Im Wein liegt die Wahrheit: Echt und falsch, Wahrheit und Lüge in der Rechtsordnung

Text für die Literaturzeitschrift wespennest Nr. 183 vom November 2022

Im Wein liegt die Wahrheit

Echt und falsch, Wahrheit und Lüge in der Rechtsordnung

für Annemiek

Jede Zeit hat ihre prägenden Ereignisse, ihre Mode, ihre Trends. Diese Zeitströmungen bleiben nicht ohne Einfluss auf rechtliche Erscheinungen, Rechtsprechung und Gesetze. Der aktuell vorherrschende Populismus in Verbindung mit ungebremstem Kapitalismus hat viele Begleiter – zusammengefasst einen breiten Verfall ethischer Prinzipien. Die Gier nach Geld und Macht, die weitgehende Abwesenheit von Visionen für die Zukunft führen dazu, dass Fake News, Wahlfälschung und manipulierte Ausschreibungen öffentlicher Posten und Aufträge eine Hochkonjunktur erleben.

Fälschung und Recht

Fälschungen stören das menschliche Zusammenleben, und so beschäftigt sich auch das Recht schon seit Jahrhunderten damit. Die Fälschung hat im Rechtsleben ihren fixen Platz, wenn auch nicht in der den großen Dimensionen, wie die man vielleicht vermuten würde. Blicken wir auf das Strafrecht, so finden sich im österreichischen Strafgesetzbuch, ähnlich den meisten Ländern der Welt, einige Fälschungsdelikte, die in der Praxis eine größere Rolle spielen. Da ist zunächst das Delikt der Urkundenfälschung, das mit Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bedroht ist. Eine falsche Urkunde im rechtlichen Sinn ist ein Dokument, das nicht vom angegebenen Aussteller einer Urkunde stammt. Es geht also zum Beispiel darum, dass ein Mieter bei der polizeilichen Anmeldung am Meldezettel die Unterschrift des Vermieters fälscht, etwa weil die Wohnung unberechtigt untervermietet wurde und der Vermieter nicht zur Unterschrift bereit ist. Auch gefälschte Ausweise spielen im Rechtsleben und im Gerichtsalltag eine Rolle. Menschen, die bei der Führerscheinprüfung nicht erfolgreich waren oder denen der Führerschein abgenommen wurde, verfallen gelegentlich auf die Idee, einen gefälschten Führerschein zu kaufen, einen Markt dafür gibt es offenkundig. Und Menschen, die auf der Flucht sind, sind häufig darauf angewiesen, falsche Ausweise oder Reisepässe zu kaufen; entweder, weil sie eigene Dokumente aus ihrer Heimat nicht mitnehmen konnten, oder weil ein Ausweis mit falscher Identität – etwa im Fall der politischen Verfolgung – eine höhere oder die einzige Hoffnung auf ein Ankommen in einem sicheren Gebiet bedeutet. In jeder Zeitepoche werden neue Urkunden gefälscht – mit der Pandemie tauchten rasch falsche Impfzeugnisse auf oder falsche ärztliche Bestätigungen, die eine Ausnahme von Maskentragen oder Impfung belegen sollten. Im Jahr 2020 wurden in Österreich insgesamt 24 000 Personen strafrechtlich verurteilt, rund 1800 Personen davon wegen Urkundenfälschung oder eines eng verwandten Strafdelikts verurteilt; die Urkundendelikte bilden also eine durchaus beachtliche strafrechtliche Deliktsgruppe.

Falsches Geld und falsche Marken

Der gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes entsprechend ist die Geldfälschung ein weiteres schon lang bekanntes Delikt unseres Strafrechts. Mit der modernen Zeit ist die Fälschung unbarer Zahlungsmittel, etwa die Kreditkartenfälschung, dazu getreten. Geldfälschung wird vom Gesetzgeber als besonders schweres Verbrechen gesehen – bei diesem Delikt droht eine Haftstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Wurde noch 2001 geschätzt, dass jeder zehnte in Europa im Umlauf befindliche Geldschein gefälscht ist, so vermeint die Europäische Kommission aktuell einen Tiefstand bei Geldfälschungen in der Eurozone festzustellen. Den Untersuchungen der Kommission zufolge finden sich derzeit unter einer Million im Umlauf befindlicher Euroscheine lediglich zwölf gefälschte. Im Jahr 2021 wurden weltweit 347 000 gefälschte Euro-Banknoten aus dem Verkehr gezogen, so wenige wie nie zuvor. Bei etwa zwei Drittel aller aus dem Verkehr gezogenen Fälschungen handelte es sich um 20- und 50-Euro-Scheine. Fälscher bevorzugen diese kleineren Banknoten, da die meisten Menschen sie im Alltag weniger aufmerksam entgegennehmen als die großen Banknoten. Gefälscht werden freilich nicht nur Geldscheine, sondern auch andere papierene Wertträger wie etwa Aktien. Dafür sieht das Gesetz ebenfalls Gefängnisstrafen vor.

Gerichte haben sich – neben Fälschungen von Eintrittskarten für Sport- und Konzertveranstaltungen – auch immer wieder mit Fälschungen von Markenprodukten zu befassen, wobei die Produkte in allen Eigenschaften und Materialien inklusive der Markenzeichen so nachgebildet sind, dass sie wie das Original erscheinen. Die Fachbezeichnung dafür lautet Produktpiraterie. Den Käuferinnen und Käufern ist die Fälschung oft bewusst, man denke an die Imitate von Louis-Vuitton-Taschen oder Ray-Ban-Sonnenbrillen, die an Ferienplätzen auf den Gehsteigen ausgebreitet und zum Verkauf angeboten werden. Nachbildungen finden sich auch im technischen Bereich, etwa bei Autoersatzteilen oder Ladekabeln von Markensmartphones. In diesem Bereich können Fälschungen von minderer Qualität zu Gesundheits- oder gar Lebensgefährdungen führen. Dasselbe gilt für die nicht seltenen gefälschten Arzneimittel, die vor allem über den Onlinehandel vertrieben werden; aber auch für Lebensmittelfälschungen, von denen etwa der Weinsektor betroffen ist.

Viele dieser zuletzt erwähnten Fälschungen werden strafrechtlich als Betrug geahndet, wenn die Erwerberinnen und Erwerber davon ausgehen, dass sie ein Markenprodukt erhalten kaufen, tatsächlich aber in die Irre geführt werden und ein billiges Imitat erhalten. Betrügerische Handlungen liegen zumeist auch den Kunst- und Antiquitätenfälschungen zugrunde – oder etwa auch Tagebuchfälschungen. Man denke an den berühmt gewordenen Fall der gefälschten Hitler-Tagebücher: Das Nachrichtenmagazin Stern hatte im Jahr 1983 vermeintliche Tagebucheintragungen Adolf Hitlers veröffentlicht, die sich nach Untersuchungen des deutschen Bundeskriminalamtes rasch als gefälscht erwiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Stern allerdings bereits 62 Bände gefälschter Tagebücher für 9,3 Millionen D-Mark erworben. Der Fälscher der Tagebücher wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Hamburger Gericht wertete ein erhebliches Mitverschulden von Verlag und Redaktion als strafmildernd.

Fake News

Falsche oder verfälschte Nachrichten, bewusst verdrehte Fakten werden nicht nur von der Politik immer häufiger strategisch verwendet. Gerade in Zeiten der Pandemie machten im Wissenschaftsbereich unzählige manipulierte und falsch dargestellte Forschungsergebnisse die Runde. Entscheiden sich Menschen aufgrund solcher manipulierten Darstellungen etwa zu für falsche medizinische Behandlungen, dann kann die Verbreitung der falschen Studien und Informationen zu Haftungsfolgen und auch strafrechtlichen Konsequenzen (gewertet etwa als vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung) führen. Vor Gericht spielen Fake News unter anderem in medienrechtlichen Verfahren und im Zusammenhang mit der Verletzung von Persönlichkeitsrechten immer wieder eine Rolle.

Verfälschte Wahlen wiederum assoziiert man mit autoritären Regimen, doch werden immer wieder auch in Österreich diesbezügliche Strafverfahren geführt. Zuletzt 2020/2021 etwa wurde laut Medienberichten ein Verdacht der Wahlfälschung bei der letzten Wirtschaftskammerwahl im Burgenland untersucht.

Rechtlich verwandt mit dem Fälschungsbegriff ist schließlich das Plagiat, in der öffentlichen Diskussion in letzter Zeit vor allem im Zusammenhang mit akademischen Abschlussarbeiten prominenter Personen diskutiert. Beim Plagiat wird eine eigene (wissenschaftliche) Leistung vorgetäuscht, indem ohne entsprechenden Ausweis (Zitat) fremde Texte oder Leistungen als eigene ausgegeben werden.

Wahrheitserforschung durch Gerichte

Der Begriff der Fälschung führt rasch zu Fragen von echt und falsch, Wahrheit und Lüge. Vor allem die Wahrheit, mag sie auch allgemein nicht hoch im Kurs stehen, ist immer noch ein Schlüsselbegriff für die Arbeit der Gerichte. Im Gerichtsverfahren geht es in der Regel um die Lösung von Konflikten zwischen zwei oder mehreren Personen oder Unternehmen. Unabhängig davon, ob es sich um eine familienrechtliche Streitigkeit handelt, einen Streit um eine nicht bezahlte Handyrechnung oder um ein Strafverfahren wegen Körperverletzung: Die Arbeit der Gerichte folgt stets demselben Schema. Gerichte versuchen in einem förmlichen Verfahren herauszufinden, was tatsächlich passiert ist; es geht technisch gesagt um Wahrheitserforschung. Diese ist notwendig, damit das Gericht Feststellungen treffen kann. Erst aufgrund dieser Feststellungen beurteilt das Gericht den Sachverhalt rechtlich und trifft seine Entscheidungen, seine Urteile. Bei der Tatsachenfeststellung vor Gericht geht es etwa darum, welcher Elternteil dem Kind ein besseres Zuhause bietet, oder um die Frage, ob der Verdächtige einer Straftat tatsächlich derjenige war, der dem Opfer Verletzungen zugefügt hat; und falls ja, ob er sich vielleicht nur seinerseits gegen einen Angriff gewehrt hat. Paragraf 3 der österreichischen Strafprozessordnung formuliert es so: «Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht haben die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind.» Damit erteilt der Gesetzgeber der Justiz einen Auftrag, von dem jeder reflektierte Mensch weiß, dass er nicht zu erfüllen ist. Denn was ist schon die Wahrheit? Wer kann könnte auch nach noch so langen Ermittlungen behaupten, die ganze Wahrheit über einen Sachverhalt zu wissen? Und selbstverständlich ist aufgeklärten Juristinnen und Juristen heute bewusst, dass es zu ein- und demselben Sachverhalt in der Regel verschiedene subjektive Wahrheiten gibt. Ganz einfach deshalb, weil beteiligte Personen dasselbe Geschehnis unterschiedlich wahrnehmen. Aus den tausenden Eindrücken, die jede Minute auf uns einprasseln, filtert unser Gehirn einzelne heraus, die in der Erinnerung gespeichert bilden bleiben. Wir haben nie ein Gesamtbild der Wirklichkeit, immer nur ein Teilbild. Unsere Erinnerung kann uns also täuschen. Gut beobachten lässt sich das, wenn verschiedene Zeuginnen und Zeugen vor Gericht einen Verkehrsunfall schildern. Selbst wenn diese Personen unbeteiligte Passanten sind, die keinerlei eigenes Interesse am Ausgang des Gerichtsverfahrens haben, gehen ihre Schilderungen bezüglich der Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, der Ampelschaltung oder Dauer eines bestimmten Vorgangs oft diametral auseinander. Das ist kein böser Wille, keine vorsätzliche Lüge, sondern eine subjektive Wahrheit, eine subjektive Erinnerung.

Handlungen gegen die Rechtspflege

Die Gerichte stehen bei der Wahrheitserforschung also vor einer schwierigen Aufgabe. Im Allgemeinen tun wir uns dort leichter, Wahrheiten zu erkennen und anzuerkennen, wo sich Sachverhalte naturwissenschaftlich nachvollziehen lassen. Das gilt auch vor Gericht. Oft gibt es bei der Feststellung eines Verkehrsunfalls vor Gericht etwa Bremsspuren, Beschädigungen an den Fahrzeugen oder auch Verletzungen, die (wissenschaftliche) Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit der Fahrzeuge ermöglichen. Die Gerichte ziehen zu diesem Zweck oft Sachverständige bei, deren Untersuchungsergebnisse im besten Fall mehr Sicherheit bringen als Zeugenaussagen. In vielen Fällen finden Gerichte solche wissenschaftlich nachvollziehbaren Anhaltspunkte für die Feststellung eines Sachverhalts vor. Zu denken wäre etwa auch an die Prüfung der Fälschung eines alten Bildes. Kommt man zum Ergebnis, dass eine der verwendeten Farben zur Zeit der behaupteten Entstehung des Werkes noch nicht verfügbar war, so wird dies einen starken Beweis für die nachträgliche Fälschung des Bildes abgeben. Anders ist das dort, wo Gerichte innere Vorgänge in einem Menschen erkunden und feststellen müssen. Etwa wenn es darum geht herauszufinden, ob ein Angeklagter einen anderen vorsätzlich oder gar absichtlich verletzt hat, ob es zur Verletzung gleichsam beiläufig, aus einer Fahrlässigkeit und ungewollten Unachtsamkeit heraus gekommen ist. Regelmäßig müssen Gerichte solche Fragen lösen; im Strafrecht kann der Vorsatz, der Wille des Täters entscheidend sein für die rechtliche Einordnung und damit für das Strafmaß.

Da also der Wahrheitserforschung durch die Gerichte so hohe Bedeutung zukommt, steht auch vieles unter Strafe, was diese Wahrheitserforschung stören könnte. Das Gesetz schützt gleichsam die wahrheitserforschende Tätigkeit der Gerichte und sanktioniert alles, und zwar recht streng, was die gerichtlichen Bemühungen behindern und was den Ausgang des Gerichtsverfahrens verfälschen könnte. So stehen etwa alle Menschen, die als Zeuginnen und Zeugen vor Gericht, vor einem Untersuchungsausschuss oder vor einer Behörde aussagen, unter Wahrheitspflicht. Bewusst falsche Aussagen vor Gericht oder dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss werden vergleichsweise streng, nämlich mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Gelegentlich sagen Menschen falsch aus, um einen Angehörigen vor einer Verurteilung wegen eines kleinen Diebstahls oder einer geringfügigen Verletzung eines anderen zu schützen; sie übersehen dabei meist, dass die falsche Aussage mit viel höheren Strafen verbunden ist als das Delikt, um das es bei der Aussage geht. So schwerwiegend schätzt das Gesetz die Verfälschung eines Verfahrens durch eine falsche Aussage ein (nur falsche Aussagen von Klägern und Beklagten eines Zivilverfahrens und Angeklagten eines Strafverfahrens sind von der Strafbarkeit ausgenommen). Strafbar ist es daher auch, wenn jemand dem Gericht ein falsches Beweismittel vorlegt, etwa ein gefälschtes ärztliches Attest, um mehr Schmerzensgeld zu erwirken. Aber auch Sachverständige und Dolmetschende, die falsche Gutachten erstatten oder Aussagen falsch dolmetschen, sind mit Gefängnisstrafen bedroht.

Bei der Strafandrohung für all diese Verhaltensweisen geht es also vor allem darum, dass der Ausgang eines Verfahrens oder einer Untersuchung bewusst verfälscht werden könnte, was  den Respekt vor der Tätigkeit der Gerichte und Behörden untergraben würde. In diesem Lichte ist die penible Untersuchung einer möglichen falschen Aussage eines früheren österreichischen Bundeskanzlers im Parlament zu sehen.

Einer Verfälschung des Verfahrens soll auch das Verbot des Agent Provocateur vorbeugen. Der Polizei ist es gesetzlich verboten, jemanden zu einer Straftat anzustiften. Solche Anstiftungsversuche, etwa die Verleitung von Menschen zum Drogenankauf durch verdeckte Ermittler, gehörten früher zum Repertoire der Polizeiarbeit. Moderne Rechtsstandards verbieten eine solche Vorgangsweise, die gleichsam eine Fälschung an den Beginn des Strafverfahrens stellt: Denn tatsächlich wollen Zivilfahnder ja gar keine Drogen verkaufen; durch Anstiftung würde eine Straftat künstlich herbeigeführt, die es sonst nicht gäbe. Der Einsatz des Agent Provocateur widerspricht nach heutigem Verständnis dem fairen Verfahren.

Die zahlreichen Schutzbestimmungen für das gerichtliche Verfahren haben eines im Auge: die Vermeidung von Fehlurteilen. Denn was ein Gericht am Ende des Verfahrens im Urteil feststellt, das gilt formal als Wahrheit, mag sich das Gericht bei seinen Feststellungen geirrt haben oder nicht. Es gibt zwar meist noch die Möglichkeit einer Berufung oder Revision, aber spätestens nach drei oder vier Instanzen ist der Rechtsweg zu Ende. Dann steht eine vom Gericht erzeugte Wahrheit fest, die das Leben der Verfahrensbeteiligten stark beeinflussen kann – etwa in Form einer langen Gefängnisstrafe oder in Form des Verlusts des Besuchsrechts zum/beim? Kind. Hat sich ein Gericht geirrt, so sprechen wir von einem Fehlurteil. Das Urteil wird in den seltensten Fällen beabsichtigt falsch sein, in der Regel wird das Gericht die verschiedenen Aussagen und vorgelegten Papiere unzutreffend bewertet haben. Da sich der Gesetzgeber bewusst ist, dass Fehlurteile nicht ganz vermeidbar sind, sieht das Gesetz Hilfsmittel wie die Wiederaufnahme eines Verfahrens vor. Das ändert nichts: Diese sogenannte Wahrheitserforschung bedeutet eine beständige Überforderung aller Beteiligten.

Im Wein liegt die Wahrheit

Polizei- und Verwaltungsbeamte, Staatsanwältinnen und Richter, sie alle müssen berufsbedingt laufend die Glaubwürdigkeit von Aussagen prüfen und entscheiden, welche Aussagen und Urkunden sie für echt und wahr, welche sie für falsch halten. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen versuchen auf diese Aufgabe vorzubereiten, Lebens- und Berufserfahrung kann manchmal helfen. Und doch kommen auch Expertinnen und Experten immer wieder im selben Fall zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Ein kürzlich vor einem Wiener Bezirksgericht verhandelter Fall soll das illustrieren.

Ein Pensionist stand vor Gericht, die Staatsanwaltschaft legte ihm den versuchten Diebstahl einer Flasche Wein zu Last. Der Pensionist bestritt und berichtete, er sei wie immer mit seiner Frau einkaufen gewesen. In einem ersten Geschäft, wohin ihn seine Frau nicht begleitet hatte, habe er die später umstrittene Weinflasche gekauft. Als Beleg – der Mann hatte die Flasche zur Gerichtsverhandlung mitgebracht – verwies er auf die aufgeklebte Rabattmarke einer Supermarktkette. Den zweiten Supermarkt, in dem er später angehalten wurde, hatte der Mann gemeinsam mit seiner Frau betreten. So wie immer habe man sich im Geschäftslokal getrennt, er habe sich bei den Weinen umgesehen, seine Frau bei Brot und Fleischwaren. Nachdem er eine Weile vergeblich nach seiner Frau Ausschau gehalten habe hätte, sei er zum Kassenbereich weitergegangen, habe dort die Weinflasche auf der ausgangsseitigen Kassenfläche abgestellt und zur Kassiererin gesagt, er schaue nur, wo seine Frau bleibe. Er habe seinen Kopf Richtung Ausgangsbereich gesteckt und sei in diesem Moment vom Ladendetektiv angehalten worden. Dieser habe ihm sogleich den versuchten Diebstahl der Weinflasche vorgehalten.

In der Gerichtsverhandlung wurde zunächst der angeklagte Mann befragt, der auf sein höheres Alter, seine lebenslange Unbescholtenheit und seine gute Pension verwies. Er unterstrich, dass er ja die Kassiererin informiert habe, deren Personalien aber niemand notiert hatte. Der Ladendetektiv drückte seine Überzeugung aus, dass es sich um einen gefinkelten Dieb handle, der bei der Anhaltung gleich eine Schutzbehauptung zur Hand gehabt habe. Er räumte aber ein, dass der Angeklagte einige Zeit im Kassenbereich gestanden wäre sei und dort suchend nach links und rechts geschaut habe.

Schließlich wurden vor Gericht die beiden Polizeibeamten einvernommen, die unmittelbar nach dem Vorfall in den Supermarkt gerufen worden waren. Beide Polizeibeamte sind etwa gleich alt, bereits seit Jahren im Polizeidienst tätig und mehrmals täglich wegen mutmaßlicher Ladendiebstähle im Einsatz. Nach seiner Einschätzung des gegenständlichen Falls befragt, gab der erste der beiden Beamten vor Gericht an, er habe den Diebstahlsvorwurf von Beginn an für absurd gehalten. Er hätte keinen Grund zur Annahme gesehen, warum der gut situierte Mann eine Flasche Wein stehlen sollte, wo er auch noch die Herkunft der Flasche aus einem anderen Markt gut belegen konnte. Der zweite Polizeibeamte sagte, auch für ihn sei der Fall von Beginn an klar gewesen: Ein gut gebildeter Dieb habe sich vorbereitet und für den Fall seiner Anhaltung eine clevere Geschichte bereitgehalten, um einer Bestrafung zu entgehen. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Der Gesetzgeber weiß um die Tücken der Wahrheitserforschung. Daher gilt der Rechtsgrundsatz: «In dubio pro reo.»

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Menschenrechtsbezirk Meidling: Justiz und Schule

Heute Vormittag hatte ich die große Freude, in der Volksschule in der Rothenburgstraße in Wien mit Schülerinnen und Schülern über Gesetz, Recht, Justiz und Gerechtigkeit zu sprechen. Einen Schwerpunkt haben wir dem Thema Klimawandel und Klimarecht gewidmet. Nächste Woche kommt die Schulklasse dann ans Gericht, um sich vor Ort ein Bild vom Gerichtsalltag zu machen.

Hintergrund: Vor kurzem hat sich der Wiener Gemeindebezirk Meidling zum Menschenrechtsbezirk erklärt. Nun versuchen wir – Bezirk, Bezirksgericht, Volkshochschule, Schulen uva – diese Erklärung in Meidling mit Leben zu erfüllen. Ein Teil davon ist der Austausch von Schulen mit dem Gericht. Nachdem sich bisher zumeist die Oberstufen von AHS oder Handelsakademie an das Gericht gewandt haben, war ich über das erste Projekt mit einer Volksschule besonders froh.

Ich habe vor Jahren in Süditalien Programme kennengelernt, in deren Rahmen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte Schulen besuchen und dort vor allem über die organisierte Kriminalität und ihre Wirkungsweise mit Schülerinnen und Schülern sprechen. Die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Schulen ist in Süditalien eines der Präventionsinstrumente zur Eindämmung des Einflusses der Mafia.

In Österreich sind die Rahmenbedingungen anders gelagert, dennoch erscheint die frühzeitige Information in Schulen über unser Recht und Verfassungssystem wichtig. Es geht darum über Kinderrechte aufzuklären, über das Familienrecht, über das Strafrecht, ganz grundsätzlich aber vor allem darum, wie man sich in unserem gut ausgebauten Rechtssystem den Zugang zum Recht verschaffen kann, also an wen man sich wendet, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist.

Angesichts der aktuellen Korruptionsskandale ist auch die Korruptionsprävention ein wichtiger Aspekt. Es geht nicht nur darum, Korruptionsphänomene zu erklären und sichtbar zu machen, sondern auch darum, junge Menschen frühzeitig zu ermutigen, sich gegen Unsachlichkeit, Regelverletzungen und Korruption zur Wehr zu setzen.

Ganz persönlich ist für mich der Austausch mit Jugendlichen und ihre Sicht auf Start und Gesetz jedes Mal enorm bereichert. Freilich darf der Hinweis nicht fehlen, dass für derartige Programme der Zusammenarbeit von Justiz und Schulen keinerlei Budget zur Verfügung steht und Richterinnen und Richter das mehr oder weniger nebenbei erledigen sollen. Entsprechend bescheiden ist der Umfang des Austauschs. Alles baut auf dem Engagement einzelner Direktorinnen und Direktoren, Schülerinnen und Schüler, Richterinnen und Richter auf. Umso mehr danke ich der Direktorin (Mag. Edlinger) und der Klassenlehrerin Elisabeth Schulmeister in der Volksschule Rothenburgstraße für die Einladung.

 

 

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Juristische Zeitenwende

Text für die Fachzeitschrift Nova & Varia, Ausgabe 03/2022

In seinem Buch Mut zum Recht plädiert Oliver Scheiber für eine Modernisierung von Justiz und Recht. Für Nova et Varia greift er seine Sicht auf internationale Tendenzen im Recht heraus.

 Die Häufung internationaler Krisen und zuletzt der Ukrainekrieg haben dem Völkerrecht nach vielen Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit in der juristischen und medialen Welt verschafft. Abgesehen vom Völkerrecht ist aber seit Jahrzehnten eine starke Entwicklung in Richtung einer Internationalisierung des Rechts zu beobachten, die mit Globalisierung, gestiegener Mobilität und der immer stärkeren Vernetzung der Gesellschaften einhergeht. Für Österreich kommt seit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 die große Bedeutung des Europarechts dazu.[1] In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie internationale Entwicklungen auch das österreichische Recht bestimmen und es wird der Versuch eines Ausblicks in die Zukunft unternommen. Die Grundannahme lautet, dass die internationale Determination des nationalen Rechts rasch weiter zunehmen wird.

Die Nürnberger Prozesse, in denen ab 1945 über die Führungsspitze des NS-Regimes zu Gericht gesessen wurde, sind markantes und frühes Beispiel dafür, wie das internationale Recht Maßstäbe auch für die nationalen Rechtsordnungen setzt.[2] Das betrifft einerseits Elemente des fairen Verfahrens, zum anderen Fragen wie jene der Kommunikation. Der hoch qualifizierte, enorm starke Übersetzungs- und Dolmetschdienst der Nürnberger Prozesse[3] hat bis heute die Maßstäbe für Gerichtsdolmetschungen gesetzt und war noch mitbestimmend bei der Erlassung der EU-Dolmetschrichtlinie[4] im Jahr 2010.

Waren die Nürnberger Prozesse noch sehr auf die Rechte der Angeklagten und die Garantie eines fairen Verfahrens für die Angeklagten fokussiert, so traten neben diesen Aspekt beim von 1993-2017 tätigen Internationalen Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) die Bemühungen um die Rechte der Opfer. Das Jugoslawien-Tribunal hat neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes gesetzt.[5] Opfer von Straftaten wurden von einem eigenen Team betreut, die Opfer wurden psychologisch und juristisch durch die Verfahren begleitet. Auch hier folgte eine Übernahme und Weiterentwicklung der hohen Standards durch die Europäische Union, die zuerst mit einem Rahmenbeschluss und dann mit der Opferschutzrichtlinie[6] ein einheitliches Schutzniveau für Opfer von Straftaten in der EU festlegte. Der österreichische Gesetzgeber hat im internationalen Vergleich früh ein System psychosozialer und juristischer Prozessbegleitung für Opfer bestimmter Straftaten etabliert. Der Anwendungsbereich der Prozessbegleitung wurde in jüngerer Zeit vom Strafverfahren auf Zivilprozesse, die Opfer von Straftaten führen, ausgedehnt.

Das internationale Recht hat auch das so genannte Weltstrafrecht entwickelt, das es möglich machen soll, Strafverfahren wegen schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur im Land des Tatorts zu führen, sondern in jedem anderen Staat der Welt, ohne näheren Bezug zu den Taten. Das Weltstrafrecht könnte ein wesentliches Element für das weitere Zusammenwachsen der den Menschenrechten verpflichteten Staaten und der Solidarität der Weltgemeinschaft sein, hat aber bis heute wenig Bedeutung erlangt. Diese geringe Bedeutung geht auf viele Faktoren zurück, neben dem fehlenden politischen Willen auch auf mangelndes Wissen und die Vernachlässigung dieses Felds in Ausbildung und Praxis der Justiz. Dabei gäbe es herausragende Beispiele für das Funktionieren das Weltstrafrechts, etwa die vom spanischen Richter Garzon geführten Verfahren gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet. Garzon erließ 1998 einen internationalen Haftbefehl gegen den Exdiktator.

Für Österreich hervorzuheben sind die Bemühungen um die Verfolgung von Verdächtigen von Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen. Mit Beginn des Ukrainekriegs sind Stimmen laut geworden, die dort begangenen Verbrechen auch außerhalb der Ukraine (oder Russlands) strafrechtlich zu verfolgen.

In den nächsten Jahren wird die Internationalisierung des Rechts wohl im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen am deutlichsten werden. So wie der Klimawandel eine globale Katastrophe ist, die sich nur auf internationaler Ebene erfolgreich bekämpfen lässt, so sind auch Klimarechtsfragen naturgemäß international bestimmt. Anzunehmen ist, dass die wachsende Bedeutung des Klimarechts in Zukunft sowohl das internationale Recht als auch die nationalen Rechtsordnungen und Rechtsprechungen stark bestimmen wird. Das zeichnet sich schon heute ab, nicht nur bei Gericht, sondern auch an den Universitäten und bei Konferenzen. Die renommierte Frühjahrstagung der Österreichischen Juristenkommission etwa war 2022 ausschließlich dem Thema Klimarecht gewidmet,[7] an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz wurde vor kurzem ein Lehrstuhl für Klimarecht eingerichtet. Das ist naheliegend, denn die kommende Generation von Juristinnen und Juristen wird sich vielen Rechtsfragen in Verbindung mit Umwelt und Klima gegenüber sehen, die sich nur gut lösen lassen, wenn bereits in der juristischen Ausbildung ein Grundwissen über naturwissenschaftliche Fakten und über neuen Rechtsmaterien, etwa internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz, vermittelt werden.

Am Beispiel der Bekämpfung der Umweltkriminalität lässt sich gut nachvollziehen, dass jedes Spezialgebiet Ressourcen und Wissen benötigt; das gilt für das Umwelt- genauso wie für das Klimarecht. Das Umweltstrafrecht etwa ist in Österreich wie den meisten anderen Staaten weitgehend totes Recht geblieben, weil im Vergleich zu anderen Deliktsgruppen Ressourcen und Know How, also spezialisierte Aus- und Fortbildungen, fehlen. Das ist besonders unbefriedigend, soll doch das Strafrecht die schwersten Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung, also insbesondere Bedrohungen von Leben und Gesundheit der Menschen, ahnden.[8] Umweltdelikte gefährden regelmäßig Leben und Gesundheit einer großen Zahl von Menschen, so dass die Strafrechtsordnungen und Justizsysteme eigentlich einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf diesen Bereich legen, ihr Personal entsprechend schulen und diesen Sektor mit entsprechenden Ressourcen ausstatten müssten. Das ist aber in kaum einem Land der Fall. Die Verbrechen, die in vielen Staaten der Welt durch illegale Rodungen, durch die Abholzung von Regenwäldern oder die Verseuchung von Grundwasser entstehen, bleiben so weitgehend ungesühnt. In Süditalien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien angelegt. Haus- wie Sondermüll wurde und wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde bedeckt und dienen als Gemüseplantagen. Die Folgen sind dramatisch: die Region hat heute die höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl der Tumorerkrankungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht, Ärzte berichten von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs. Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Zu ernsthaften strafrechtlichen Maßnahmen kommt es praktisch nie. Ähnliches ließ sich in Ungarn beobachten: im westlichen Ungarn brach 2010 ein Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt. Der kontaminierte Schlamm verseuchte ein Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern. Erst 2019 kam es im zweiten Rechtsgang zu erstinstanzlichen Urteilen mit einigen Schuldsprüchen.

Bemühungen, die Situation zu verbessern, sind nur in Ansätzen absehbar, wie etwa bei den Straf- und Zivilverfahren im Zusammenhang mit den Dieselmanipulationen von Autokonzernen. Doch Gesetze und Rechtsprechung sind in Bewegung. Anfang 2022 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zu den Lieferketten vorgelegt.[9] Es geht dabei darum sicherzustellen, dass in der Europäischen Union nur Produkte in den Handel kommen, die in ihrer gesamten Herstellungskette alle menschen- und umweltrechtlichen Standards erfüllen, auch wenn der Produktionsort außerhalb der Union oder außerhalb Europas liegt. Das Lieferkettenrecht wird in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen.

Das Klimarecht zählt bereits jetzt zu den dynamischsten Rechtsbereichen.[10] In Deutschland sind zwischenzeitig zahlreiche Urteile von Gerichten ergangen, in denen aus internationalen Klimaschutzvereinbarungen Fahrverbote oder Höchstgeschwindigkeiten für den Fahrzeugverkehr abgeleitet wurden. Solchen Entscheidungen liegen zumeist Klagen von Bürgerinnen und Bürgern zugrunde, die sich auf die Verletzung von Klimazielen aus internationalen Vereinbarungen berufen und anführen, dass ihre Gesundheit durch diese Nichteinhaltung von Klimazielen bzw durch das Fehlen von Klimaschutzmaßnahmen wie Fahrverboten (auch auf kommunaler oder regionaler Ebene) gefährdet sei.

Bei internationalen Gerichten sind Klimaklagen bereits ein starkes Thema. Spektakulär ist etwa die Klage von sechs portugiesischen Kindern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die sich gegen 33 Staaten, darunter Österreich, wendet – nämlich gegen jene 33 europäischen Staaten, die derzeit die Ziele des Pariser Klimaschutzübereinkommens nicht erreichen.[11] Die Kläger führen aus, dass sie wegen der Nichterreichung des im Pariser Übereinkommen definierten Ziels der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius und in weiterer Folge der maßgeblichen Emissionsminderung in ihrem Recht auf Leben und auf Privatleben verletzt würden. Die Klimaerwärmung treffe besonders ihre Generation, der Klimawandel sei in ihrer Wohnregion verbunden mit einer zunehmenden Zahl von Waldbränden, Ausfällen in der Landwirtschaft, Allergien, Atemwegserkrankungen und Schulschließungen.

Die Kläger haben den EGMR im Hinblick auf die Dringlichkeit ihres Anliegens ersucht, ihnen nicht die Ausschöpfung aller Instanzen in den 33 Staaten aufzuerlegen, was ja an sich Voraussetzung für die Anrufung des Straßburger Gerichtshofs wäre. Der EGMR hat diesem Ersuchen stattgegeben und die Klage zugelassen. Nur ein Indiz für die Umwälzungen, die sich auch in der Rechtsprechung ankündigen und ein Beispiel, wie das Bewusstsein für Gefahren durch Eingriffe in Umwelt und Klima Rechtsprechung und Rechtsordnung verändern. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat die erste österreichische Klimaklage vor kurzem aus formellen Gründen zurückgewiesen,[12] was man angesichts der Bedeutung der hinter der Klage stehenden existenziellen Fragen mit guten Gründen kritisieren kann. Mittlerweile ist eine neue Klage anhängig und es ist anzunehmen, dass auch das österreichische Höchstgericht bald ähnlich dem EGMR neue Akzente setzen wird.

Internationale Trends werden künftig auch das Verfahrensrecht, also die konkreten Abläufe und das Setting von Zivil- und Strafverfahren stark mitbestimmen.[13] Das betrifft vor allem Fragen des Zugangs zum Recht. Eine bessere Verständlichkeit der gerichtlichen Kommunikation und ein Mehr an Informationen für die Verfahrensbeteiligten sind seit langem ein Anliegen des internationalen Rechts und des Europarechts. Das nationale Recht vollzieht hier in der Regel nach, was auf internationaler Ebene entwickelt und vorgegeben wird. Ein Beispiel dafür wäre die bessere rechtliche Stellung von Kindern vor Gericht. Es ist nicht lange her, dass ein Kind im familienrechtlichen Verfahren wie ein Objekt behandelt wurde; heute sind Kinder vor Gericht ganz selbstverständlich Rechtssubjekte, deren eigenem Wunsch in Obsorge- und Kontaktrechtsfragen zunehmend mehr Rechnung getragen wird. Die UN-Kinderrechtskonvention[14] oder die Leitlinien des Europarats für eine kindgerechte Justiz[15] werden auch für die österreichische Justiz zu den großen Herausforderungen der unmittelbaren Zukunft zählen. Dass für Österreich hier noch Nachholbedarf besteht hat die vom Justizministerium eingerichtete Kindeswohlkommission in ihrem Bericht im Jahr 2021 aufgezeigt.[16]

Die beschriebenen Entwicklungen sind für die kommende Generation von Juristinnen und Juristen eine Herausforderung, sie machen alle juristischen Berufe zugleich spannender und vielfältiger. Voraussetzung für erfolgreiche gesellschaftliche Prozesse wird sein, die Ausbildung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten und die weiterführenden Ausbildungszeiten für Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte stärker neuen Entwicklungen und Gegebenheiten anzupassen. Gelingt das, dann haben Juristinnen und Juristen mehr denn je die Chance, zu einer Gesellschaft beizutragen, in der das Wohl der Menschen und der gleiche Zugang zum Recht das oberste Ziel sind.

 

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Publizist in Wien und Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der FHWien der WKW. Er ist Mitinitiator des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens und Vorstandsmitglied bei SOS Mitmensch und weiteren Menschenrechts-NGOs sowie Kunsteinrichtungen wie etwa der Alten Schmiede in Wien. Zuletzt erschienen: Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020). 

[1] Zur Bedeutung der Zivilrechtsharmonisierung vgl etwa Scheiber, Zahlungsverzug-Richtlinie und Zivilrechtsharmonisierung, Saarbrücker Verlag für Rechtswissenschaften (2015).

[2] Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Piper Verlag (2015);

Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 3. Aufl., C.H. Beck (2019); besonders bemerkenswert waren die Reden der Hauptankläger, näher dazu: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg), Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger.  Europäische Verlagsanstalt (2015).

[3] Herz, Ein Prozess – vier Sprachen, Peter Lang Verlag (2011).

[4] Diese Richtlinie – Richtlinie 2010/64/EU – war der erste Rechtsakt der Europäischen Union, den die Union anhand ihrer neu erlangten Kompetenz für Strafrechtsfragen erlassen hat: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:280:0001:0007:de:PDF#:~:text=(1)%20Diese%20Richtlinie%20regelt%20das,Voll%20streckung%20eines%20Europ%C3%A4ischen%20Haftbefehls (Stand4.6.2022).

[5] Näher dazu: Heinisch, Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Berlin (2007).

[6] Richtlinie 2012/29/EU, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012L0029&from=de (Stand: 4.6.2022).

[7] https://juristenkommission.at/events/fr%C3%BChjahrstagung-2022 (Stand: 4.6.2022).

[8] Zum gesellschaftlichen Auftrag des Strafrechts näher Scheiber, Mut zum Recht, 2. Aufl., falter-Verlag (2020), 118ff.

[9] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145 (Stand: 4.6.2022).

[10] Klage, Urteil, Klimaschutz! Beitrag des ZDF vom 29.8.2021, https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-klage-urteil-klimaschutz-100.html (Stand: 4.6.2022).

[11] Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other States, http://climatecasechart.com/non-us-case/youth-for-climate-justice-v-austria-et-al/ (Stand: 4.6.2022).

[12] VfGH-Beschluss G 144/2020 vom 30. September 2020.

[13] Zum Erfordernis einer neuen Kommunikation vor Gericht ausführlicher in Scheiber, Mut zum Recht, 2.Aufl., falter-Verlag (2020), 161ff.

[14] https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention

(Stand: 4.6.2022).

[15] https://rm.coe.int/16806ad0c3 (Stand: 4.6.2022).

[16] file:///Users/oliverscheiber/Downloads/Bericht%20der%20Kindeswohlkommission_13.%20Juli%202021%20(Langfassung).pdf (Stand: 4.6.2022).

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Filmfestspiele von Venedig: Emanuele Crialeses „L`immensità“

 

Vor 90 Jahren fanden die Filmfestspiele am Lido erstmals statt, einige Male fiel das Festival aus, so feiert man dieses Jahr die 79. Ausgabe. Vier italienische Filme sind im Hauptwettbewerb, darunter der neue Film von Emanuele Crialese, „L`immensità“ (Unermesslichkeit), starbesetzt mit Penelope Cruz in einer der beiden Hauptrollen.

Emanuele Crialese, 1965 in Rom geboren, hat in Italien und New York studiert. Für seine Filme nimmt er sich Zeit, bei Festivals tritt er zurückhaltend auf. Am 4. September hat er seinen neuen Film „L`immensità“ in Venedig präsentiert, das dritte Mal, dass er mit einem Werk im Hauptbewerb von Venedig aufscheint. L`immensità ist ein autobiografischer Film, mit dem Crialese seine sehr persönliche Geschichte öffentlich macht. Crialese wuchs in Rom in einer bürgerlichen Familie als Mädchen Emanuela auf, fühlte sich aber immer als Bub und wechselte das Geschlecht. Was bisher nur ein engerer Kreis wusste, machte Crialese mit dem Film und einer Reihe von Interviews in diesen Tagen allgemein bekannt.

L`immensità die Geschichte eines Paares in Rom in den 1970er-Jahren. Zwischen Clara und Felice gibt es keine Gefühle mehr, mit seinen drei Kindern lebt das bürgerliche Paar in einer großzügigen Wohnung in einem Hochhaus in Rom. Adriana, das älteste Kind, etwa 12 oder 13 Jahre alt, ist das Alter Ego von Regisseur Crialese; sie fühlt sich als Bub und stellt sich selbst mit dem männlichen italienischen Vornamen Andrea vor.

Adriana und ihre Mutter, Clara, gespielt von Penelope Cruz, sind die Hauptfiguren des Films: Komplizinnen und Verbündete in ihrem Unglück. Beide sind sie Gefangene, die Mutter in der Ehe mit ihrem gefühlskalten, gewalttätigen Mann, darüber hinaus in der bürgerlichen Scheinwelt. Eine Trennung kommt für Ehemann Felice nicht in Frage, auch nicht als seine junge Sekretärin von ihm ein Kind erwartet und in ihrer Verzweiflung ausgerechnet Clara um Hilfe bittet. Clara ersehnt die Trennung, doch sie hat dafür keinen Plan und keine Perspektive. Der Tochter Adriana, die Andrea sein möchte, ist sie die lebensnotwendige Stütze, indem sie sie einfach „Adri“ ruft. Clara und Adri verstehen und beschützen einander.

Innerhalb der großen bürgerlichen Familie wird Clara allein dadurch, dass sie ihre Kinder nie ohrfeigt, zur Außenseiterin und Verrückten. Mit den von ihr liebevoll umsorgten Kindern flüchtet sie sich in eine Scheinwelt, zu Raffaella Carrà tanzend decken Mutter und Kinder den Tisch. Als die Kinder mit ihren Cousins und Cousinen in ein unterirdisches Labyrinth steigen und danach von den versammelten Eltern bestraft werden sollen, rettet Clara die Situation, indem sie ein Spiel mit dem Gartenschlauch beginnt.

Crialese gelingt mit L`immensità eine berührende Erzählung über familiäres Unglück und die Abhängigkeit und das Leid vieler Frauen in den 1970er-Jahren. Dieses Leid bestehe in ähnlicher Form auch heute noch für Millionen Frauen, erklärte Hauptdarstellerin Cruz am Lido: für diese Frauen und für Regisseur Crialese habe sie an dem Film mitwirken wollen.

L`ìmmensità ist ein einfühlsamer, zärtlicher Film, vieles wird offen gesagt, vieles wird nur angedeutet. Der Film legt bürgerliche Scheinheiligkeit offen, ohne zu einer bösen Abrechnung zu geraten. Er zeigt die Verachtung der bürgerlichen Welt für die Armen in einem Strang der Erzählung, als sich Adri mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der benachbarten Armensiedlung anfreundet. Es bleibt offen, ob es Arbeiterinnen und Arbeiter oder Roma sind, die da in Baracken hausen und doch täglich fröhlich zusammensitzen; und es bleibt wohl bewusst offen, weil die bürgerliche Gesellschaft beide Gruppen gleichermaßen verachtet, Arbeiter wie Roma. Als Clara nicht mehr weiter kann und zur Erholung ins Krankenhaus muss, da untersagt Clara Adri für die Dauer ihrer Abwesenheit die Ausbrüche zur neuen Freundin; wohl aus Angst, und gleichzeitig macht sie, deren Träume alle gescheitert sind, damit auch der Tochter den einzigen aktuellen Traum zunichte.

L`immensità fängt die Atmosphäre der 1970er-Jahre perfekt ein. Der Film enthält auch eine Hommage an Patty Bravo und vor allem an die erst kürzlich verstorbene Sängerin und Entertainerin Raffaella Carrà, eine Ikone der italienischen Lesben- und Schwulenszene. Penélope Cruz berichtet in Interviews, wie sie als Kind in Spanien im Park zu Liedern Carràs tanzte; jetzt spielt sie in ihren Tagträumen in L`immensità ihr einstiges Vorbild. Und auch an Sophia Loren denkt man beim Spiel von Cruz oft, wie auch italienische Zeitungen anmerken.

L`immensità ist getragen von einem starken Drehbuch und vom großartigen Spiel der Hauptdarstellerinnen. Penélope Cruz vermag als Clara mit kleinsten mimischen Mitteln ganz viel zu sagen. Die Darstellerin Adris, die 13-jährige Luana Giuliani, hat Crialese bei Motorradrennen entdeckt, an dem Giuliani als einziges Mädchen unter Burschen teilnahm.

L`immensità ist italienisches Kino in seinem besten Sinn, voll Empathie, Menschlichkeit, voller Träume und Tagträume, die den Menschen die letzte Rettung sind. Der Film mag seine Kraft und Wirkung auch aus dem Vertrauen der Protagonisten und Protagonistinnen ineinander beziehen, wie es sich im unprätentiösen und natürlichen Auftreten von Crialese, Cruz und den weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern am Festival spiegelte. So gelingt es dem Team, in und außerhalb des Films dann doch wieder Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln.

Fotos: Corriere della Sera, Il Gazzettino

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Ein Land in Geiselhaft

Text für den falter.at – 24.8.2022

Politisch bestellte Karrieristen am Ruder, die Beamtenschaft in der inneren Emigration und eine zusehends resignierte Zivilgesellschaft: Um Österreich ist es nicht gut bestellt. Was es nun zu tun gilt – ein Gastkommentar.

OLIVER SCHEIBER
24.08.2022

Illustration: Schorsch Feierfeil

Ende Juli schied die Allgemeinmedizinerin Lisa-Maria Kellermayr aus dem Leben. Die oberösterreichische Ärztin hatte sich mit viel Energie dem Kampf gegen Corona gewidmet. Sie wurde zum Opfer einer Hasskampagne radikaler Coronaleugner, die die Ärztin mit Drohungen und Hassnachrichten in den Tod trieben. Die Ärztin hatte sich mehrfach an die Medien gewandt. Die Unterstützung von öffentlichen Stellen war unzureichend, eine ernsthafte Strafverfolgung fand zu Lebzeiten Kellermayrs nicht statt.

Die Tage nach dem Tod Lisa-Maria Kellermayrs waren von einer eigentümlichen Stimmung gekennzeichnet, die symptomatisch für die Lage von Politik und Gesellschaft ist. Der Tod der Ärztin berührte viele Menschen. Gleichzeitig blieb die Polarisierung bestehen, die Hasswelle rollte weiter durch die sozialen Medien. Während der Fall Eingang in ausländische Medien fand, sich deutsche Regierungspolitiker äußerten, schwieg die österreichische Regierungsspitze über viele Tage, ebenso wie der oberösterreichische Landeshauptmann und die Behörden, die der Ärztin Geltungssucht unterstellt hatten. Sie waren sprachlos im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie über gar keine Sprache verfügen, die einer solchen Situation gerecht wird. Große Kundgebungen fanden statt, allerdings nicht initiiert von Ärztekammer oder der Gewerkschaft, sondern auf Initiative der Einzelperson Daniel Landau. Er hatte auf Social Media zu den Kundgebungen aufgerufen.

Erfolgreiche Staaten und starke Gesellschaften bauen in der Regel auf mehrere Pfeiler auf. Politik, Medien, Verwaltung, Wissenschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft spielen im besten Fall zusammen. Sind eine oder zwei dieser gesellschaftlichen Säulen vorübergehend schwächer, so schadet es nicht, wenn die anderen Sektoren stark sind und das ausgleichen. Ein solcher Ausgleich findet in Österreich seit Jahren nicht mehr statt. Zahlreiche wichtige Felder der Gesellschaft sind in einer schweren strukturellen Krise. Das Land scheint wie gelähmt, trotz des Potentials, das unter der Oberfläche schlummert, das oft spürbar ist und den Wohlstand vieler noch erhalten konnte.

Am sichtbarsten ist die Krise der Politik, manifest im häufigen personellen Wechsel in Bundeskanzleramt und Gesundheitsministerium. Auch nach dem Sturz des Populisten Sebastian Kurz orientieren sich nahezu alle maßgeblichen Kräfte an wöchentlichen Umfragen. Die Konzentration der Politik gilt der Produktion täglicher Instagram-Bilder oder Tik-Tok-Filmchen. Was zu Anfang des Jahres an dieser Stelle (Falter 4/22) festgestellt wurde, gilt unverändert: Markante Reden hielt in den letzten Jahren lediglich der Bundespräsident; aus der Regierung kommt seit fünf Jahren – die Beamtenregierung Bierlein/Jabloner ausgenommen – keine einzige Rede, die über die Stunde hinaus (positiv) in Erinnerung bleibt. Es gibt keinen Bundes- oder Landespolitiker, der eine Vision des Landes oder eine größere Idee der Zukunft artikuliert, niemanden, der die Jugend erreichen, geschweige denn ermutigen oder mitreißen könnte. Mit Bierzeltwitzen und provinziell sozialisierten Beratern lässt sich kein Land aus der Krise führen.

Die Verwaltung wiederum ist durch die jahrelange parteipolitische Besetzung von Spitzenposten mit unzureichend qualifiziertem und überfordertem Personal dysfunktional geworden, im Gesundheits- und Sicherheitsbereich besonders sichtbar. Nicht erst im Fall Kellermayr, bereits beim BVT oder vor dem Terroranschlag von Wien haben die Behörden versagt. Die Schwächen des Sicherheitsapparats sind Ergebnis eines ausgeuferten Nepotismus. Im Bereich der Sicherheitsverwaltung hat man – es wäre eine nette Anekdote, würde es nicht mittlerweile die Sicherheit des Landes gefährden – ein System von Hochschullehrgängen aufgezogen, die jedem universitären Standard spotten und nur dazu dienen, Parteisoldaten auf möglichst einfache Weise zu Diplomen zu verhelfen, die die formalen Voraussetzungen für hohe Verwaltungsposten liefern.

Hoch qualifizierte erfahrene Beamtinnen und Beamte haben bei Bewerbungen das Nachsehen, bzw bewerben sich gar nicht mehr, weil die Posten vorab verteilt sind. Der Organisationsexperte Wolfgang Gratz hat in einer brillanten Lageschreibung (Wiener Zeitung vom 17.7.2022) auf die gewaltige Dimension der Versorgungsposten hingewiesen – mittlerweile arbeiten in Ministerkabinetten rund 340 Personen und beschneiden, so Gratz, die Karrierechancen der anderen öffentlich Bediensteten, die das reguläre Ausbildungs- und Prüfungssystem des öffentlichen Diensts durchlaufen haben. Die Zahl der gegen ehemalige Regierungsmitglieder und hohe Beamte laufenden strafrechtlichen Ermittlungen hat aktuell eine für Österreich beispiellose Zahl erreicht.

Nahezu wöchentlich fliegen neue Skandale auf. Der jüngst berichtete Fall der Cofag (Falter 32/22) dokumentiert, wie staatliche Aufgaben an der Verwaltung vorbei erledigt werden. Die Regierung errichtet Gesellschaften, in denen parteinahe Personen zu obszönen Gehältern Aufgaben erledigen, die von der Beamtenschaft nach dem strengen Regulativ des öffentlichen Diensts zu vollziehen wären. Millionen werden an Beratungsfirmen ausgeschüttet, diese beantworten Fragen, für deren Lösung ohnedies spezialisierte staatliche Stellen wie Legislativabteilungen oder Finanzprokuratur bestünden. Die Politik lässt die Verwaltung verkommen und nimmt das dann als Grund für die Beauftragung parteinaher privater Auftraggeber. Am Ende werden Milliarden über schwer nachvollziehbare, intransparente Konstruktionen ausgeschüttet, bei denen allein die Form ihrer Errichtung und personellen Besetzung den Geruch der Korruption in sich trägt. Diese Zustände haben zu einer breiten Demotivation der Beamtenschaft geführt, die dem oft abstrusen Treiben von Politik und Verwaltungsspitze innerlich emigriert zusieht. Das Beamtenethos, einst wesentlicher Faktor für die hohe Qualität der Bundesverwaltung, wurde von der Politik zerstört.

Die Medien wiederum haben zu den autoritären Entwicklungen unter Sebastian Kurz maßgeblich beigetragen. Die Medienförderung im Wege willkürlicher Geldverteilung durch Inserate öffentlicher Stellen hat viele Medien zahm gemacht, Chefredakteure lassen eine gesunde Distanz zur Politik vermissen. Die hauptbetroffenen Medien haben es nach dem Abgang von Kurz als Kanzler versäumt, reinen Tisch zu machen und die Verhaberung von Chefredaktionen mit der Politik zu lösen. Mit dem politiknahen Führungspersonal macht man auch hier weiter wie bisher. Der parteipolitische Einfluss schwächt in ähnlicher Weise viele weitere Bereiche. Thomas König hat es kürzlich für den Universitätssektor näher beschrieben (Der Standard vom 19.7.2022).

Ob Politik oder Verwaltung, der Trend geht nach unten. Wichtige internationale Evaluierungssysteme, die den Standard der Pressefreiheit, der Korruptionsbekämpfung oder der Demokratiequalität messen, sprechen eine klare Sprache. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Jetzt schon schielen alle nach möglichen Koalitionsvarianten nach der nächsten Wahl, Inhalte und Programm sind da nicht nötig. Österreich ist in Geiselhaft einer Gruppe von einigen hundert Menschen, die sich den Staat aufteilen, die Spitzenposten in Verwaltung und staatsnahen Unternehmen, in Vorständen und Aufsichtsräten untereinander vergeben und das eigene Fortkommen und das Fortkommen ihrer Partei im Sinn haben, aber in keinem Moment das Wohl des Landes oder der Bevölkerung.

Die Zivilgesellschaft hat in Österreich in vielen Krisen die entscheidende, positive Rolle eingenommen. Nun scheint aber auch sie erschöpft vom jahrzehntelangen Kampf gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit wem man auch spricht, Resignation hat sich breitgemacht. Der Glaube an Reformen ist angesichts des überforderten, oft unqualifizierten Personals in Entscheidungsfunktionen in der Politik und in den Spitzenposten der Verwaltung verloren gegangen. Die österreichische Obrigkeitshörigkeit und eine verbreitete Feigheit tun das Übrige. Gerade in der labilen politischen Situation, in der sich monatlich alles ändern kann, lehnen sich viele lieber zurück und warten ab, statt sich für ihre Überzeugung oder eine Idee einzusetzen. Diese Lähmung besteht nun seit Jahren.

So sind in allen Bereichen einzelne Personen wie Leuchttürme verblieben, an denen sich Hoffnungen festmachen. Wer immer im Menschenrechtsbereich ein Anliegen an das Parlament hat, wendet sich seit Jahren an die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper. Ähnlich in der Zivilgesellschaft. Zwei große Kundgebungsserien mit (zig)tausenden Menschen gab es dieses Jahr, beide zentral dirigiert von der Einzelperson Daniel Landau unter dem Motto #yeswecare. Menschen wie Krisper und Landau sind herausragend und bemerkenswert und ihre Vorbildfunktion ist von unschätzbarem Wert, weil sie anderen Mut machen. Zugleich ist es ein Krankheitssymptom einer Gesellschaft, wenn Institutionen einbrechen und nur mehr einige wenige Einzelpersonen zur kraftvollen Aktion fähig sind.

Aus dieser breiten Krise wird es nicht so schnell einen Ausweg geben. Die wichtigen Regierungsprojekte wie Antikorruptionspaket, Transparenz für die Verwaltung oder Medienförderungsreform kommen nicht vom Fleck. Mit der offenkundigen Klimakatastrophe und den Folgen des Ukrainekriegs sind neue Herausforderungen entstanden, die für die aktuell Regierenden zu groß sind. Die an dieser Stelle (Falter 4/22) vorgeschlagenen Reformen, von Parlament bis Medien, zeichnen sich nicht ab. Im Gegenteil: die Coronapolitik zeigt die Selbstaufgabe von Regierung und Gesellschaft. Die Impfpflicht wurde eingeführt und gleich wieder abgeschafft, die zentrale Vorsichtsmaßnahme des Maskentragens aufgegeben, nach drei Jahren schaffen Politik und Verwaltung nicht einmal die Beschaffung von Luftfilteranlagen für die Schulen.

Österreich hat den letzten großen Modernisierungsschub und Aufbruch mit dem EU-Beitritt 1995 erfahren. Nun, bald dreißig Jahre später, warten alle auf einen neuen solchen Aufbruch – die meisten aktuellen Akteurinnen und Akteure in Spitzenpolitik und gehobener Verwaltung werden ihn nicht stemmen können.

Hoffnungslos? Nicht unbedingt. Die große Trauer nach dem Tod des Künstlers Willi Resetarits, die Anteilnahme am Ableben Lisa-Maria Kellermayrs zeigen die Sehnsucht nach integren Menschen, nach Engagement, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Es wird Zeit, dass wir von neuen Ideen überrascht werden. Wann wenn nicht jetzt sollen unkonventionelle Projekte Erfolg haben. Etwa ein Zusammenschluss der jüngeren Abgeordneten aller Parteien zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Reformprogramms für die großen Fragen Klima, Energie, Bildung; oder gleich als Wahlbündnis für die kommende Wahl, als einmalige Aktion, um die starren Strukturen aufzubrechen. Die Klimafrage sollte die Jugend verbinden, nachdem die letzten Generationen versagt haben. Und ist die große Politikverdrossenheit nicht gleichsam eine Aufforderung an zivilgesellschaftliche Gruppen, sich zu einem einmaligen Wahlbündnis zusammentun, um die große Leere in der politischen Mitte zu füllen, um viele potentielle Nichtwählerinnen und Nichtwähler doch zur Wahl zu bringen und eine Alternative zur umfragegeleiteten Politik vorzuleben? Die Bevölkerung kann zu Recht erwarten, dass sich auch in Verwaltung und Medien all jene zusammenschließen, die sich zurückgezogen haben, die aber in sich den Wunsch und die Leidenschaft tragen, ihren Beruf zum Besten von Land und Gesellschaft auszuüben. Zuletzt wurden leidenschaftliche, initiative Menschen wie Lisa-Maria Kellermayr, die etwas bewegen und verändern wollten, auch von Behörden zu Narren gestempelt. Möge der Tod Lisa-Maria Kellermayrs bewirken, dass wir innehalten und den Neubeginn angehen. Man muss das Rad nicht neu erfinden – mit Österreich vergleichbare Länder wie Finnland zeigen in Politik und Verwaltung vor, wie es gehen kann. Fangen wir an.

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Oliver Scheiber ist Jurist und einer der Proponenten des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens.

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