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Festrede beim 1. Christian Broda-Symposium am 27. Mai 2025 in Wien

5 vor 12: Gedanken zur Krise von Demokratie und Rechtsstaat

 

Sehr geehrte Festgäste!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist 65 Jahre her, dass Christian Broda erstmals zum Justizminister ernannt wurde. Dass der Name Christian Broda heute noch so präsent ist, zeugt von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Christian Broda hat mit den von ihm eingeleiteten Reformen des Familien- und Strafrechts die österreichische Gesellschaft in den 1970er-Jahren nachhaltig zum Positiven verändert. Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, die Festrede beim 1. Christian Broda-Symposium halten zu dürfen.

Das Thema der wehrhaften Demokratie bedeutet eine Herausforderung; werden doch derzeit weltweit darüber Bücher geschrieben und finden zahllose Veranstaltungen zum Thema statt. Und dennoch sind wir weit davon entfernt, ein Rezept zur Erhaltung und Stärkung der Demokratie zu haben.

Fest steht, dass die Demokratie global in der Krise ist. Das belegen die Zahlen. Der Demokratieindex 2024 des Economist etwa spricht davon, dass derzeit rund 45 % der Weltbevölkerung in einer Demokratie leben, jedoch insgesamt nur mehr rund 8 % der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie. Und 40 % leben demnach in einer Diktatur. Ein anderer Index, der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung, verzeichnete 2022 erstmals mehr autokratische als demokratische Staaten. Von 137 untersuchten Ländern waren im Jahr 2022 nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien stieg auf 70. Klar ist der Trend, dass von Jahr zu Jahr mehr Staaten von einem demokratischen System in Richtung eines autoritären Systems kippen.

Der folgende Vortrag geht auf drei Punkte ein:

  • auf die möglichen Ursachen der weltweiten Demokratiekrise
  • auf die Wehrhaftigkeit der Demokratie, und
  • drittens, am Ende, auf die Herausforderungen für Österreich in der laufenden Regierungsperiode, da uns ja vordringlich jener Bereich beschäftigen soll, den wir aktiv mitgestalten können.

Und damit zur ersten Frage, den Ursachen der Demokratiekrise. Da gibt es zunächst die ganz große geschichtliche Betrachtung. Die Geschichte erscheint als Abfolge von Phasen der Demokratie und der Diktatur, jede Demokratie gehe irgendwann unter, so wie auch jede Diktatur. Die Frage ist: können wir das durchbrechen, die Demokratie langfristig erhalten?

Der Zeitverlauf spielt in jedem Fall eine Rolle. Das Verständnis für die Bedeutung der Demokratie war in der Bevölkerung wohl leichter zu gewinnen, solange die Erinnerung an die Gräuel von Faschismus und II. Weltkrieg in den Familien durch eigenes Erleben oder die Erzählungen der Eltern und Großeltern noch präsent war. Nicht umsonst suchen wir derzeit alle nach Formaten, die Zeitzeug:innenberichte ersetzen können, eben weil die Vermittlung der Geschichte so wichtig ist, um künftigem Unglück vorzubeugen. Parallel beobachten wir eine Geschichtsvergessenheit vieler politischer Akteure, die damit auch die Bedeutung der Menschenrechtsordnung als Konsequenz aus Krieg und Faschismus nicht erfassen.

Eine ebenfalls oft genannte, wohl zentrale Mitursache der Demokratiekrise ist die ungleiche Verteilung von Vermögen. In diesem Zusammenhang spielt es meines Erachtens eine wichtige Rolle, dass der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa 1989 im globalen kollektiven Erleben weltweit fehlinterpretiert wurde. Der Zusammenbruch dieser Regime wurde nämlich als Versagen nicht nur kommunistischer, sondern vielmehr aller linken, sozialdemokratischen Ansätze interpretiert. So wurden zugleich die Schwächen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells übersehen und vernachlässigt. Es wurde übersehen, dass das kapitalistische Wirtschaftsmodell bereits 1989 genauso im Stadium des Versagens war, wie das kommunistische Modell. Der Kapitalismus hat dazu geführt, dass die Warnung des Club of Rome vom Anfang der 1970er-Jahre vernachlässigt wurden, und die Ausbeutung des Planeten zur Existenzbedrohung für die Menschheit führte, wie wir sie aktuell in den weltweiten Klimakatastrophen beobachten.

Es wurde auch verdrängt, dass die zunehmende Monopolisierung bei weltweit tätigen Konzernen zu Abhängigkeiten führt, und dass die Player eines ungeregelten kapitalistischen Systems dazu neigen, die Demokratie als hinderlich zu sehen. Nach 1989 war viel von den Oligarchen in den kommunistischen Nachfolgestaaten, vor allem in Russland und in der Ukraine, zu lesen. Das gleichzeitige Aufkommen der Oligarchen in der westlichen Welt wurde übersehen und ist erst jetzt mit den Eskapaden von Thiel, Musk und anderen im vollen Ausmaß sichtbar. Weltweit kaufen sich mittlerweile Oligarchen Politik, Politiker:innen und Medien. Unverdecktes Ziel ist es, die Märkte aufzuteilen und die Bodenschätze der Welt auszubeuten. Zu diesem Zweck schwächt diese Allianz von einzelnen Politiker:innen und Oligarchen demokratische Strukturen.

Die Sozialdemokratie ist der Fehlinterpretation des Untergangs der kommunistischen Systeme ebenfalls erlegen und hat mit dem so genannten dritten Weg der Sozialdemokratie zur eigenen Schwächung, aber auch zur Schwächung der Demokratie beigetragen, weil dadurch der Gedanke der gesellschaftlichen Solidarität und des Gemeinwohls vernachlässigt und zur Worthülse wurde. Die Linke ließ sich seit 1989 ohne Not in die Defensive drängen, waren doch die negativen Folgen ungeregelter Märkte bereits für Alle sichtbar.

Weiterer zentraler Faktor der Demokratiekrise ist, dass die Politik auf einmal mehr von den Berater:innen für die Öffentlichkeitsarbeit bestimmt war als von Fachexpertise. In vielen Parteien und Staaten wird mittlerweile bei jeder Entscheidung auf die aktuellen, oft wöchentlich eingeholten Umfragen geschielt. Inhalte und langfristige Folgen der Entscheidungen spielen immer weniger eine Rolle. Politiker:innen werden dadurch zu Politikdarsteller:innen; die Bevölkerung durchschaut das Spiel und wendet sich von der Politik ab. In Österreich steht die Ära Kurz für den Höhepunkt dieses Phänomens.

Die neue österreichische Bundesregierung bildet in ihren Anfangswochen ein Gegenmodell der Sachlichkeit. Der in einer besonders schwierigen Position befindliche Finanzminister nutzt seine Fachkompetenz, die Regierung verzichtet auf wechselseitige Angriffe und Angstmache; die Bevölkerung scheint es zu honorieren. Die Stadt Wien und die Wiener SPÖ setzen bereits seit langem auf positive Erzählungen und können damit punkten.

Das oft genannte Migrationsthema ist meines Erachtens nicht Ursache, sondern Symptom der Demokratiekrise, Die Forschung zeigt, dass die Quote migrierender Menschen in der Geschichte weitgehend konstant ist. Die Migration ist weder Ursache der ungerechten Vermögensverteilung noch eines überholten Bildungsmodells oder des Pflegenotstands. Im Gegenteil, die brutale Vorgangsweise an den Grenzen vergiftet die Gesellschaften, die dort ausprobierte staatliche Rohheit richtet sich zunächst gegen die Schwächsten, in der Folge gegen weitere Gruppen wie kritische Journalist:innen oder Jurist:innen.

Sehr wohl ein wichtiger Faktor der Schwächung der Demokratie ist eine mangelnde Medienvielfalt und die Rolle der Social Media. Die oft beschriebene Wirkungsweise der Algorithmen ermöglicht die manipulative Einflussnahme auf den gesellschaftlichen Diskussionsprozess, sogar auf Wahlkampagnen in anderen Ländern. Durch die Polarisierung und Verkürzung haben Social Media eine Tendenz, den letztlich auf Kompromiss angelegten Diskurs seiner demokratischen Gesellschaft zu zerstören. Sowohl für traditionelle Medien wie für Social Media-Plattformen gilt, dass eine Konzentration von Wirtschaftsmacht mit der Eigentümerschaft über bedeutsame Medien für die Demokratie gefährlich ist: der Erwerb von Twitter durch Elon Musk ist ein gutes Beispiel, dasselbe passiert aber auch nationaler und regionaler Ebene ebenso.

Für die USA spielt die Verbindung von Wirtschaftsmacht und Besitz von Medien eine zentrale Rolle für die Eskalation 2025, so wie der Wechsel von demokratischen zu autoritären Systemen in aller Regel zunächst von Angriffen auf unabhängige Medien und auf die Justiz geprägt ist. Das konnten wir in Ungarn genauso sehen wie in Polen, der Türkei oder Israel.

Für Europa stellt sich das zusätzliche Problem, dass die großen social media-Plattformen ihren Sitz in den USA und China haben. Die Europäische Union hat das Problem erkannt und mit dem Digital Services Act und anderen Rechtsakten erste Regulierungssysteme etabliert. Generell bleibt Europa für Länder wie Österreich die größte Hoffnung und stärkstes Asset im Kampf für die Demokratie. Auch gegenüber den USA hat die Europäische Union den Vorteil des großen Fachbeamtinnenapparats in Brüssel, Luxemburg und – wenn man den Europarat mitdenkt – in Straßburg. Es sind zehntausende hoch qualifizierte Beamtinnen, Experten, die leidenschaftlich Europäerinnen und Europäer und Anhängerinnen und Anhänger des europäischen Rechts und der Menschenrechtsordnung sind. Das könnte den Ausschlag dafür geben, dass Kerneuropa die aktuelle Krise der Demokratie meistert und gestärkt aus ihr hervorgeht.

Und das führt bereits zum zweiten Punkt, zur Wehrhaftigkeit der Demokratie. Einzuräumen ist, dass bisher kein taugliches Rezept zur Absicherung der Demokratie gefunden wurde. Die dramatische Entwicklung, die wir in diesem Jahr in den USA beobachten, hätte vor 15 Jahren wohl kaum jemand als realistisches Szenario gesehen. Tatsächlich ist es so, dass einerseits zwar Alarmismus keine gute Strategie ist. Zum anderen werden die Gefahren für die Demokratie aber nach wie vor sträflich unterschätzt. Martin Baron, Publizist und ehemaliger Chefredakteur der Washington Post, rechnet damit, dass es in den USA demnächst zu Anklagen von Journalisten kommen wird, um die Medien einzuschüchtern.

Baron sagt: „Es ist schlimmer geworden. Aber ich denke, es kommt noch schlimmer. Trump hat ein Asset: Gewalt, begleitet von Drohungen und Einschüchterung. Das macht er mit Universitäten, das hat er mit Rechtsanwälten gemacht, die Leute gegen ihn vertraten – und das macht er mit Journalisten.“

Ähnliche Szenarien haben Österreich noch vor wenigen Wochen gedroht, und sie können rasch wieder kommen. Der Künstler Philipp Ruch zeichnet in seinem Buch „Es ist 5 vor 1933“ die Parallelen zwischen den 1930er- Jahren und der Gegenwart auf erschreckende Weise nach. Dass dieser Gedanke nicht absurd ist, zeigt etwa die Rolle, die die österreichische Industriellenvereinigung in den Wochen der Regierungsbildung eingenommen hat.

Vielfach ist davon die Rede, dass es gilt, Institutionen von Rechtsstaat und Demokratie rechtzeitig zu stärken. Das ist zweifellos wichtig und richtig. Und dennoch ist nicht zu übersehen, dass neben den Strukturen die handelnden Personen eine Rolle spielen. Die beste Struktur knickt ein, wenn falsche Personen einmal in Machtpositionen kommen. Das Beispiel Donald Trump zeigt das. Strukturell gedacht gilt es, politische Systeme und Parteien so zu gestalten, dass die Feinde der Demokratie schon keine interne Karriere in einer Partei oder Bewegung machen. Aber auch dafür gibt es kein Rezept.

Jedenfalls ist es so, dass einzelne Staaten unterschiedlich resilient sind. Die für stark gehaltenen Institutionen der USA haben bisher überraschend schnell nachgegeben. Grund dafür ist wohl die geballte politische und wirtschaftliche Macht, die Trump, Musk und der weitere Kreis um den Präsidenten besitzen und die von ihnen genutzt wird, Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Verhaftung einer Richterin in den USA war aus Sicht der autoritären Führung ein zentraler Schritt. Er bricht die Widerstandskraft von Justiz und Jurist:innen auf breiter Ebene.

Um optimistischer zu bleiben können wir nach Italien blicken, wo Justiz und Richterschaft dem früheren Regierungschef Berlusconi über viele Jahre hin Widerstand gegen alle autoritären Bestrebungen leisteten und auch aktuell in der Frage eines Asylzentrums in Albanien die Gerichte hartnäckig den Rechtsstaat verteidigen; oder nach Polen, wo die Mitglieder des Verfassungsgerichts jahrelang gegen ihre Entmachtung ankämpften.

Ermutigend sind auch breite Proteste, wie wir sie in den letzten 20 Jahren immer wieder in Rumänien, in der Slowakei, in Israel und zuletzt in Serbien sehen konnten. Es sind dies starke Demokratiebewegungen. Gleichzeitig gilt es zu konstatieren, dass autoritäre Regierungen mittlerweile auch jahrelang Proteste aussitzen, wo in früheren Zeiten wohl eine oder zwei Massendemonstrationen gereicht hätten, eine Führung zum Abtritt zu veranlassen.

Schließlich stellt sich die Frage nach dem Verbot extremer Bewegungen. Die rechtliche Situation ist in Deutschland und Österreich unterschiedlich. Aus meiner Sicht ist ein Verbotsantrag zur AfD naheliegend. Das Recht muss auf alle gleich angewandt werden. Politischer Erfolg kann kein Argument dafür sein, im Gesetz vorgesehene Strafverfolgung oder Verbote auszusetzen.

Es ist bezeichnend, wenn Altkanzler Wolfgang Schüssel in einem Interview im Standard vor wenigen Tagen sich einerseits gegen eine von ihm spöttisch so genannte „Ausschließeritis“ von rechtsextremen Parteien ausspricht als auch sein Unverständnis für Korruptionsermittlungen der Justiz gegenüber Karl-Heinz Grasser und Sebastian Kurz ausdrückt. Sowohl Korruption als auch die mangelnde Abgrenzung konservativer Parteien zu Rechtsextremen sind zwei zentrale Ursachen der Demokratiekrise.

Bei der spezifisch österreichischen Situation mag eine Rolle spielen, dass eine Aufarbeitung des Austrofaschismus viel weniger erfolgt ist als das beim Nationalsozialismus der Fall war. Gerade in den letzten Monaten wurde wieder deutlich, dass sich Teile der Konservativen mit einem Bündnis mit Rechtsextremen leichter tun als mit einem Bündnis mit der Sozialdemokratie.

Damit zum letzten Abschnitt: Die Herausforderungen für Österreich in der laufenden Regierungsperiode.

Nach turbulenten Phasen innerhalb der letzten acht Jahre sollte uns die aktuelle Ruhe in der österreichischen Innenpolitik nicht täuschen. Die Dramatik der Regierungsbildung hat gezeigt, dass die Situation auch in Österreich ganz schnell kippen kann. Die FPÖ hat den Umbau des Staates in Richtung des ungarischen Modells unzählige Male angekündigt; sie wird ihn, ist sie an der Macht, mit großer Vehemenz umzusetzen versuchen. Dazu kommt, dass Demokratie und Rechtsstaat in Österreich in den letzten Jahren geschwächt wurden. Zum Teil aus der Regierung heraus, als der frühere Finanzminister Blümel dem Untersuchungsausschuss des Parlaments Akten verweigerte, bis ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom Bundespräsidenten exekutiert werden musste. Ein weiteres Mal, als das Bundeskanzleramt einer Anordnung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zur Datensicherung nicht nachgekommen ist. Auch diese Anordnung musste im Rechtsweg durchgesetzt werden. Beides sind in der Zweiten Republik einmalige Vorgänge. Je öfter sich so solche Vorfälle wiederholen, umso mehr werden Institutionen wie die Staatsanwaltschaften oder das Parlament geschwächt. Auch die Verzögerung der Besetzung hoher staatlicher Ämter, etwa bei der Bundeswettbewerbsbehörde über mehr als ein Jahr, wie sie unter der letzten Regierung passiert sind, schwächt die Institutionen.

Die Dramatik der Gefahr für die Demokratie sollte uns veranlassen, bei den Reformen mutiger zu werden. Das Modell der Parteiendemokratie entwickelt sich weltweit schlecht. Der Parteien- und Politikbetrieb beschäftigt sich mit selbst, die nahezu kompetenzlosen Landtage sind ein Beispiel dafür. Die Zusammensetzung des Nationalrats wird immer weniger repräsentativ – Arbeiter:innen und Angestellte sind kaum vertreten, geschweige denn die vielen prekär Beschäftigten. Ernsthaft reformieren würde bedeuten, kreative Reformideen, wie die teilweise Beschickung des Parlament mit durch Los bestimmte Bürger:innen, auszuprobieren – wie es sich ja bei der Wahl von Schöffen und Geschworenen bewährt hat;  es hieße, den Föderalismus zu reformieren, Bund und Gemeinden zu stärken und die Länderkompetenzen zurückzufahren, die Landtage abzuschaffen.

Die Achillesferse der österreichischen Demokratie ist meines Erachtens die Medienstruktur. Kaum ein Land der Welt gibt bezogen auf die Bevölkerung so viel Geld für Medien aus (dasselbe gilt für die Parteienförderung); zu einem kleineren Teil durch eine gesetzlich definierte Medienförderung, zu einem großen Teil durch Inserate öffentlicher Stellen. Über 400 Millionen Euro gaben öffentliche Stellen 2024 für Inserate aus. Besser eingesetzt könnte mit diesen Summen eine bunte, qualitativ hochwertige Medienlandschaft entstehen, in der etwa die zahlreichen neuen investigativen Podcasts und neuen Medienformate angemessen gefördert werden. Die aktuelle Vergabe von Inseraten wird nicht zu Unrecht als Inseratenkorruption bezeichnet, schafft sie doch Abhängigkeiten, die Demokratie und Rechtsstaat nicht zuträglich sind. Im Falle einer autoritären Wende hat eine Regierung wenig Widerstand aus den Medien zu erwarten, da keine starke unabhängige Medienlandschaft besteht und eine Gleichschaltung durch wirtschaftliche Erpressung oder vorauseilenden Gehorsam schnell eintreten wird. Die hohe Summe öffentlicher Gelder, die den Medien zufließt, ist also einfach falsch und schlecht eingesetzt. Die Ära Kurz zeigt es: sein Erfolg geht zu einem guten Teil auf das Wohlwollen der Medien zurück; die Inseratenausgaben der Regierung waren unter Kurz um ein Vielfaches höher als vor und nach seiner Zeit. Die Reform der Medienförderung, die Umleitung der Inseratengelder in eine echte Qualitätsförderung, ist eine zentrale Reformforderung.

Für die aktuelle Regierungsperiode stehen die Zeichen nicht schlecht. Der Ton der politischen Diskussion hat sich in den letzten Monaten versachlicht, die vor allem von der ÖVP gepflegte Message Control hat abgenommen. Das Regierungsteam ist, vor allem dank der SPÖ, personell so kompetent wie schon seit vielen Jahren nicht. Es ist ein wichtiges Signal und zugleich eine Stärkung der Demokratie, das Finanzministerium mit einem führenden Ökonomen, das Justizministerium mit einer Höchstrichterin zu besetzen und so weiter. Das Zeitfenster für strukturelle Reformen im Land in Zusammenarbeit von Regierung, Fachkreisen und Zivilgesellschaft wäre da.

Leitgedanke einer aktiven Demokratiepolitik muss es sein, Solidarität, Gemeinwohl und Hilfe für die Schwächsten in den Mittelpunkt zu stellen und den Primat der Politik über die Wirtschaftsmacht, sprich Konzerne und Oligarchen, wieder herzustellen. Die Vermögensverteilung ist im Auge zu behalten und die Gesellschaft ist, ganz im Sinne Christian Brodas, in allen Bereichen in Richtung mehr Gleichheit zu entwickeln. Es ist wichtig, eine gute Struktur für die Bundesstaatsanwaltschaft zu finden, um die Justiz tatsächlich unabhängig zu stellen. Es ist ebenso wichtig, im Verhältnis Regierung zu Parlament das Parlament zu stärken.

In den letzten Jahren ist es gelungen, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass viele Menschen in Österreich aufgrund des restriktiven Staatsbürgerschaftsrechts nicht wahlberechtigt sind. Die Demokratie kann dauerhaft nicht gut funktionieren, wenn bald die Hälfte der Bevölkerung in den Städten keine Beteiligungsmöglichkeiten hat. Wir müssen beharrlich daran arbeiten, mehr Menschen den Zugang zu Wahlen zu ermöglichen, und den Menschen ohne Wahlrecht andere Partizipationsformen zu eröffnen. Spanien liefert gerade ein Beispiel für mutige Politik, indem es rund eine Million Migrant:innen legalisiert – auch unter Hinweis auf deren wichtigen Anteil an der positiven Wirtschaftsentwicklung. In diesem Licht ist die vom österreichischen Kanzler mitgetragene Initiative zur Diskussion, ja Infragestellung der EGMR-Rechtsprechung doppelt bedauerlich.

Für viele Bereiche liegen Reformvorschläge auf dem Tisch, das Antikorruptions- und Rechtsstaatsvolksbegehren oder die Initiative bessere Verwaltung seien erwähnt.

Wir benötigen in jedem Fall breitere Ansätze als früher: wenn etwa der vorgesehene Verfassungskonvent eingerichtet wird, dann sollte das von einer groß angelegten Informationskampagne in der Öffentlichkeit, von breiten Fortbildungsmaßnahmen in Justiz und Polizei begleitet sein; aber auch zu einem Schwerpunkt in den Schulen und Universitäten genutzt werden.

Wir benötigen eine positive Erzählung, die dem destruktiven Diskurs der rechtsextremen und anderer extremistischer Bewegungen eine Perspektive für die Bevölkerung entgegensetzt. Es gilt also, Wahlversprechen wie den kurzfristigen Facharzttermin oder eine kostenlose Kinderbetreuung umzusetzen. Es sind die konkreten, im Alltag erlebbaren Maßnahmen, durch die Politik das Vertrauen in die Demokratie festigen kann. Das Ergebnis der Wahl in Wien vom April 2025 zeigt, dass die Bevölkerung Sachpolitik honoriert.

Ich möchte mit einem weiteren Zitat Martin Barons, des ehemaligen Chefredakteurs der Washington Post, abschließen. Er sagt aus Sicht des Journalismus: „Wir müssen unser Tun besser reflektieren. Ich glaube, wir haben uns zu wenig um normale Menschen gekümmert. Wir fragten uns: Wie haben wir 2016 nicht ahnen können, dass Trump gewinnen würde. Die Antwort ist: Wir haben die amerikanische Bveölkerung nicht verstanden, wir haben zu wenig Zeit investiert, sie und ihre Pronbleme und Verletzungen wirklich zu verstehen. Wir müssen sie wieder kennenlernen, sie fragen, was ihre Hoffnungen, ihre Träume und ihre Probleme sind. Die Menschen müssen spüren, dass wir mit ihnen verbunden sind – und dass wir gewillt sind, darüber zu berichten. Und wir müssen transparenter sein.“

Was Baron sagt, gilt wohl nicht nur für den Journalismus, und es gilt nicht nur für die USA. Sein Zugang ist wohl DAS Rezept auch für Europa: Wir benötigen Träume. Das Beispiel Christian Brodas kann uns ermutigen, an Visionen zu glauben. Im richtigen Zeitfenster sind sie auf einmal umsetzbar.

Links:

APA-Aussendung

Bericht zum Symposium

Fotos: BSA Niederösterreich

 

Wo der Demokratie Gefahr droht, ist Positionierung eine Pflicht – Gedanken zur Wahl

Meine Großmutter hat in ihrem Leben zwei Mal unter Verfolgung und Lebensgefahr durch politische Regime gelitten; unter dem Austrofaschismus und unter dem Nationalsozialismus. Unter den Nazis wurde ein Teil ihrer Familie ermordet, ein Teil konnte in die USA flüchten, ein kleiner Teil der Familie überlebte in Österreich. Meine Großmutter erzählte oft von den düsteren Jahren; meine Erinnerungen an ihre Erzählungen sind frisch.

Als in den 1980er-Jahren der Aufstieg Jörg Haiders und seiner FPÖ begann, sagte meine Großmutter nicht einmal: diese Töne, diese Reden bei Veranstaltungen, genau so hat es damals begonnen. Ich wünsche Euch, meinen Enkelkindern, dass es sich nicht so weiterentwickelt wie damals, und dass Euch solche Zeiten erspart bleiben.

Dieses Vorwissen hat mein Engagement für Rechtsstaat und unsere Menschenrechtsordnung, die ja das Ergebnis der Lehren aus Krieg und Faschismus ist, mitbestimmt.

Fast 40 Jahre sind seit Haiders Aufstieg vergangen, das Erstarken der FPÖ wiederholt sich immer wieder nach periodischen Rückschlägen. Mittlerweile verwendet die FPÖ ungeniert Begrifflichkeiten, die auch die Nationalsozialisten gerne gebrauchten, stellt die Menschenrechtskonvention in Frage, fordert Außerlandesbringungen von Menschen in größerer Zahl und nennt als Vorbild ihrer Politik immer wieder Ungarn unter Viktor Orban. Sich Ungarn unter Viktor Orban zum Vorbild zu nehmen bedeutet aber, eine Gesellschaft schaffen zu wollen, in der Antisemitismus und Fremdenhass den Ton angeben, in der es keine freien Medien mehr gibt, keinen unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und keine unabhängige Justiz. Es bedeutet schlicht die Abschaffung der Demokratie und der Freiheit, wie wir sie seit 1945 kennen.

Wir konnten in der jüngeren Vergangenheit gut beobachten, wie vor unserer Haustüre Demokratien kippen. Die Türkei, Ungarn, Polen, zuletzt Israel oder die Slowakei – der Wandel von der Demokratie zum autoritären Regime vollzieht sich manchmal langsamer, manchmal ganz rasch. Ich habe in Österreich viele öffentliche Diskussionen und Analysen zur Situation in den genannten Staaten gehört; die Kritikfähigkeit der österreichischen Teilnehmer:innen ist da gegeben; sie schwindet allzu oft, wenn es um die Beurteilung bedenklicher Entwicklungen im eigenen Land geht. Es ist nicht angenehm, sich mit den Schwächen des eigenen Landes auseinanderzusetzen und Gefahren zu benennen. Sich dadurch auch unbeliebt zu machen und dem billigen Anwurf der Nestbeschmutzung auszusetzen.

Die Zahl der Demokratien geht in den letzten Jahren weltweit laufend zurück. Österreichs Demokratie droht akute Gefahr dadurch, dass sich die einst staatstragende ÖVP inhaltlich, zum Teil auch in Worten von extremen Positionen nicht mehr (deutlich) abgrenzt. Die Demokratie gerät immer dann in Gefahr, wenn die Mehrheit aus der Mitte keinen Widerstand gegen extreme Positionen leistet. Genau das ist etwa mit den Republikanern in den USA passiert. Warnsignale gibt es in Österreich: die Weigerung des früheren Finanzministers Blümel, Akten an den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu liefern, war ein Tabubruch und deutliches Blinken in eine autoritäre Richtung. Ähnliches gilt für das Infragestellen hart erkämpfter Menschenrechte vor allem im Zusammenhang mit Flucht und Migration.

Unsere Apathie angesichts der möglichen autoritären Entwicklung ist bemerkenswert. Als ob wir aus der Geschichte nichts gelernt hätten, schauen alle dem Aufstieg rechtsextremer Positionen zu und richten sich auf eine autoritäre Gesellschaft ein. Manche unterschätzen wohl auch die Gefahr für die Demokratie, andere ziehen Schweigen vor, um es sich mit keinem zu verscherzen. Jetzt, wo es sich noch viele leisten könnten, wird viel zu wenig Widerspruch gegen autoritäre Ansinnen erhoben. Das Stillhalten wird oft mit der nötigen Neutralität und Unbefangenheit erklärt: Journalist:innen könnten sich nicht positionieren, Jurist:innen und Wiisenschaftler:innen könnten sich nicht positionieren, Lehrer:innen könnten sich nicht positionieren. Es ist ein großes Missverständnis: das Bekenntnis zur Demokratie und zu den Grundrechten kann kein falsches Bekenntnis sein und keine Befangenheit auslösen. Wo der Demokratie Gefahr droht, ist Positionierung eine Pflicht. Schon einmal ist die so genannte Mitte der Gesellschaft unbefangen und neutral und schweigend in Diktatur und Faschismus mitmarschiert.

Positionierung bedeutet fallweise auch die Notwendigkeit, sich zu bestimmten Parteien oder Politiker:innen zu bekennen. Die Stichwahl zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen war ein solcher Moment.
Jetzt geht es wieder um die Beteiligung rechtsextremer Positionen an der Macht. Sich nicht zu positionieren bedeutet, die Fehler der 1930er-Jahre zu wiederholen: am Ende will keiner am Unglück schuld gewesen sein, das durch rechtzeitiges Handeln zu verhindern gewesen wäre.

Die FPÖ hat im Vorfeld dieser Wahl Positionen bezogen, die mit dem nach 1945 entwickelten Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat nicht vereinbar sind. Die ÖVP schließt eine Koalition mit der FPÖ nicht aus. Es ist klar, dass eine Koalition dieser beiden Parteien die hohe Gefahr einer Beschädigung demokratischer Institutionen und des Abbaus demokratischer Freiheiten in sich trägt, dass der unabhängige Rundfunk und die unabhängige Justiz so gefährdet wären, wie in Ungarn oder der Slowakei.

Dazu kommt die Klimafrage: die Einsicht in die Dramatik der Lage und die Bereitschaft, ernsthaften Klimaschutz zu machen, wird für die Zukunft jedes Landes zentral sein.

Es ist unser aller Verantwortung und Pflicht, alles zur Bewahrung von Demokratie und Rechtsstaat zu unternehmen. Noch haben wir alle ein paar Tage Zeit, in unserem Umfeld zu informieren, aufzuklären und zu mobilisieren. Immerhin gibt es allein unter den fünf aktuellen Parlamentsparteien mit SPÖ, Grünen und Neos drei Parteien, die die Brandmauer gegen die extreme Rechte aufrecht erhalten und zusätzlich die Herausforderungen der Klimakrise in ihrer ganzen Dimension erfasst haben.

Gefahren für die Demokratie – Parlament, 12.9.2024

Überarbeitete Fassung des Statements beim überparteilichen Symposium des Netzwerks „Chance Demokratie“ im Parlament in Wien am 12.9.2024

Weltweit nimmt die Zahl der Demokratien in den letzten 20 Jahren ab. Mittlerweile lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung wieder in Staaten, die keine Demokratien sind.

Wir blicken alle deshalb so gespannt auf die US-Wahl 2024, weil wir wissen, dass es nicht bloß um die Entscheidung zwischen zwei Personen geht, sondern schlicht und einfach um das Weiterbestehen der Demokratie in einem der größten Länder der Welt.

Ist die Demokratie auch in Österreich gefährdet? Natürlich – wir haben das Kippen von Demokratien auch in Ungarn, Polen, in der Türkei, in Israel und zuletzt in der Slowakei beobachtet. Es wäre absurd zu denken, nur Österreich könne es nicht treffen. Manche Länder kippen schneller, manche nach einer langen Demokratiekrise – es ist aber immer ein schleichender Prozess, in dem Demokratien schwächer werden. Und es gibt Kipppunkte: sind entscheidende Institutionen des Staates markant geschwächt, dann gibt es irgendwann kein (so schnelles) Zurück mehr. Allen autoritären Kräften ist gemeinsam, dass sie bestimmte Player zuerst angreifen: die Justiz, die Medien, die beide für Rechtsstaat und Demokratie eine zentrale Rolle spielen. Die jüngsten Entwicklungen in der Slowakei – 50 Kilometer von Wien entfernt – sollten uns besonders zu denken geben: im Parlament liegt ein Misstrauensantrag gegen die Kulturministerin auf. Es kann aber über diesen Antrag nicht abgestimmt werden, weil die Regierungsabgeordneten nicht zu den Parlamentssitzungen erscheinen. Die Demokratie wird ausgehebelt.

Autoritäre Prozesse in Ungarn, Polen oder der Türkei wurden auch in österreichischen Fachkreisen genau beobachtet, analysiert und verurteilt. Es besteht also Wissen und auch Sensibilität bezüglich autoritärer Tendenzen – und dennoch verschließen wir in Österreich allzu gern die Augen vor verschiedentlichen Angriffen auf unsere demokratische Kultur. Viele wollen die Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land nicht wahrhaben. Dabei wären Achtsamkeit und Kritik so wichtig.

In den letzten Jahren mussten wir bereits mehrere Angriffe auf unser demokratisches und rechtsstaatliches System erleben. Etwa als der frühere Finanzminister Blümel Akten dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorenthielt, selbst nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (der Bundespräsident ließ das Urteil im Exekutionsweg durchsetzen); oder als das Bundeskanzleramt zuletzt einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung bis zur gerichtlichen Durchsetzung keine Folge leistete. Die Kritik der Fachkreise an diesem Vorgehen war viel zu verhalten – für vergleichbare Vorgänge in Nachbarländern hat und hätte man harte Worte gefunden. Die Vorgänge waren in der Zweiten Republik ohne Beispiel.

Eine Schwächung der Institutionen bedeutet auch die zuletzt praktizierte Verzögerung von Besetzungen höchster Ämter: die Leitung wichtiger Institutionen (Bundesverwaltungsgericht, Bundeswettbewerbsbehörde, Weisungsrat im Justizministerium) blieb über ein Jahr unbesetzt. Das mindert das Vertrauen in diese Einrichtungen ebenso wie die Motivation der dort arbeitenden Personen.

Nur über Druck der Zivilgesellschaft und der Expert:innenkreise wurden zwei Gesetzesvorschläge gestoppt, die zur faktischen Behinderung bzw Verhinderung von Korruptionsermittlungen geführt hätten: 2021 konnte das geplante Verbot von Hausdurchsuchungen in öffentlichen Dienststellen bei Korruptionsverfahren und 2024 der Gesetzesvorschlag zur Verlagerung der Zuständigkeit von Handyauswertungen von der Staatsanwaltschaft zur Polizei.

Zu wenig ernst genommen werden die Ergebnisse von Untersuchungskommissionen, wie zuletzt der Loderbauer- und der Kreutner-Kommission im Justizministerium. Es handelt sich um exzellente Evaluierungen; die Ergebnisse bedürfen aber einer Umsetzung, und die ist nicht absehbar. Die Verantwortung dafür trifft alle, nicht nur Ressortleiter:innen, sondern auch Berufsvertretungen und Mitarbeiter:innen im öffentlichen Dienst.

Was können wir nun in Österreich tun, um Demokratie und Rechtsstaat zu erhalten und zu stärken?

Es ist wohl an zwei Punkten anzusetzen:

  • Wir müssen versuchen, die demokratischen Strukturen zu stärken. Also etwa die Staatsanwaltschaften unabhängiger zu stellen und das Weisungsrecht eines Regierungsmitglieds gegenüber den Staatsanwaltschaften zu beseitigen. Oder eine Möglichkeit zur Abwahl des Parlamentspräsidenten vorsehen.

Für solche Reformen an den Strukturen könnte ein neuer Österreich-Konvent eingerichtet werden, der allerdings ganz anders aufgesetzt werden müsste als der gescheiterte Konvent der 2000er-Jahre.

  • Wir müssen die Personen für hohe, sensible Ämter besser auswählen. Die besten Regeln und Strukturen helfen nichts, wenn eine demokratische Grundhaltung fehlt und an sich selbstverständliche Umgangsformen im politischen Leben nicht eingehalten werden. Wir sehen seit Jahren einen fortschreitenden Verfall der politischen Kultur.

Die Zivilgesellschaft hat eine wichtige Rolle beim Erhalt der Demokratie. Wir haben in Italien einen langjährigen und erfolgreichen Widerstand gegen autoritäre Tendenzen des ehemaligen Ministerpräsidenten Berlusconis erlebt. Und wir verfolgen aktuell in Israel eine gewaltige Protestwelle gegen autoritäre Reformversuche Netanyahus. Und gleichzeitig sehen wir in Israel, Ungarn und Polen, wie schnell demokratische Errungenschaften verloren gehen und wie mühsam und langwierig es ist, sie zurückzuerkämpfen.

Wir dürfen uns auch in Österreich nicht zu sicher sein. Mit unserer heute noch gültigen Verfassung wurde in der Ersten Republik schon einmal die Demokratie verloren – der austrofaschistischen Regierung gelang es, binnen kurzer Zeit Parlament und Verfassungsgericht lahmzulegen. Armin Laschet hat vor kurzem in einer viel beachteten Rede nachgezeichnet, wie die Nationalsozialisten 1933 binnen zweier Monate Deutschland von einer Demokratie in eine Diktatur überführten – und das mit einem Stimmenanteil bei der vorangehenden Wahl von bloß 33%.

Wenn wir konkret den Justizbereich ansehen, so kann eine Ressortleitung, wenn sie das will, das Justizsystem binnen Wochen umbauen und etwa die zentralen Korruptionsermittlungen ins Leere laufen lassen: ein/e Justizminister/in kann etwa durch Weisungen zu weiteren Zeugeneinvernahmen, Rechtshilfeersuchen oder häufige Berichtsersuchen binnen kürzester Zeit jede Staatsanwaltschaft lahmlegen; oder auch durch die Nichtbesetzung der Stellen für Schreibkräfte. In Ungarn hat Viktor Orban am Beginn seiner Regierungszeit etwa ein Drittel der Richterschaft mit Geldzahlungen zum vorzeitigen Übertritt in den Ruhestand überredet und die Stellen mit regierungstreuen Personen nachbesetzt. Die Möglichkeit der Eingriffe ist groß.

In einer Situation, in der eine wahlwerbende Partei bereits ihre Orientierung an der Politik Orbans angekündigt hat, ist also sehr viel Achtsamkeit angebracht. Das ist die große Herausforderung: den richtigen Mittelweg zwischen zu wenig Achtsamkeit und Alarmismus zu finden. Dann ist es wichtig, bei der Auswahl der Persönlichkeiten für Schlüsselpositionen des Staates – Nationalratspräsident/in, Justizminister/in und Innenminister/in – dieses Mal ganz besonders achtsam zu sein. Und längerfristig müssten sich die Bemühungen um die Demokratie auf die Achillesferse der österreichischen Demokratie fokussieren: die Abhängigkeit der meisten Medien von Regierungsinseraten. Die Stärkung der Medienvielfalt und der Unabhängigkeit der Medien von der Regierung wird wohl zur Schlüsselfrage für den Erhalt der österreichischen Demokratie.

Standard-Blog Mut zum Recht: Alle Beiträge 2020/2021

Seit Dezember 2020 habe ich die Möglichkeit, für den Standard zu bloggen. Die bisher publizierten Beiträge sind hier zusammengefasst – die Original-Seiten des Standard enthalten zahlreiche thematische Links zu den Beiträgen.

Ich danke dem Standard-Team für die unkomplizierte Zusammenarbeit!

Standard-Seite:

  • https://www.derstandard.at/recht/blog-mut-zum-recht

Beiträge:

NEUER BLOG: MUT ZUM RECHT!

Mutige Rechtsanwendung: Der Richter, der den Diktator anklagte

Baltasar Garzón erließ Ende der 90er-Jahre einen internationalen Haftbefehl gegen Chiles ehemaligen Diktator Augusto Pinochet

Das Recht gilt als trocken, Juristinnen und Juristen oft als langweilig. Und tatsächlich gibt es Rechtsbereiche, die sind unsexy. Die Beschäftigung mit dem Recht an sich kann aber spannend sein. Das Recht bestimmt unsere Gesellschaft, und wer etwas verändern, verbessern will, der ist nicht selten auf rechtliche Mittel angewiesen – Klagen, Anträge, Beschwerden. Das Recht bietet uns Möglichkeiten, Tools, Werkzeuge, um die Dinge zu verändern. Das gilt für konkrete Sachverhalte, das Leben des Einzelnen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes – das Rechtsleben reicht von der Anzeige gegen den lauten Nachbarn über den Obsorgeantrag bis hin zum Volksbegehren. Empowerment gelingt oft im Wege des Rechts. Dass die Rechtswissenschaft diesen Aspekt selten betont, dass Behörden wie Bürgerinnen und Bürger sich mit eingeübtem Verwalten zufriedengeben, ist die andere Seite. Aber das muss ja nicht so bleiben.

Der Richter und der Diktator

Beginnen wir zu recherchieren, stoßen wir schnell auf Rolemodels, die uns zeigen, was das Recht so kann. Auf Baltasar Garzón zum Beispiel.

Garzón ist eine der herausragenden Richterpersönlichkeiten der Gegenwart. Als Untersuchungsrichter in Spanien griff er aus eigener Initiative zahlreiche Fälle auf. Er tat, was jedes andere Justizsystem der Welt auch hätte tun können – unter Berufung auf das Weltstrafrecht erließ er einen Haftbefehl gegen den früheren Diktator Chiles, Augusto Pinochet, wegen Folter und Ermordung spanischer Staatsangehöriger (Pinochet hielt sich in Großbritannien auf, das seine Rückreise nach Chile ermöglichte).

2012 wurde über Garzón ein elfjähriges Berufsverbot wegen Rechtsbeugung verhängt. Heute berät er Julian Assange in Rechtsfragen.
Foto: EPA/NEIL HALL

Garzón initiierte zahlreiche weitere spektakuläre Ermittlungen – unter anderem gegen die Führung der früheren Militärdiktatur Argentiniens, gegen Mitglieder der Terrororganisation Al-Kaida, aber auch gegen Verantwortliche des US-Anhaltelagers Guantánamo wegen des Verdachts der Folter. Gegen den früheren Ministerpräsidenten Italiens, Silvio Berlusconi, strengte Garzón ein Korruptionsverfahren an. Als Garzón begann, wegen Verbrechen der Franco-Diktatur zu ermitteln, fiel er in Spanien in Ungnade – er wechselte schließlich zum Internationalen Strafgerichtshof. Seine Leistungen wurden mit 21 Ehrendoktoraten, bis auf eines alle von nichtspanischen Universitäten verliehen, gewürdigt. (Oliver Scheiber, 9.12.2020)

MUT ZUM RECHT!

Gesunkene Schiffe und Social-Media-Kraken: Vorbilder im Rechtsbereich

Max Schrems gegen Facebook oder der Prozess gegen Udo Proksch – auch in Österreich gibt es außergewöhnliche Rechtsverfahren

Im letzten Blogbeitrag war von Baltasar Garzón die Rede, dem spanischen Untersuchungsrichter, der gegen lateinamerikanische Diktatoren, gegen Berlusconi und die Täter des Franco-Regimes ermittelt hatte. Sehen wir uns in Österreich um, dann stoßen wir auf gar nicht wenige Juristinnen und Juristen, die oft im Alleingang aus gewohnten Bahnen ausbrechen und zur Rechtsentwicklung beitragen oder juristische Durchbrüche bewirken.

Schiff versenkt!

Etwas länger zurück liegt das sogenannte Lucona-Verfahren. Ende der 1980er-Jahre erhob die Staatsanwaltschaft Wien Anklage gegen Udo Proksch, Liebling der Wiener Szene und eng verbunden mit roten Regierungskreisen. Die Anklage warf ihm mehrfachen Mord vor – Proksch sollte einen Versicherungsbetrug begangen haben, indem er ein hoch versichertes Schiff, die Lucona, vorsätzlich zum Untergang gebracht hätte. Freilich lag zu Beginn der Hauptverhandlung nur eine Indizienkette vor, denn das Schiff war bis dahin weder gesucht noch gefunden worden. Der Richter der Hauptverhandlung, Hans-Christian Leiningen-Westerburg, holte nach, was die Staatsanwaltschaft verabsäumt hatte: Er beauftragte die US-Firma Oceaneering mit der Suche nach dem Schiff, fuhr selbst am Suchschiff mit und tatsächlich – nach einigen Wochen fand man die Lucona am Boden des Indischen Ozeans, die Sprengung des Schiffes war bewiesen. Damit war der Prozessausgang vorgegeben, Proksch wurde wegen Mordes verurteilt.

Einsprachig zu schnell gefahren

Von der Justiz zur Anwaltschaft: Seit 1955 sollten in Kärntens zweisprachigen Gemeinden slowenisch-deutsche Ortstafeln stehen, Österreich kam dieser Verpflichtung lange nicht nach. Vor rund 20 Jahren erhielt der Kärntner Rechtsanwalt Rudi Vouk, Angehöriger der slowenischen Volksgruppe, ein Strafmandat wegen Schnellverfahrens im Ortsgebiet einer zweisprachigen Gemeinde. Das brachte ihn auf eine Idee: Er bekämpfte das Strafmandat mit dem Argument, die einsprachige Ortstafel sei eine nicht gehörig kundgemachte Verordnung, das Ortsgebiet hätte zweisprachig ausgeschildert sein müssen, um eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h festzulegen. Er sei, so argumentierte Vouk, 60 km/h gefahren, wo er von Rechts wegen 100 km/h hätte fahren dürfen. Nach vielen Jahren landete der Fall beim Verfassungsgerichtshof, der entschied: Die Ortstafel hat zweisprachig zu sein – was die Republik Österreich noch immer nicht zur Umsetzung der Verpflichtung aus dem Staatsvertrag veranlasste.

Gegen die Datenkraken

Eine wahre David-Goliath-Geschichte sind die Verfahren, die der österreichische Jurist Max Schrems in den letzten zehn Jahren gegen den Facebook-Konzern angestrengt hat. 2015 hob der Europäische Gerichtshof über Betreiben von Schrems das Abkommen zum Datentransfer aus der EU in die USA auf (Safe-Harbor-Abkommen); im Sommer 2020 kippte der Europäische Gerichtshof die EU-US-Datenschutzvereinbarung „Privacy Shield“. Diese Verfahren haben ganz maßgeblich zur Sensibilisierung für die von Facebook praktizierte Weitergabe und Verwertung privater Daten beigetragen und sie etwas eingedämmt.

Max Schrems kämpft seit zehn Jahren gegen Facebook und dessen Daten-Policy.
Foto: EPA/JULIEN WARNAND

Die Reihe ließe sich fortsetzen; beharrliche und kreative Anwendung des Rechts bewirkt oft über das Einzelverfahren hinausgehende gesellschaftliche Fortschritte und Korrekturen. So wie der Weg zur Gleichheit nicht nur über Gesetze, sondern auch viele Klagen, Verfahren und Urteile führt, so wird etwa die Klimakrise neue Wege erfordern, innerhalb und außerhalb des Rechts. Und Persönlichkeiten mit Kreativität und Mut. (Oliver Scheiber, 16.12.2020)

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Was bedeutet es, im Gefängnis zu sein?

Heute ist man nicht nur von der Familie oder Freunden getrennt, sondern auch von der digitalen Welt ausgeschlossen

Wir alle fühlen uns im Lockdown eingesperrt. Nicht ins Café oder Gasthaus dürfen, kein Zusammensein mit Freundinnen und Freunden, keine Möglichkeit, ins Theater zu gehen oder ins Ausland zu reisen. Obwohl viele von uns zur Arbeit gehen und wir Spaziergänge machen, fühlt es sich doch nach einer starken Beschränkung an. Social Media und Smartphone bekommen noch mehr Bedeutung als in gewöhnlichen Zeiten.

Apropos Smartphone: Wenn wir unser Smartphone verlegen, bringt uns das schnell aus der Fassung. Suchen wir es eine Viertelstunde lang vergeblich, macht das die meisten von uns nervös. Haben wir das Handy zu Hause vergessen, dann stört das in der Regel unseren Tagesablauf im Job oder auf der Uni: Kontaktdaten sind nicht zur Hand, wir können Nachrichten von Kollegen, Kindern, Partnern, Eltern nicht empfangen.

Eingesperrt

Hält man sich all das vor Augen, wird schnell klar, was eine Haftstrafe heute bedeutet: eingesperrt in einen kleinen Raum, im besten Fall in eine Wohngemeinschaft. Für Monate. Oder Jahre, manchmal viele Jahre. Abnabelung von der Welt, vor allem von der eigenen Welt, der Familie, von Freundinnen und Freunden. Rund 9.000 Menschen sind in Österreich in Haft, rund 2.000 davon in Untersuchungshaft, der Rest als verurteilte Täterinnen und Täter im Strafvollzug oder im Maßnahmenvollzug für psychisch kranke Straftäterinnen und Straftäter.

Gefängnis bedeutet, eingesperrt zu sein. In den einzelnen Justizanstalten herrschen unterschiedliche Bedingungen, allein aufgrund der räumlichen Gegebenheiten. Sehr verbreitet ist die Unterbringung in Mehrbettzellen, obwohl Europaratsstandards ein Recht auf Einzelunterbringung vorsehen. Untertags gibt es öfter die Möglichkeit, sich in einem größeren Gangbereich frei zu bewegen. Der Personalmangel der Justizanstalten führt aber zu langen Einschlusszeiten – viele Insassen sind also 16 Stunden am Tag in der Zelle eingeschlossen. Das bedeutet, die meiste Zeit auf engem Raum zu verbringen – Fernsehkonsum wird zur Hauptablenkung und Hauptbeschäftigung. Das Abendessen wird oft am späten Nachmittag ausgegeben, das Licht zu früh abgedreht.

Justizanstalt Wien-Simmering.
Foto: Robert Newald(Robert Newald Photo)/derstandard

Ausgeschlossen vom Internet

Immer wieder werden Smartphones in die Gefängnisse geschmuggelt. Die Regel aber ist: Gefängnisinsassen haben weder Smartphone noch Internetzugang. Damit entfällt das, was sonst zu unser aller Leben gehört: Fotos der Kinder und Partner zu erhalten, auf Social Media mitzuverfolgen, was Freunde und Angehörige so machen. Es entfällt die Möglichkeit, Onlinemedien zu konsumieren oder sich im Internet fortzubilden, vielleicht sogar ein Fernstudium zu absolvieren. Auf diese Weise unterscheiden sich das Leben in und außerhalb des Gefängnisses noch stärker voneinander, als das in früheren Zeiten der Fall war: Zum Abgeschnittensein von der realen Welt mit ihrer hohen Geschwindigkeit und Mobilität kommt noch der Ausschluss aus der digitalen Welt. Häftlinge müssen so zwangsläufig den Anschluss verlieren: an ihre Familie, ihre Partner, an die Entwicklung der Welt. All das macht den Wiedereinstieg in den Alltag nach der Haftentlassung unnötig schwierig. An den Feiertagen wird das deutlich: irgendwann ein kurzer persönlicher Besuch im Gefängnis, aber keine Möglichkeit, SMS zu empfangen, Smileys zu schicken, über Video zu telefonieren. Kein E-Mail, kein Whatsapp, kein Facebook oder Insta.

Diese Rahmenbedingungen erschweren die Resozialisierung und erhöhen die Rückfallgefahr. Erste Staaten haben das erkannt und überlegen, wie man, die Missbrauchsgefahr gering haltend, Häftlingen den Zugang zu Internet und Smartphone ermöglichen kann. Die Schweiz und Frankreich arbeiten an Pilotprojekten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht kein allgemeines Recht auf Internetzugang für Häftlinge, gewährt den Zugang aber in begründeten Einzelfällen. Jedoch: Die Rechtsprechung ist wohl im Fluss. (Oliver Scheiber, 8.1.2021)

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Abhängige Staatsanwaltschaften: Das schwächliche System

Es braucht unabhängige Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, um gegen Korruption vorgehen zu können

Eine gemeinsame Recherche von STANDARD, „Profil“ und „ZiB 2“ brachte vergangene Woche neue Turbulenzen innerhalb des Justizsystems zutage. Das sind schlechte Nachrichten, denn erfolgreiche Korruptionsverfolgung braucht vor allem Ruhe und Entschlossenheit innerhalb der Strafverfolgung.

Die aktuellen Kalamitäten, die sich nun seit Jahren aufbauen und auch öffentlich ausgebreitet werden, sind in der Struktur des österreichischen Staatsanwaltschaftssystems angelegt. Dass sie erst jetzt so öffentlich werden, ist allein dem Geschick früherer Funktionsträger zuzuschreiben.

Berichte nach oben

Worum geht es? Richterinnen und Richter sind unabhängig; sie müssen niemandem berichten und sind an keine Weisungen gebunden. Ganz anders ist es bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten: Sie sind weisungsgebunden, eine lange Kette prüfender Stellen steht über ihnen. Am Ende der Weisungskette steht der Justizminister. Ermittelt eine Staatsanwältin etwa gegen den Finanzminister und plant Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Festnahmen, dann ist sie bei diesen Ermittlungen an Weisungen des Justizministers gebunden – und muss laufend alle Schritte nach oben berichten, was zu erheblichen Verzögerungen führt und auch viel Raum für das Hinausdringen von Informationen aufmacht. Vor allem die vielen Berichte in politisch heiklen Causen demotivieren Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und binden Ressourcen, die für die Ermittlungen gebraucht würden. Eine der stärksten österreichischen Staatsanwältinnen hat vor kurzem das Handtuch geworfen – wenig verwunderlich.

Zur Weisungsgebundenheit kommt ein zweiter Punkt, der in der Diskussion meist übersehen wird: Das Justizministerium entscheidet auch über die Karrieren von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Junge Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden, wenn sie nicht mit Naivität geschlagen sind, gemischte Gefühle haben, wenn sie gegen Parteikollegen oder Regierungspartner des aktuellen Justizministers ermitteln.

Das Justizministerium muss den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Glaubwürdigkeit wieder herstellen

Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften vom Justizminister beziehungsweise der Justizministerin schwächt das System der öffentlichen Anklage, ganz besonders naturgemäß im Bereich der Verfolgung von Korruption und Wirtschaftskriminalität. Eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Politik gibt es außer in Österreich nur mehr in Deutschland; dort arbeitet man an einer Reform. Alle anderen EU-Mitglieder haben ihren Staatsanwaltschaften bereits mehr politische Unabhängigkeit eingeräumt – mit dem österreichischen System wäre ein EU-Beitritt heute nicht mehr denkbar, es entspricht nicht mehr rechtsstaatlichen Standards.

Das aktuelle Regierungsprogramm will den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen – die aktuellen Vorgänge zeigen, es ist fünf vor zwölf. Die Regierung muss, will sie in der Korruptionsbekämpfung glaubwürdig bleiben, rasch handeln. Es gibt unterschiedliche Vorbilder für eine Reform, bis hin zum italienischen Modell, das am weitesten geht und unter dem Aspekt entschlossener Ermittlungen gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität am überzeugendsten ist: völlig unabhängige Staatsanwaltschaften. Diese Unabhängigkeit hat es Italiens Staatsanwaltschaften ermöglicht, dass vor wenigen Tagen der größte Mafiaprozess seit mehr als 30 Jahren starten konnte. Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri klagte mehr als 350 Mafiosi an. Die Kontrolle der Staatsanwaltschaften ist auch in einem solchen Modell garantiert: Denn das gesamte staatsanwaltschaftliche Handeln steht immer unter der Kontrolle der Gerichte. Es braucht keine Bürokratien, die engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern Hölzer zwischen die Beine werfen und sie an die Leine nehmen. (Oliver Scheiber, 20.1.2021)

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Abhängige Staatsanwaltschaften: Das schwächliche System

Es braucht unabhängige Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, um gegen Korruption vorgehen zu können

Eine gemeinsame Recherche von STANDARD, „Profil“ und „ZiB 2“ brachte vergangene Woche neue Turbulenzen innerhalb des Justizsystems zutage. Das sind schlechte Nachrichten, denn erfolgreiche Korruptionsverfolgung braucht vor allem Ruhe und Entschlossenheit innerhalb der Strafverfolgung.

Die aktuellen Kalamitäten, die sich nun seit Jahren aufbauen und auch öffentlich ausgebreitet werden, sind in der Struktur des österreichischen Staatsanwaltschaftssystems angelegt. Dass sie erst jetzt so öffentlich werden, ist allein dem Geschick früherer Funktionsträger zuzuschreiben.

Berichte nach oben

Worum geht es? Richterinnen und Richter sind unabhängig; sie müssen niemandem berichten und sind an keine Weisungen gebunden. Ganz anders ist es bei Staatsanwältinnen und Staatsanwälten: Sie sind weisungsgebunden, eine lange Kette prüfender Stellen steht über ihnen. Am Ende der Weisungskette steht der Justizminister. Ermittelt eine Staatsanwältin etwa gegen den Finanzminister und plant Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Festnahmen, dann ist sie bei diesen Ermittlungen an Weisungen des Justizministers gebunden – und muss laufend alle Schritte nach oben berichten, was zu erheblichen Verzögerungen führt und auch viel Raum für das Hinausdringen von Informationen aufmacht. Vor allem die vielen Berichte in politisch heiklen Causen demotivieren Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und binden Ressourcen, die für die Ermittlungen gebraucht würden. Eine der stärksten österreichischen Staatsanwältinnen hat vor kurzem das Handtuch geworfen – wenig verwunderlich.

Zur Weisungsgebundenheit kommt ein zweiter Punkt, der in der Diskussion meist übersehen wird: Das Justizministerium entscheidet auch über die Karrieren von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Junge Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden, wenn sie nicht mit Naivität geschlagen sind, gemischte Gefühle haben, wenn sie gegen Parteikollegen oder Regierungspartner des aktuellen Justizministers ermitteln.

Das Justizministerium muss den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Glaubwürdigkeit wieder herstellen

Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften vom Justizminister beziehungsweise der Justizministerin schwächt das System der öffentlichen Anklage, ganz besonders naturgemäß im Bereich der Verfolgung von Korruption und Wirtschaftskriminalität. Eine Weisungsgebundenheit gegenüber der Politik gibt es außer in Österreich nur mehr in Deutschland; dort arbeitet man an einer Reform. Alle anderen EU-Mitglieder haben ihren Staatsanwaltschaften bereits mehr politische Unabhängigkeit eingeräumt – mit dem österreichischen System wäre ein EU-Beitritt heute nicht mehr denkbar, es entspricht nicht mehr rechtsstaatlichen Standards.

Das aktuelle Regierungsprogramm will den Staatsanwaltschaften mehr Unabhängigkeit einräumen – die aktuellen Vorgänge zeigen, es ist fünf vor zwölf. Die Regierung muss, will sie in der Korruptionsbekämpfung glaubwürdig bleiben, rasch handeln. Es gibt unterschiedliche Vorbilder für eine Reform, bis hin zum italienischen Modell, das am weitesten geht und unter dem Aspekt entschlossener Ermittlungen gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität am überzeugendsten ist: völlig unabhängige Staatsanwaltschaften. Diese Unabhängigkeit hat es Italiens Staatsanwaltschaften ermöglicht, dass vor wenigen Tagen der größte Mafiaprozess seit mehr als 30 Jahren starten konnte. Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri klagte mehr als 350 Mafiosi an. Die Kontrolle der Staatsanwaltschaften ist auch in einem solchen Modell garantiert: Denn das gesamte staatsanwaltschaftliche Handeln steht immer unter der Kontrolle der Gerichte. Es braucht keine Bürokratien, die engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern Hölzer zwischen die Beine werfen und sie an die Leine nehmen. (Oliver Scheiber, 20.1.2021)

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Wo bleibt eine unabhängige Kontrolle der Polizei?

Vorwürfe gegen polizeiliches Handeln führen kaum zu Verurteilungen. Es fehlt eine unabhängige Kontrollinstanz in Österreich

Anfang dieses Jahres starb eine Wiener Pensionistin in ihrer Wohnung durch Schüsse von Wega-Beamten. Was genau passiert ist, werden Ermittlungen zeigen. Die meisten Berichte stimmen darin überein, dass die Frau psychisch krank und pflegebedürftig war und sehr zurückgezogen in ihrer Wohnung lebte. Als ihre Pflegerin an einem der ersten Jännertage zur Wohnung der Frau kam, öffnete die Pensionistin mit einem Messer in der Hand. Die Heimhilfe verständigte die Polizei. Die lokalen Polizeibehörden zogen die Wega bei. Nach Polizeiangaben öffnete die Frau auch der Polizei mit dem Messer in der Hand und attackierte Beamte, woraufhin tödliche Schüsse fielen. Es erinnert an Szenarien, wie wir sie aus den USA kennen und kritisieren.

Es gibt für den Staat kaum schlimmere Szenarien, als wenn Bürgerinnen oder Bürger durch Waffengewalt sterben. Der aktuelle Fall erinnert uns an ganz allgemeine Fragestellungen: Wie soll unsere Polizei ausgebildet und ausgestattet sein, welche Strategien verfolgt sie, und wie wird sie kontrolliert?

Vorbild und Eskalation

Die österreichische Polizei leistet in vielen Bereichen exzellente Arbeit. Im Bereich der häuslichen Gewalt sind spezialisierte Beamtinnen und Beamte rasch vor Ort, das Modell des österreichischen Gewaltschutzgesetzes war vielen anderen Staaten bereits ein Vorbild. Von einem aufgeklärten und menschenrechtlich geprägten Zugang her sind Polizeistrategien zu bevorzugen, die auf gute Ausbildung, gute Kommunikation und deeskalierende Zugänge der Polizei setzen. Das umfasst etwa auch Fragen der Uniform, der Farbgestaltung von Uniformen und so weiter – Studien zeigen, welchen Einfluss Uniform und Auftreten der Polizei haben. Sowohl im lokalen Bereich, also in der Grätzelarbeit, als auch zum Beispiel bei Demonstrationen bewähren sich deeskalierende Polizeistrategien.

Bei allen Tendenzen zur Aufrüstung und Militarisierung von Polizeibehörden sollten wir stutzig werden – sie setzen meist eine Eskalationsspirale in Gang, die zu einer hohen Zahl an Zwischenfällen und Gewalt führt. Evaluiert man den aktuellen Fall der getöteten Pensionistin, so scheint die Schlüsselentscheidung jene gewesen zu sein, die Sondereinheit Wega beizuziehen. Man wird sich fragen müssen, ob nicht, in Kenntnis der Tatsache, dass die Frau psychisch krank war, die Beiziehung eines psychologischen Diensts naheliegender gewesen wäre als die Einbindung der Wega. Denn die Frau war in ihrer Wohnung, es gab keinerlei dringenden Handlungsbedarf.

Waffengewalt führt unweigerlich zu einer Diskussion über die Ausbildung und die Kontrolle der Polizei in Österreich.
Foto: APA/WOLFGANG SPITZBART

Mehr Effizienz und Sensibilität bei der Kontrolle der Polizei

Damit sind wir beim Thema der Kontrolle polizeilichen Handelns. Bei dem Thema tritt man in Österreich seit Jahrzehnten auf der Stelle. Nur eine sehr geringe Zahl von Vorwürfen gegen die Polizei führt zu Verurteilungen – internationale Stellen haben oftmals gerügt, dass es an einer unabhängigen Untersuchungsstelle fehlt. Die Politik konnte sich bisher nicht entschließen, polizeiliches Handeln von rechtlich und faktisch unabhängigen Organen untersuchen zu lassen – vor allem in den wichtigen ersten Stunden und Tagen nach einem Zwischenfall. Das aktuelle Regierungsprogramm sieht immerhin schon die „Ausarbeitung einer Reform des Rechtsschutzes mit dem Ziel der europa- und verfassungsrechtlich geforderten Unabhängigkeit der Kontrollinstanz“ vor. Im gegenständlichen Fall wurde die Untersuchung des Vorfalls von der Wiener Polizei an steirische Polizeibehörden abgegeben. Eine ganz andere Qualität und Vertrauensbasis hätte es zum Beispiel, wenn die zuständigen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte von der ersten Stunde an die Ermittlungen übernommen und Vernehmungen selbst geführt hätten – die österreichische Strafprozessordnung würde dies jetzt schon erlauben und nahelegen.

Und auch wenn es die Frau nicht mehr ins Leben zurückholt und nur ein Nebenaspekt sein mag: Dass die Polizeispitze nach einem solchen Vorfall kein Wort des Bedauerns und des Beileids findet, vielmehr eine psychisch kranke alte Frau via Pressearbeit zur „Täterin“ stigmatisiert, passt nicht zu unserer Republik und tut weh. (Oliver Scheiber, 25.1.2021)

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Gefährlicher Spitzensport: Wo die Vernunft auslässt, muss der Gesetzgeber eingreifen

Beim Hahnenkammrennen setzen die Verantwortlichen auf Spektakel statt auf Sicherheit. Gesetze sollen die Sportler schützen

Das traditionelle Hahnenkammrennen in Kitzbühel hat dieses Jahr mehrere schwer verletzte Sportler gefordert. Dass das so kam, geht auf grobe Fahrlässigkeiten zurück – es ist Zeit, einen Schutz der Sportlerinnen und Sportler auf gesetzlicher Ebene anzudenken.

Was ist passiert? Die Streif ist eine der spektakulärsten Skirennstrecken der Welt. Doch Steilhang und Mausefalle reichen nicht aus, der Sprung kurz vor dem Ziel wird zur weiteren Schlüsselstelle ausgebaut. Bereits 2008 und 2009 forderte der Zielsprung mit dem US-Amerikaner Scott Macartney und dem Schweizer Daniel Albrecht zwei Opfer. Beide Sportler erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma, Albrecht lag mit Lungenquetschungen drei Wochen im Koma.

2021 fand das Hahnenkammrennen ohne Publikum vor Ort statt, es wurde zum reinen Fernsehereignis. Man kann streiten, ob die Durchführung von Sportereignissen während des Lockdowns sinnvoll ist, es gibt gute Argumente dafür und dagegen. Bereits im Training zur Abfahrt warnten die weltbesten Abfahrer nach dem Abschwingen vor den Gefahren des Zielsprungs. Der Franzose Johan Clarey stürzte im Training bei einer Geschwindigkeit von rund 140 km/h als Erster am Zielsprung, blieb aber unverletzt. Spitzenathlet Dominik Paris meinte nach dem Training: „Kurz vor dem Absprung ist eine ganz leichte Welle. Wenn man da vorspringt, bekommt man Luft von unten, und es wird ziemlich hoch. Da wird man ein bisschen abtragen müssen. Wenn man im Rennen mit Vollgas hinfährt, dann wird das zu weit.“ Der Österreicher Max Franz schloss sich ihm an: „Mir war gestern der Zielsprung schon zu weit. Sie haben aber gesagt, sie haben was dran gemacht. … Bei diesem Sprung wird es gefährlich. …Weit springen können wir, aber solche Sachen dürfen nicht passieren.“

Das Rennen selbst am Freitag musste nach Stürzen mehrmals unterbrochen werden. Nach dreieinhalb Stunden sind erst 28 Läufer im Ziel, und der Bewerb wird abgebrochen. Der US-Amerikaner Ryan Cochran-Siegle und der Schweizer Urs Kryenbühl wurden nach schweren Stürzen mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, Kryenbühl war am Zielsprung verunglückt.

Florian Schieder auf der Streif, die in diesem Jahr wieder einige Verletzte forderte.
Foto: AFP/JOE KLAMAR

Schutz der Spitzensportler

Medien schrieben: „Wieder einmal war die Streif ihrem Ruf als weltweit gefährlichste Strecke gerecht geworden.“

Zurück bleibt ein schaler Nachgeschmack. Sportereignisse ohne Publikum vor Ort haben ohnedies etwas Gespenstisches. In diesem Rahmen, inmitten des Lockdowns, wirkt das Aufbereiten der Strecken für ein Spektakel mit immer höheren Geschwindigkeiten und weiteren Sprüngen und damit für mehr Risiko und mehr Gefahren für die Sportler noch absurder. Die Sportler hatten im Vorfeld deutlicher als sonst vor den Gefahren gewarnt, die Topleute hatten das Risiko übereinstimmend als zu hoch eingeschätzt und lagen richtig. Die Gier der Verantwortlichen nach spektakulären Fernsehbildern und damit höheren Quoten und noch besseren Vermarktungsmöglichkeiten in Zukunft war offenbar stärker – es wäre ja kein großes Problem gewesen, den Zielsprung abzugraben oder durch die Kurssetzung davor die Geschwindigkeit deutlich herabzusetzen.

Man kann nicht alles gesetzlich regeln und beschränken. Schon gar nicht im Sport, wo sich Menschen bewusst einem Risiko aussetzen. Aber im Spitzensport wird häufig zu leichtfertig mit Leben und Gesundheit der sportlichen Akteurinnen und Akteure umgegangen. Ganz offenkundig ist der Druck auf die Sportlerinnen und Sportler so hoch, dass sie ihre Experteneinschätzungen gegen die wirtschaftlichen Interessen nicht durchsetzen können. Deshalb sollte der Gesetzgeber auch hier eingreifen. Es geht darum, Leben und Gesundheit der Sportler zu schützen, aber auch für die Öffentlichkeit und gerade die Jugend ein Signal zu setzen, dass den Risiken für Leben und Gesundheit grundsätzlich, auch in diesem öffentlichen Rahmen der Großveranstaltung, Grenzen gesetzt sind. Die rechtliche Ausgestaltung muss man sich gemeinsam überlegen, denkbar ist vieles. Von einem gesetzlichen Mitsprache- und Entscheidungsrecht der Sportlerinnen und Sportler bis hin zur Fixierung von Höchstgeschwindigkeiten – es gibt kein Recht der Veranstalter, Sponsoren und Zuseherschaft auf Geschwindigkeiten über 100 km/h. Auch in der Formel 1 ist es schon vor vielen Jahren gelungen, durch das strikte Reglement mehr Sicherheit zu schaffen und die Zahl der schweren Unfälle zu verringern.

Da es in den Skiverbänden dieses Verantwortungsgefühl offenkundig nicht gibt, ist nun der Gesetzgeber am Zug. (Oliver Scheiber, 28.1.2021)

MUT ZUM RECHT!

Klimafragen landen immer öfter vor Gericht

Sechs Jugendliche klagten 33 Staaten an, dass sie zu wenig gegen die Klimakrise unternehmen und die Gesundheit und Zukunft einer ganzen Generation aufs Spiel setzen

Der Klimawandel wird in Zukunft immer öfter Thema vor Gericht sein. In einigen deutschen Gemeinden haben Bürger bereits auf dem Rechtsweg Tempobeschränkungen im Straßenverkehr durchgesetzt, um die Luftqualität zu verbessern und die Erreichung der Klimaziele zu fördern. In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof vor kurzem die erste große Klimaklage von Wissenschaftern und Bürgern abgewiesen. Nun gibt es eine spannende Entscheidung eines französischen Berufungsgerichts, die einen starken Bezug zum Umweltthema aufweist – das Gericht verbot die Abschiebung eines an Asthma leidenden Mannes nach Bangladesch. Begründet wurde das damit, dass die Städte Bangladeschs zu den Orten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit zählen und der Mann dort eine sehr geringe Lebenserwartung haben könnte.

Die Jungen klagen die Staaten an

Schauplatzwechsel zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Für viele überraschend hat der EGMR ein Verfahren zu Klimafragen zugelassen und nicht vorab zurückgewiesen. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beschwerdeführer vor dem EGMR sind sechs portugiesische Staatsangehörige zwischen acht und 21 Jahren. Die Kläger wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen 33 Staaten, neben Portugal zählt auch Österreich zu den beklagten Staaten. Die 33 beklagten Staaten sind jene europäische Staaten, die zwar das Übereinkommen von Paris zur Eindämmung des Klimawandels ratifiziert haben, aber die dort vorgegebenen Ziele bisher verfehlen. Die Kläger führen aus, dass sie wegen der Nichterreichung des im Pariser Übereinkommen definierten Ziels der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius und in weiterer Folge der maßgeblichen Emissionsminderung in ihrem Recht auf Leben und auf Privatleben verletzt würden. Die Klimaerwärmung treffe besonders ihre Generation, sie seien dadurch auch im Verhältnis zu den älteren Generationen diskriminiert.

Portugal wird immer öfter von verheerenden Bränden heimgesucht.
Foto: AP Photo/Sergio Azenha

Die Kläger erklären in ihrem Antrag, dass die Schadstoffemissionen zur Klimaerwärmung beitragen, die wiederum die jährlich in Portugal in der Nähe ihrer Wohnorte auftretenden Waldbrände mitverursachen. Die Waldbrände bedeuteten Gesundheitsgefährdungen für sie und würden bei ihnen tatsächlich zu Schlafproblemen, Allergien und Atemproblemen führen. Zeitweise seien die Schulen in der warmen Jahreszeit wegen der Brände geschlossen, auch ein Aufenthalt im Freien sei nicht möglich. Mehrere Beschwerdeführer geben an, dass infolge des Klimawandels der Anbau von Gemüse auf den Feldern ihrer Familien nicht mehr möglich sei.

Die Beschwerdeführer argumentieren rechtlich damit, dass die Europäische Menschenrechtskonvention im Lichte der UN-Kinderrechtskonvention auszulegen sei. Die 33 europäischen Staaten würden durch das Unterlassen von Maßnahmen zur Reduktion der Schadstoffemissionen eine Verletzung der aus der EMRK abzuleitenden staatlichen Gewährleistungspflichten begehen. Die Beschwerdeführer geben an, ihr Anliegen sei vor dem Hintergrund der steigenden Klimaerwärmung von so hoher Dringlichkeit, dass sie den Gerichtshof ersuchen, ihnen nicht die Ausschöpfung aller Instanzen in den 33 Staaten aufzuerlegen – das wäre normalerweise Voraussetzung für die Anrufung des Straßburger Gerichtshofs. Die Kläger geben an, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammten und dass der Rechtsweg in 33 Staaten für sie eine zu hohe Bürde wäre. Der EGMR müsse den Schutz vor den Regierungen übernehmen und die Beschwerdeführer vor den Bedrohungen des Klimawandels schützen.

All diese Verfahren bietet einen Hinweis darauf, welche vielfältigen Facetten Umwelt- und Klimathemen in Zukunft auch in rechtlicher Hinsicht haben werden. Die Universität Graz hat dem Rechnung getragen, indem sie im Jahr 2020 erstmals eine Professur für Klimarecht eingerichtet hat. (Oliver Scheiber, 18.2.2021)

MUT ZUM RECHT!

Türkei tritt aus Istanbul-Konvention aus: Rückbau der Menschenrechtsordnung

Das Infragestellen zentraler Grundrechte ist immer ein Angriff auf Demokratie, Zivilisation und Frieden

Der Aufbau einer gemeinsamen Menschenrechtsordnung war nach 1945 Europas Konsequenz aus Faschismus und Krieg. Die zentrale Rolle kam dabei zunächst dem Europarat zu, in dessen Rahmen die Europäische Menschenrechtskonvention ausgearbeitet wurde. Sie wurde 1950 in Rom unterzeichnet und ist bis heute das zentrale europäische Menschenrechtsdokument. Im Laufe der Jahrzehnte haben der Europarat und die Europäische Union den europäischen Menschenrechtsbestand laufend abgesichert und weiter ausgebaut. Der Europarat hat auf den Gebieten des Menschenhandels, der Terrorismus- und Korruptionsbekämpfung oder des Schutzes von Kindern und Frauen wichtige Übereinkommen ausgearbeitet.

Bekämpfung der Gewalt an Frauen

Die sogenannte Istanbul-Konvention ist eines der wichtigsten Übereinkommen des Europarats. Sie wurde im Jahr 2011 als „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ von 13 Staaten, darunter Österreich, in Istanbul unterzeichnet. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich darin verbindlich zur umfassenden Bekämpfung aller Formen von Gewalt an Frauen. Die Konvention befasst sich mit Präventionsmaßnahmen, mit dem Opferschutz und mit Vorgaben für die Strafverfolgungsbehörden. Unter anderem hat die Konvention zum Ausbau von Opferschutzeinrichtungen in vielen europäischen Staaten geführt.

Einen besonderen Fokus legt die Konvention auf den Bereich häusliche Gewalt und fordert auf, die zum Schutz vor häuslicher Gewalt enthaltenen Verpflichtungen auch auf Kinder und Männer anzuwenden.

Aktivistinnen und Aktivisten demonstrieren gegen den Ausstieg der Türkei.
Foto: REUTERS/Murad Sezer

Ähnlich anderen Europaratsübereinkommen kennt auch die Istanbul-Konvention ein Evaluierungssystem. Ein Komitee von internationalen Expertinnen und Experten, kurz GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence) genannt, überprüft regelmäßig die Umsetzung der Verpflichtungen durch die Unterzeichnerstaaten.

Ein schwerer Schlag

Während sowohl Europäische Union als auch Europarat den Ausbau der Menschenrechte in diversen Regelungen laufend vorantreiben, kommen die Menschenrechte in Europa seit einigen Jahren erstmals seit 1945 stark unter Druck. Maßgebliche politische Kräfte stellen quer durch Europa, auch in Österreich, zentrale Menschenrechte und Regelwerke infrage: einmal die Genfer Flüchtlingskonvention, dann die Menschenrechtskonvention, dann die Istanbul-Konvention. Ein Schönreden hilft da nicht: Das Infragestellen zentraler Grundrechte ist immer ein Angriff auf Demokratie, Zivilisation und Friedensordnung in Europa.

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein schwerer Schlag für die Menschenrechtslage nicht nur in der Türkei, sondern in ganz Europa. Seit Sommer 2020 läuft eine ähnliche Diskussion in Polen; in der Verbindung mit dem Abtreibungsverbot läuft die Diskussion in Polen ganz klar auf eine Schlechterstellung der Frau in der Gesellschaft und einen Rückbau der Rechte der Frau hinaus. Rechtlich ist die Situation in Polen freilich anders als in der Türkei; selbst bei einem Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention bleibt Polen doch an den EU-Rechtsbestand gebunden, der Frauen vielerlei Schutz gewährt und gerichtlich durchsetzbar ist. (Oliver Scheiber, 26.3.2021)

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Vom Ausbau zur Verteidigung unseres Rechtsstaats

Rechtsstaat und Demokratie können auch in stabilen Staaten mit gefestigten Institutionen ins Rutschen kommen können – und zwar schnell

In letzter Zeit mehrten sich die Mahnungen, mit dem Rechtsstaat sorgsamer umzugehen. Nicht verwunderlich, denn immer öfter wurden in Österreich zuletzt Grundsäulen des Staates infrage gestellt. Die verspäteten Aktenlieferungen des Finanzministeriums an das Parlament, erst unter dem Druck der Exekution durch den Bundespräsidenten vollzogen, lieferten ein anschauliches Beispiel.

Ab 1945 erlebte Österreich, ganz im Einklang mit der freien westlichen Welt, den Aufbau und immer weiteren Ausbau des modernen Rechtsstaats. Der Rechtsstaat – eng verbunden mit dem demokratischen System, mit dem System der Trennung der drei Staatsgewalten (Verwaltung, Gesetzgebung, Justiz) und den Menschenrechten – bedeutet die strikte Bindung aller Institutionen an das Recht: Die gesamte Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze handeln (Legalitätsprinzip), die unabhängigen Gerichte legen die Gesetze aus, und auch das Parlament als Gesetzgeber bewegt sich nur in einem rechtlichen Rahmen, nämlich dem der Verfassung – soll die Verfassung in ihrem Kern verändert werden, so geht das nur im Wege einer Volksabstimmung.

Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit

Die Phase des Auf- und Ausbaus des Rechtsstaats ist irgendwann vor einiger Zeit in eine Phase der Verteidigung des Rechtsstaats übergegangen – in Österreich, aber auch in vielen anderen Staaten. Ein Politikertypus mit autokratischen Zügen gewinnt an Einfluss und stellt bisherige rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten infrage. Der frühere italienische Ministerpräsident lieferte sich ein jahrelanges Match mit der Justiz, deren Unabhängigkeit er brechen wollte – letztlich erfolglos. In Polen und Ungarn konnten die Regierungen zentrale Teile des Justizwesens unter Kontrolle bringen – die für Demokratie und Rechtsstaat wichtige Gewaltenteilung ist aufgehoben. Der letzte US-Präsident Donald Trump legte sich mit nahezu allen anderen staatlichen Institutionen an – und führte das Land in seinen letzten Tagen an den Rand des Bürgerkriegs, wenn man sich an den Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 erinnert.

Der Sturm auf das Kapitol zeigte, wie schnell der Rechtsstaat bedroht werden kann.
Foto: EPA/MICHAEL REYNOLDS

Das Beispiel USA zeigt uns, dass Rechtsstaat und Demokratie auch in an sich stabilen Staaten mit gefestigten Institutionen ins Rutschen kommen können, und zwar schnell. Und das Beispiel Trump weist uns auf einen weiteren wichtigen Umstand hin: Die beste Verfassung, das beste Rechtssystem, die stärksten Institutionen helfen wenig, wenn zentrale Akteure des Staates über keine demokratische und rechtsstaatliche Gesinnung verfügen. Unser ganzes gesellschaftliches System vertraut darauf, dass sich Amtsträger wechselseitig respektieren und Entscheidungen wechselseitig anerkennen. Darum ist es so gefährlich, wenn Mitglieder der Bundesregierung einen Ausschuss des Parlaments mit der Löwinger-Bühne vergleichen oder einer Aufforderung des Verfassungsgerichtshofs nicht unverzüglich Folge leisten: Es fehlt ihnen am Respekt vor der verfassungsrechtlichen Grundordnung. (Oliver Scheiber, 31.5.2021)