lagerstraße trägt einen profanen Namen und führt durch die Einfamilienhäuser.

Die Gruppe junger Menschen, mit der ich die Gedenkstätte heute besucht habe, war fassungslos nicht nur über die Verbrechen, sondern über den Umgang ihrer österreichischen Heimat mit der Vergangenheit. Leugnung, Verdrängung, Frechheit und Opferrolle prägten Österreichs Umgang mit der Nazizeit jahrzehntelang bis etwa zum Jahr 2000. Gusen ist nur eine extreme Ausformung – die Biografie des Psychiaters Heinrich Gross ist ein anderes, prototypisches Beispiel: der Arzt, der in der NS-Zeit Am Spiegelgrund in Wien Kinder ermordete, blieb nach dem Krieg im selben Gebäude sitzen, publizierte über die Gehirne der ermordeten Kinder, die er gesammelt hatte, war Primararzt, Leiter eines wissenschaftlichen Instituts und meistbeschäftigter Gerichtspsychiater der Zweiten Republik bis in die 1990er-Jahre. Dass Österreichs Jugend diesem Umgang mit der Vergangenheit fassungslos gegenübersteht ist ein Fortschritt. Für den klaren Blick auf die Vergangenheit hat es so lange gedauert, bis die letzten Täter der Großväter- und Urgroßvätergeneration verstorben waren. Die Jahre 1938-1945 waren keine isolierte Schreckensperiode, sondern stehen in einer langen Kontinuität von Gesellschaft und Einzelpersonen, die weit zurückreicht und lang über 1945 hinausdauerte.

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Im Wein liegt die Wahrheit: Echt und falsch, Wahrheit und Lüge in der Rechtsordnung

Text für die Literaturzeitschrift wespennest Nr. 183 vom November 2022

Im Wein liegt die Wahrheit

Echt und falsch, Wahrheit und Lüge in der Rechtsordnung

für Annemiek

Jede Zeit hat ihre prägenden Ereignisse, ihre Mode, ihre Trends. Diese Zeitströmungen bleiben nicht ohne Einfluss auf rechtliche Erscheinungen, Rechtsprechung und Gesetze. Der aktuell vorherrschende Populismus in Verbindung mit ungebremstem Kapitalismus hat viele Begleiter – zusammengefasst einen breiten Verfall ethischer Prinzipien. Die Gier nach Geld und Macht, die weitgehende Abwesenheit von Visionen für die Zukunft führen dazu, dass Fake News, Wahlfälschung und manipulierte Ausschreibungen öffentlicher Posten und Aufträge eine Hochkonjunktur erleben.

Fälschung und Recht

Fälschungen stören das menschliche Zusammenleben, und so beschäftigt sich auch das Recht schon seit Jahrhunderten damit. Die Fälschung hat im Rechtsleben ihren fixen Platz, wenn auch nicht in der den großen Dimensionen, wie die man vielleicht vermuten würde. Blicken wir auf das Strafrecht, so finden sich im österreichischen Strafgesetzbuch, ähnlich den meisten Ländern der Welt, einige Fälschungsdelikte, die in der Praxis eine größere Rolle spielen. Da ist zunächst das Delikt der Urkundenfälschung, das mit Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bedroht ist. Eine falsche Urkunde im rechtlichen Sinn ist ein Dokument, das nicht vom angegebenen Aussteller einer Urkunde stammt. Es geht also zum Beispiel darum, dass ein Mieter bei der polizeilichen Anmeldung am Meldezettel die Unterschrift des Vermieters fälscht, etwa weil die Wohnung unberechtigt untervermietet wurde und der Vermieter nicht zur Unterschrift bereit ist. Auch gefälschte Ausweise spielen im Rechtsleben und im Gerichtsalltag eine Rolle. Menschen, die bei der Führerscheinprüfung nicht erfolgreich waren oder denen der Führerschein abgenommen wurde, verfallen gelegentlich auf die Idee, einen gefälschten Führerschein zu kaufen, einen Markt dafür gibt es offenkundig. Und Menschen, die auf der Flucht sind, sind häufig darauf angewiesen, falsche Ausweise oder Reisepässe zu kaufen; entweder, weil sie eigene Dokumente aus ihrer Heimat nicht mitnehmen konnten, oder weil ein Ausweis mit falscher Identität – etwa im Fall der politischen Verfolgung – eine höhere oder die einzige Hoffnung auf ein Ankommen in einem sicheren Gebiet bedeutet. In jeder Zeitepoche werden neue Urkunden gefälscht – mit der Pandemie tauchten rasch falsche Impfzeugnisse auf oder falsche ärztliche Bestätigungen, die eine Ausnahme von Maskentragen oder Impfung belegen sollten. Im Jahr 2020 wurden in Österreich insgesamt 24 000 Personen strafrechtlich verurteilt, rund 1800 Personen davon wegen Urkundenfälschung oder eines eng verwandten Strafdelikts verurteilt; die Urkundendelikte bilden also eine durchaus beachtliche strafrechtliche Deliktsgruppe.

Falsches Geld und falsche Marken

Der gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes entsprechend ist die Geldfälschung ein weiteres schon lang bekanntes Delikt unseres Strafrechts. Mit der modernen Zeit ist die Fälschung unbarer Zahlungsmittel, etwa die Kreditkartenfälschung, dazu getreten. Geldfälschung wird vom Gesetzgeber als besonders schweres Verbrechen gesehen – bei diesem Delikt droht eine Haftstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Wurde noch 2001 geschätzt, dass jeder zehnte in Europa im Umlauf befindliche Geldschein gefälscht ist, so vermeint die Europäische Kommission aktuell einen Tiefstand bei Geldfälschungen in der Eurozone festzustellen. Den Untersuchungen der Kommission zufolge finden sich derzeit unter einer Million im Umlauf befindlicher Euroscheine lediglich zwölf gefälschte. Im Jahr 2021 wurden weltweit 347 000 gefälschte Euro-Banknoten aus dem Verkehr gezogen, so wenige wie nie zuvor. Bei etwa zwei Drittel aller aus dem Verkehr gezogenen Fälschungen handelte es sich um 20- und 50-Euro-Scheine. Fälscher bevorzugen diese kleineren Banknoten, da die meisten Menschen sie im Alltag weniger aufmerksam entgegennehmen als die großen Banknoten. Gefälscht werden freilich nicht nur Geldscheine, sondern auch andere papierene Wertträger wie etwa Aktien. Dafür sieht das Gesetz ebenfalls Gefängnisstrafen vor.

Gerichte haben sich – neben Fälschungen von Eintrittskarten für Sport- und Konzertveranstaltungen – auch immer wieder mit Fälschungen von Markenprodukten zu befassen, wobei die Produkte in allen Eigenschaften und Materialien inklusive der Markenzeichen so nachgebildet sind, dass sie wie das Original erscheinen. Die Fachbezeichnung dafür lautet Produktpiraterie. Den Käuferinnen und Käufern ist die Fälschung oft bewusst, man denke an die Imitate von Louis-Vuitton-Taschen oder Ray-Ban-Sonnenbrillen, die an Ferienplätzen auf den Gehsteigen ausgebreitet und zum Verkauf angeboten werden. Nachbildungen finden sich auch im technischen Bereich, etwa bei Autoersatzteilen oder Ladekabeln von Markensmartphones. In diesem Bereich können Fälschungen von minderer Qualität zu Gesundheits- oder gar Lebensgefährdungen führen. Dasselbe gilt für die nicht seltenen gefälschten Arzneimittel, die vor allem über den Onlinehandel vertrieben werden; aber auch für Lebensmittelfälschungen, von denen etwa der Weinsektor betroffen ist.

Viele dieser zuletzt erwähnten Fälschungen werden strafrechtlich als Betrug geahndet, wenn die Erwerberinnen und Erwerber davon ausgehen, dass sie ein Markenprodukt erhalten kaufen, tatsächlich aber in die Irre geführt werden und ein billiges Imitat erhalten. Betrügerische Handlungen liegen zumeist auch den Kunst- und Antiquitätenfälschungen zugrunde – oder etwa auch Tagebuchfälschungen. Man denke an den berühmt gewordenen Fall der gefälschten Hitler-Tagebücher: Das Nachrichtenmagazin Stern hatte im Jahr 1983 vermeintliche Tagebucheintragungen Adolf Hitlers veröffentlicht, die sich nach Untersuchungen des deutschen Bundeskriminalamtes rasch als gefälscht erwiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Stern allerdings bereits 62 Bände gefälschter Tagebücher für 9,3 Millionen D-Mark erworben. Der Fälscher der Tagebücher wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Hamburger Gericht wertete ein erhebliches Mitverschulden von Verlag und Redaktion als strafmildernd.

Fake News

Falsche oder verfälschte Nachrichten, bewusst verdrehte Fakten werden nicht nur von der Politik immer häufiger strategisch verwendet. Gerade in Zeiten der Pandemie machten im Wissenschaftsbereich unzählige manipulierte und falsch dargestellte Forschungsergebnisse die Runde. Entscheiden sich Menschen aufgrund solcher manipulierten Darstellungen etwa zu für falsche medizinische Behandlungen, dann kann die Verbreitung der falschen Studien und Informationen zu Haftungsfolgen und auch strafrechtlichen Konsequenzen (gewertet etwa als vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung) führen. Vor Gericht spielen Fake News unter anderem in medienrechtlichen Verfahren und im Zusammenhang mit der Verletzung von Persönlichkeitsrechten immer wieder eine Rolle.

Verfälschte Wahlen wiederum assoziiert man mit autoritären Regimen, doch werden immer wieder auch in Österreich diesbezügliche Strafverfahren geführt. Zuletzt 2020/2021 etwa wurde laut Medienberichten ein Verdacht der Wahlfälschung bei der letzten Wirtschaftskammerwahl im Burgenland untersucht.

Rechtlich verwandt mit dem Fälschungsbegriff ist schließlich das Plagiat, in der öffentlichen Diskussion in letzter Zeit vor allem im Zusammenhang mit akademischen Abschlussarbeiten prominenter Personen diskutiert. Beim Plagiat wird eine eigene (wissenschaftliche) Leistung vorgetäuscht, indem ohne entsprechenden Ausweis (Zitat) fremde Texte oder Leistungen als eigene ausgegeben werden.

Wahrheitserforschung durch Gerichte

Der Begriff der Fälschung führt rasch zu Fragen von echt und falsch, Wahrheit und Lüge. Vor allem die Wahrheit, mag sie auch allgemein nicht hoch im Kurs stehen, ist immer noch ein Schlüsselbegriff für die Arbeit der Gerichte. Im Gerichtsverfahren geht es in der Regel um die Lösung von Konflikten zwischen zwei oder mehreren Personen oder Unternehmen. Unabhängig davon, ob es sich um eine familienrechtliche Streitigkeit handelt, einen Streit um eine nicht bezahlte Handyrechnung oder um ein Strafverfahren wegen Körperverletzung: Die Arbeit der Gerichte folgt stets demselben Schema. Gerichte versuchen in einem förmlichen Verfahren herauszufinden, was tatsächlich passiert ist; es geht technisch gesagt um Wahrheitserforschung. Diese ist notwendig, damit das Gericht Feststellungen treffen kann. Erst aufgrund dieser Feststellungen beurteilt das Gericht den Sachverhalt rechtlich und trifft seine Entscheidungen, seine Urteile. Bei der Tatsachenfeststellung vor Gericht geht es etwa darum, welcher Elternteil dem Kind ein besseres Zuhause bietet, oder um die Frage, ob der Verdächtige einer Straftat tatsächlich derjenige war, der dem Opfer Verletzungen zugefügt hat; und falls ja, ob er sich vielleicht nur seinerseits gegen einen Angriff gewehrt hat. Paragraf 3 der österreichischen Strafprozessordnung formuliert es so: «Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht haben die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind.» Damit erteilt der Gesetzgeber der Justiz einen Auftrag, von dem jeder reflektierte Mensch weiß, dass er nicht zu erfüllen ist. Denn was ist schon die Wahrheit? Wer kann könnte auch nach noch so langen Ermittlungen behaupten, die ganze Wahrheit über einen Sachverhalt zu wissen? Und selbstverständlich ist aufgeklärten Juristinnen und Juristen heute bewusst, dass es zu ein- und demselben Sachverhalt in der Regel verschiedene subjektive Wahrheiten gibt. Ganz einfach deshalb, weil beteiligte Personen dasselbe Geschehnis unterschiedlich wahrnehmen. Aus den tausenden Eindrücken, die jede Minute auf uns einprasseln, filtert unser Gehirn einzelne heraus, die in der Erinnerung gespeichert bilden bleiben. Wir haben nie ein Gesamtbild der Wirklichkeit, immer nur ein Teilbild. Unsere Erinnerung kann uns also täuschen. Gut beobachten lässt sich das, wenn verschiedene Zeuginnen und Zeugen vor Gericht einen Verkehrsunfall schildern. Selbst wenn diese Personen unbeteiligte Passanten sind, die keinerlei eigenes Interesse am Ausgang des Gerichtsverfahrens haben, gehen ihre Schilderungen bezüglich der Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, der Ampelschaltung oder Dauer eines bestimmten Vorgangs oft diametral auseinander. Das ist kein böser Wille, keine vorsätzliche Lüge, sondern eine subjektive Wahrheit, eine subjektive Erinnerung.

Handlungen gegen die Rechtspflege

Die Gerichte stehen bei der Wahrheitserforschung also vor einer schwierigen Aufgabe. Im Allgemeinen tun wir uns dort leichter, Wahrheiten zu erkennen und anzuerkennen, wo sich Sachverhalte naturwissenschaftlich nachvollziehen lassen. Das gilt auch vor Gericht. Oft gibt es bei der Feststellung eines Verkehrsunfalls vor Gericht etwa Bremsspuren, Beschädigungen an den Fahrzeugen oder auch Verletzungen, die (wissenschaftliche) Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit der Fahrzeuge ermöglichen. Die Gerichte ziehen zu diesem Zweck oft Sachverständige bei, deren Untersuchungsergebnisse im besten Fall mehr Sicherheit bringen als Zeugenaussagen. In vielen Fällen finden Gerichte solche wissenschaftlich nachvollziehbaren Anhaltspunkte für die Feststellung eines Sachverhalts vor. Zu denken wäre etwa auch an die Prüfung der Fälschung eines alten Bildes. Kommt man zum Ergebnis, dass eine der verwendeten Farben zur Zeit der behaupteten Entstehung des Werkes noch nicht verfügbar war, so wird dies einen starken Beweis für die nachträgliche Fälschung des Bildes abgeben. Anders ist das dort, wo Gerichte innere Vorgänge in einem Menschen erkunden und feststellen müssen. Etwa wenn es darum geht herauszufinden, ob ein Angeklagter einen anderen vorsätzlich oder gar absichtlich verletzt hat, ob es zur Verletzung gleichsam beiläufig, aus einer Fahrlässigkeit und ungewollten Unachtsamkeit heraus gekommen ist. Regelmäßig müssen Gerichte solche Fragen lösen; im Strafrecht kann der Vorsatz, der Wille des Täters entscheidend sein für die rechtliche Einordnung und damit für das Strafmaß.

Da also der Wahrheitserforschung durch die Gerichte so hohe Bedeutung zukommt, steht auch vieles unter Strafe, was diese Wahrheitserforschung stören könnte. Das Gesetz schützt gleichsam die wahrheitserforschende Tätigkeit der Gerichte und sanktioniert alles, und zwar recht streng, was die gerichtlichen Bemühungen behindern und was den Ausgang des Gerichtsverfahrens verfälschen könnte. So stehen etwa alle Menschen, die als Zeuginnen und Zeugen vor Gericht, vor einem Untersuchungsausschuss oder vor einer Behörde aussagen, unter Wahrheitspflicht. Bewusst falsche Aussagen vor Gericht oder dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss werden vergleichsweise streng, nämlich mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Gelegentlich sagen Menschen falsch aus, um einen Angehörigen vor einer Verurteilung wegen eines kleinen Diebstahls oder einer geringfügigen Verletzung eines anderen zu schützen; sie übersehen dabei meist, dass die falsche Aussage mit viel höheren Strafen verbunden ist als das Delikt, um das es bei der Aussage geht. So schwerwiegend schätzt das Gesetz die Verfälschung eines Verfahrens durch eine falsche Aussage ein (nur falsche Aussagen von Klägern und Beklagten eines Zivilverfahrens und Angeklagten eines Strafverfahrens sind von der Strafbarkeit ausgenommen). Strafbar ist es daher auch, wenn jemand dem Gericht ein falsches Beweismittel vorlegt, etwa ein gefälschtes ärztliches Attest, um mehr Schmerzensgeld zu erwirken. Aber auch Sachverständige und Dolmetschende, die falsche Gutachten erstatten oder Aussagen falsch dolmetschen, sind mit Gefängnisstrafen bedroht.

Bei der Strafandrohung für all diese Verhaltensweisen geht es also vor allem darum, dass der Ausgang eines Verfahrens oder einer Untersuchung bewusst verfälscht werden könnte, was  den Respekt vor der Tätigkeit der Gerichte und Behörden untergraben würde. In diesem Lichte ist die penible Untersuchung einer möglichen falschen Aussage eines früheren österreichischen Bundeskanzlers im Parlament zu sehen.

Einer Verfälschung des Verfahrens soll auch das Verbot des Agent Provocateur vorbeugen. Der Polizei ist es gesetzlich verboten, jemanden zu einer Straftat anzustiften. Solche Anstiftungsversuche, etwa die Verleitung von Menschen zum Drogenankauf durch verdeckte Ermittler, gehörten früher zum Repertoire der Polizeiarbeit. Moderne Rechtsstandards verbieten eine solche Vorgangsweise, die gleichsam eine Fälschung an den Beginn des Strafverfahrens stellt: Denn tatsächlich wollen Zivilfahnder ja gar keine Drogen verkaufen; durch Anstiftung würde eine Straftat künstlich herbeigeführt, die es sonst nicht gäbe. Der Einsatz des Agent Provocateur widerspricht nach heutigem Verständnis dem fairen Verfahren.

Die zahlreichen Schutzbestimmungen für das gerichtliche Verfahren haben eines im Auge: die Vermeidung von Fehlurteilen. Denn was ein Gericht am Ende des Verfahrens im Urteil feststellt, das gilt formal als Wahrheit, mag sich das Gericht bei seinen Feststellungen geirrt haben oder nicht. Es gibt zwar meist noch die Möglichkeit einer Berufung oder Revision, aber spätestens nach drei oder vier Instanzen ist der Rechtsweg zu Ende. Dann steht eine vom Gericht erzeugte Wahrheit fest, die das Leben der Verfahrensbeteiligten stark beeinflussen kann – etwa in Form einer langen Gefängnisstrafe oder in Form des Verlusts des Besuchsrechts zum/beim? Kind. Hat sich ein Gericht geirrt, so sprechen wir von einem Fehlurteil. Das Urteil wird in den seltensten Fällen beabsichtigt falsch sein, in der Regel wird das Gericht die verschiedenen Aussagen und vorgelegten Papiere unzutreffend bewertet haben. Da sich der Gesetzgeber bewusst ist, dass Fehlurteile nicht ganz vermeidbar sind, sieht das Gesetz Hilfsmittel wie die Wiederaufnahme eines Verfahrens vor. Das ändert nichts: Diese sogenannte Wahrheitserforschung bedeutet eine beständige Überforderung aller Beteiligten.

Im Wein liegt die Wahrheit

Polizei- und Verwaltungsbeamte, Staatsanwältinnen und Richter, sie alle müssen berufsbedingt laufend die Glaubwürdigkeit von Aussagen prüfen und entscheiden, welche Aussagen und Urkunden sie für echt und wahr, welche sie für falsch halten. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen versuchen auf diese Aufgabe vorzubereiten, Lebens- und Berufserfahrung kann manchmal helfen. Und doch kommen auch Expertinnen und Experten immer wieder im selben Fall zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Ein kürzlich vor einem Wiener Bezirksgericht verhandelter Fall soll das illustrieren.

Ein Pensionist stand vor Gericht, die Staatsanwaltschaft legte ihm den versuchten Diebstahl einer Flasche Wein zu Last. Der Pensionist bestritt und berichtete, er sei wie immer mit seiner Frau einkaufen gewesen. In einem ersten Geschäft, wohin ihn seine Frau nicht begleitet hatte, habe er die später umstrittene Weinflasche gekauft. Als Beleg – der Mann hatte die Flasche zur Gerichtsverhandlung mitgebracht – verwies er auf die aufgeklebte Rabattmarke einer Supermarktkette. Den zweiten Supermarkt, in dem er später angehalten wurde, hatte der Mann gemeinsam mit seiner Frau betreten. So wie immer habe man sich im Geschäftslokal getrennt, er habe sich bei den Weinen umgesehen, seine Frau bei Brot und Fleischwaren. Nachdem er eine Weile vergeblich nach seiner Frau Ausschau gehalten habe hätte, sei er zum Kassenbereich weitergegangen, habe dort die Weinflasche auf der ausgangsseitigen Kassenfläche abgestellt und zur Kassiererin gesagt, er schaue nur, wo seine Frau bleibe. Er habe seinen Kopf Richtung Ausgangsbereich gesteckt und sei in diesem Moment vom Ladendetektiv angehalten worden. Dieser habe ihm sogleich den versuchten Diebstahl der Weinflasche vorgehalten.

In der Gerichtsverhandlung wurde zunächst der angeklagte Mann befragt, der auf sein höheres Alter, seine lebenslange Unbescholtenheit und seine gute Pension verwies. Er unterstrich, dass er ja die Kassiererin informiert habe, deren Personalien aber niemand notiert hatte. Der Ladendetektiv drückte seine Überzeugung aus, dass es sich um einen gefinkelten Dieb handle, der bei der Anhaltung gleich eine Schutzbehauptung zur Hand gehabt habe. Er räumte aber ein, dass der Angeklagte einige Zeit im Kassenbereich gestanden wäre sei und dort suchend nach links und rechts geschaut habe.

Schließlich wurden vor Gericht die beiden Polizeibeamten einvernommen, die unmittelbar nach dem Vorfall in den Supermarkt gerufen worden waren. Beide Polizeibeamte sind etwa gleich alt, bereits seit Jahren im Polizeidienst tätig und mehrmals täglich wegen mutmaßlicher Ladendiebstähle im Einsatz. Nach seiner Einschätzung des gegenständlichen Falls befragt, gab der erste der beiden Beamten vor Gericht an, er habe den Diebstahlsvorwurf von Beginn an für absurd gehalten. Er hätte keinen Grund zur Annahme gesehen, warum der gut situierte Mann eine Flasche Wein stehlen sollte, wo er auch noch die Herkunft der Flasche aus einem anderen Markt gut belegen konnte. Der zweite Polizeibeamte sagte, auch für ihn sei der Fall von Beginn an klar gewesen: Ein gut gebildeter Dieb habe sich vorbereitet und für den Fall seiner Anhaltung eine clevere Geschichte bereitgehalten, um einer Bestrafung zu entgehen. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Der Gesetzgeber weiß um die Tücken der Wahrheitserforschung. Daher gilt der Rechtsgrundsatz: «In dubio pro reo.»

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