Friedrich Zawrel (juridikum 4/2002)

Der Lebensweg von Friedrich Zawrel ist Gegenstand von Büchern, Filmen und Theaterstücken. Seit Jahren berichtet Zawrel in Schulen von den Verbrechen der Nationalsozialisten, deren Opfer er selbst war. Die Stadt Wien würdigte Friedrich Zawrel für sein Engagement 2008 mit dem Goldenen Verdienstzeichen. Am 15. Mai 2013 überreichte Bundesministerin Claudia Schmied Friedrich Zawrel das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich

Vor kurzem sprach Friedrich Zawrel gemeinsam mit dem Schauspieler Nikolaus Habjan, der für seine Figurentheaterproduktion „Friedrich Z.- Erbbiologisch und sozial minderwertig.“ den Nestroy-Preis 2012 erhielt, vor angehenden Richterinnen und Richtern. Ich durfte Friedrich Zawrel bereits 2002 kennenlernen – unter dem Eindruck dieser ersten Begegnung habe ich damals einen Beitrag für die Zeitschrift juridikum (Heft 4/2002) verfasst, den ich, einem Wunsch Friedrich Zawrels gern entsprechend, nun online stelle. 
Friedrich Zawrel und Nikolaus Habjan beim Vortrag vor RichteramtsanwärterInnen
in  der Gedenkstätte im Otto Wagner Spital in Wien am 17.10.2013

Friedrich Zawrel – ein Lebensschicksal als Mahnung

Text für die Zeitschrift juridikum, Heft 4/2002

Oliver Scheiber

28. April 2002, Wien, Zentralfriedhof.

An diesem Tag findet am Wiener Zentralfriedhof die
Beisetzungsfeier für die von den Nationalsozialisten ermordeten Kinder vom
Spiegelgrund statt. Rund sechzig Jahre nach ihrer Ermorderung finden die Kinder
eine letzte Ruhestätte. Friedrich Zawrel hat viele der Toten persönlich
gekannt. Ein paar Tage später wird Friedrich Zawrel seine kleine Wohnung in
Ottakring verlassen und ins Cafe Hummel in der Josefstadt fahren, um dort
einige Richter zu treffen und ihnen aus seinem Leben zu berichten; er wird
zuerst von seiner defekten Heizung und seiner Bypass-Operation erzählen, dann
von seiner Jugend und seinem Lebensweg, der ein Leidensweg war. Dazwischen wird
er mit einem verschmitzten Lächeln immer wieder von den Menschen schwärmen, die
ihn in den letzten Jahren unterstützt haben und ihm lieb geworden sind: von
Waltraud Häupl, Karin Mosser, Hannah Lessing und Werner Vogt.

Juli 1935, Wien-Kaisermühlen.

Friedrich Zawrel ist fünf Jahre alt, als seine Mutter die
Miete für die kleine Wohnung in Kaisermühlen nicht mehr zahlen kann. Die
Familie wird delogiert, die Kinder werden der Mutter abgenommen und in die
Kinderübernahmestelle gebracht. Für Friedrich Zawrel beginnt ein jahrelanger
Leidensweg: zunächst kommt er zu Pflegeeltern nach Simmering. Dort wird er
geschlagen, er muss bis neun Uhr abends in der Landwirtschaft arbeiten. Wegen Wehrunwürdigkeit
seines Vaters bleibt Friedrich Zawrel vom deutschen Jungvolk und der
Hitlerjugend ausgeschlossen – für den Volkschüler bedeutet der Ausschluss
Verhöhnungen durch die Mitschüler und eine bleibende Außenseiterrolle. 1939
läuft Friedrich Zawrel endgültig von der Pflegefamilie davon und wird
schließlich 1941, elf Jahre alt, in das Städtische Erziehungsheim „Am
Spiegelgrund“ eingewiesen. Bei der Aufnahme wird er von Dr. Heinrich Gross
untersucht.       
In den folgenden Jahren wird Friedrich Zawrel in wechselnden
Heimen untergebracht; die meiste Zeit wird er am Spiegelgrund angehalten. Er
wird Zeuge des Euthanasieprogramms der Nazis, der systematischen Ermordung von
Kindern. Friedrich Zawrel wird von Heinrich Gross, von anderen Ärzten und vom Pflegepersonal
jahrelang gefoltert. Heinrich Gross verabreicht Zawrel die gefürchteten
“Speibinjektionen”: sie lösen tagelange schwere Übelkeit aus. Andere
Injektionen bewirken, dass die Muskeln versagen und schmerzen; die Kinder
können tagelang nicht gehen. Immer wieder wird Zawrel Opfer der Wickelkur: er
wird vom Personal in nasse Leintücher gewickelt und tagelange so verschnürt
liegen gelassen; Zawrel liegt im eigenen Urin. 
Nicht nur einmal wird er von Erziehern und Ärzten geschlagen, wiederholt
in die kalte Badewanne und anschließend auf den Steinboden geworfen. Das Essen
wird ihm und den anderen Kindern von sadistischen Schwestern vom Teller auf den
Boden geschüttet, so dass die Kinder es aufschlecken müssen. Die von den
Schwestern über die Kinder angelegten schriftlichen Aufzeichnungen
(“Schwesternberichte”) enthalten über Friedrich Zawrel unter anderem folgende
Eintragungen: „aktiv antisozial, staatsfeindliche Gesinnung. Bei einem Gespräch
über die Kriegslage zeigt er Schadenfreude und würdigt Siege und Erfolge zu
wenig. Er strebt auf die Seite der Feinde. Wenn die Bolschewiken kommen, werde
er zu den Partisanen gehen.“ Von einem Erzieher wird Zawrel sexuell
missbraucht; die Ärzte werden die Schuld dem Kind zuweisen und den Vorfall als
Ausdruck einer charakterlichen Missbildung Zawrels werten.
Der
Leiter der Anstalt „Am Spiegelgrund“, Illing, stellt Zawrel immer wieder nackt
auf ein Podest vor Schwesternschülerinnen und erläutert mit einem Zeigestab die
Merkmale der „erbbiologischen und soziologischen Minderwertigkeit“ des Kindes.
Unter dem Gelächter der jungen Frauen treibt er das Kind mit einem Zeigestab
auf das Podest und vom Podest herunter. Für Friedrich Zawrel wurde dies zur
schlimmsten aller Qualen – es wird mehr als fünfzig Jahre dauern, bis er über
diese erniedrigenden Vorführungen sprechen kann. „Ich verdanke es Hannah
Lessing, dass ich das, spät aber doch, aufgearbeitet habe“, sagt er heute. „Ich
bin früher davongelaufen, wenn junge Frauen auf der Straße neben mir gelacht
haben.“
Friedrich Zawrel überlebt den Spiegelgrund auf Grund seiner
außergewöhnlichen Willensstärke und Zähigkeit. Er flieht 1944 mit Hilfe einer
Krankenschwester aus der Anstalt und hält sich als Kohlenausträger über Wasser.
Ein Bekannter des Kohlenhändlers behauptet, Zawrel habe versucht, ihn zu
betrügen. Ein Straverfahren wird eingeleitet; ausgerechnet Ernst Illing
erstattet ein Gutachten im Gerichtsverfahren. In seinem Gutachten vom 12.1.1944
schreibt Illing über den damals 14-jährigen Friedrich Zawrel: „charakterlich abartig,
monströse Gemütsarmut“. Er zitiert den oben wiedergebenen Schwesternbericht
über die vermeintliche politische Unzuverlässigkeit des Kindes Zawrel. Den
sexuellen Missbrauch Zawrels durch den (deswegen gerichtlich verurteilten)
Erzieher lastet Illing dem missbrauchten Kind an und spricht von „homosexuellen
Vorkommnissen“. Zawrel stamme aus einer „erbbiologisch und soziologisch
minderwertigen Familie“.
Der abstruse Inhalt dieses Gutachtens wird Friedrich Zawrel
ein Leben lang verfolgen: zunächst führt es dazu, dass der 14-Jährige zu
achtzehn Monaten Jugendhaft verurteilt wird. Friedrich Zawrel wird in die
Haftanstalt Rüdengasse eingeliefert. Als sich die Russen Wien nähern, wird
Zawrel mit 300 anderen Kindern auf ein Schiff gebracht, das Richtung Passau fährt.
Die Nazis versuchen in ihrem Wahn, die Kinder nach Deutschland zu bringen. Am
Schiff verhungern und verdursten ungezählte Kinder; Zawrel muss zusehen, wie
die Leichen über Bord geworfen werden. Die Amerikaner befreien die Kinder in
Regensburg. Am Weg zurück nach Wien wird Zawrel ohne Geld und Unterkunft von
Gendarmen angetroffen. Er wird wegen Landstreicherei festgenommen und zum
zweiten Mal gerichtlich verurteilt – zu acht Tagen Gefängnis.
Die Gerichte werden sich mehr als dreißig Jahre später nicht
scheuen, das Gutachten des wegen des Mordes an unzähligen Kindern
hingerichteten Nazi-Arztes Illing vom 12.1.1944 wiederum zur Grundlage eines
Urteils zu machen. 
Das erste Zusammentreffen zwischen Friedrich Zawrel und
Heinrich Gross datiert aus dem Jahr 1941. Gross ist damals 26 Jahre alt. 1932
ist er der Hitlerjugend beigetreten, 1933 der SA, 1938 der NSDAP. 1939
promoviert er und wird 1940 Anstaltsarzt am Spiegelgrund. In der dortigen
Anstalt fallen 789 Kinder dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer.

Jänner 1960, Wien.

Heinrich Gross wird am 21.1.1960 in die Liste der
gerichtlich beeideten Sachverständigen, Fachgebiet Psychiatrie, eingetragen.
Bereits seit 1958 erstattet er Gutachten für Gerichte. Die Nachkriegsjustiz ist
mit Gross wohlwollend verfahren: zwar wurde er 1948 in Untersuchungshaft
genommen und 1950 wegen „Beihilfe zum Totschlag an Kindern“ zu zwei Jahren
schweren Kerkers verurteilt; bereits 1951 wurde das Urteil wegen angeblicher
Verfahrensmängel aber wieder aufgehoben und zur neuerlichen Verhandlung an den
Volksgerichtshof zurückverwiesen. Kurz darauf wird das Verfahren ohne
neuerliche Verhandlung – aus prozessökonomischen Gründen im Hinblick auf die
verbüßte Untersuchungshaft – eingestellt. Gross beantragt „Haftentschädigung“:
sein Antrag wird abgewiesen, der Verdacht sei nicht entkräftet.
Friedrich Zawrel ist es nach der Befreiung durch die
Amerikaner und die Verurteilung wegen Landstreicherei weniger gut ergangen.
1950 arbeitet Friedrich Zawrel bei einer Auslieferfirma; er ist Mitfahrer im
LKW und mit dem Inkasso beauftragt. Dabei laufen große Geldmengen durch seine
Hände. Zawrel geniert sich für seine Vorstrafen; er hat sie seinem Chef bei der
Einstellung verschwiegen. Der Chef mag den damals 21-jährigen Zawrel und drängt
ihn 1950 immer mehr, den Führerschein zu machen. Friedrich Zawrel erkundigt
sich bei der Polizei: die beiden Vorstrafen werden nicht gelöscht und bilden
ein Hindernis für die Ablegung der Führerscheinprüfung. Zawrel legt seinem Chef
nun alles offen: dieser sagt nur: „Hättest Du mir das früher erzählt, hätte ich
Dich weniger sekkiert wegen dem Führerschein. Es bleibt alles, wie es ist, mach
nur Deine Arbeit.“ Für Friedrich Zawrel ist aber nichts wie früher. 2002 sagt
er darüber: „Ich habe das Inkassogeld gehabt und Waren geliefert wie vorher
auch. Sicher hat mich auch der Chef nicht mehr kontrolliert als früher. Ich
habe das aber trotzdem nicht mehr ausgehalten: ständig habe ich das Gefühl
gehabt, dass mich der Chef wegen meiner Vorstrafen überwacht.“ Zawrel kündigt. In
der Folge lebt er von Hilfsarbeiten und Kleindiebstählen; für letztere fasst er
drakonische Freiheitsstrafen aus.

26. November 1975, Wien.

Heinrich Gross begutachtet im Auftrag des Landesgerichts für
Strafsachen in Wien den ehemaligen Spiegelgrund-Häftling Friedrich Zawrel. Man
kennt einander; Zawrel spricht Gross direkt auf dessen Tätigkeit als Arzt am
Spiegelgrund an. Gross verfasst ein vernichtendes Gutachten über Zawrel; er
beruft sich auf das Gutachten des Dr. Illing vom 12.1.1944 (!) [Illing wurde
1946 wegen Meuchelmords, Quälens und Misshandelns von Kindern zum Tode
verurteilt und hingerichtet], sieht im Überlebenden Friedrich Zawrel einen
„seelisch Abartigen“, einen „gefährlichen Rückfallstäter“, den man niemals in
Freiheit entlassen dürfe. Am 25. Mai 1976 wiederholt Gross sein Gutachten in
der mündlichen Hauptverhandlung. Er bescheinigt Zawrel grobe
Verhaltensstörungen in Form von „Lügnereien“ und „homosexuellen Handlungen“
(gemeint ist der Missbrauch durch einen Erzieher während des Krieges!), die
seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft unmöglich machten. Wörtlich führt
Gross aus: „Der Beschuldigte besitzt kaum Bindung und Sachen, er ist im Grunde
genommen wurzellos geworden und es ist nicht annehmbar, dass er sich außerhalb
des Strafvollzuges an irgendeinen Sozialbereich anpassen könnte. Er ist aktiv
soziopathisch und als Hangtäter zu qualifizieren. Seine seelische Abartigkeit
ist hochgradig.“ Infolge dieser negativen Zukunftsprognose von Gross wird
Zawrel (wegen des Diebstahls von 20.000 Schilling) zu sechs Jahren Haft und
anschließend zehn Jahren Anhaltung in einer Anstalt für gefährliche
Rückfallstäter verurteilt.
Friedrich Zawrel, der bis dahin alles, was ihm von Medizin
und Justiz angetan worden ist, hingenommen hat, setzt sich nach seinem
neuerlichen Zusammentreffen mit Gross 1975 zur Wehr. Am 3.5.1976 richtet er ein
Schreiben an Justizminister Christian Broda und beschwert sich darüber, dass
Gross in seinem Gutachten den wegen Mordes von Kindern zum Tode verurteilten
Primarius Illing zitiert. Der Minister antwortet nicht. Zawrel wird also
verurteilt und in die Justizanstalt Krems-Stein eingeliefert. Eines Tages
besucht der Psychiater Willibald Sluga, Berater von Justizminister Broda,
Zawrel in dessen Zelle. Er fordert Zawrel auf, die Vergangenheit des Dr. Gross
ruhen zu lassen. Zawrel meint: „Vor dreißig Jahren war ich ohne Geld und
Unterkunft nach Wien unterwegs. Wenn ich heute mein Strafregister aushebe,
stehen deswegen acht Tage Gefängnis wegen Landstreicherei drinnen. Das vergisst
die Republik Österreich nicht. Aber aus der Nazi-Zeit soll man alles
vergessen?“
Im Februar 1977 erstattet Dr. Otto Schiller ein Gutachten
über Friedrich Zawrel. Schiller ist mit Heinrich Gross befreundet; er bestätigt
dessen Gutachten und nimmt in sein eigenes Gutachten eine Würdigung des
Heinrich Gross auf. Dem Friedrich Zawrel spricht Schiller jede Glaubwürdigkeit
ab; Zawrels Berichte über die Folterungen am Spiegelgrund stellt Schiller in
Frage. Schiller verhindert eine frühere Haftentlassung Zawrels, indem er in
seinem Gutachten schreibt: „Es gilt da die Volksweisheit auch aus
fachlich-wissenschaftlicher Sicht, wonach Hans nimmer lernt, was Hänschen nicht
gelernt hat. Aus psychiatrischer Sicht bedarf dieser Untersuchte der ständigen
Führung, Überwachung. Er kann bildlich gesprochen ohne Mieder als Stütze nicht
im Leben gehen. Er kann nicht einfach so ins Leben gestellt werden. Wenn nicht
enge Überwachung und Führung vorliegt, er wird abgleiten.“[1]

Herbst 1978, Haftanstalt Krems-Stein.

Friedrich Zawrel schmuggelt aus der Haft einen Brief an die
Zeitung Kurier. Bald darauf besucht
ihn der Journalist Wolfgang Höllriegl in der Haftanstalt. Zawrel erzählt seine
Lebensgeschichte, insbesondere berichtet er über die neuerliche Begutachtung
durch Heinrich Gross. Am 17.12.1978 erscheint ein Artikel im Kurier über Gross: “Ein Arzt aus der
NS-Mörderklinik“. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Dr. Werner Vogt („mein Befreier
und Retter“, sagt Friedrich Zawrel) kämpft jahrelang für die Rehabilitierung
Zawrels und betreibt Aufklärung über die Vergangenheit des Heinrich Gross.
Gross klagt Vogt wegen Übler Nachrede. Nach einer Verurteilung in erster
Instanz wird Vogt im Berufungsverfahren vom Oberlandesgericht Wien
freigesprochen. Im Berufungsurteil heißt es, dass „Dr. Heinrich Gross an der
Tötung einer unbestimmten Zahl von geisteskranken, geistesschwachen oder stark
missgebildeten Kindern (die erb- und anlagebedingte schwere Leiden hatten)
mitbeteiligt war…“. Dennoch erhebt die Staatsanwaltschaft keine Anklage gegen
Gross; dieser bleibt Primarius und einer der meistbeschäftigten
Sachverständigen vor österreichischen Gerichten. Die Tatsache, dass Gross 1984
aus der Liste der gerichtlich beeideten Sachverständigen entfernt wird, hält
Richter des Landesgerichts für Strafsachen Wien nicht davon ab, Heinrich Gross
bis 1998 laufend bei Gericht zu beschäftigen.
Der Leidensweg Friedrich Zawrels geht 1981 zu Ende:
Univ.-Doz. Dr. Gerhard Kaiser, untersucht Zawrel im gerichtlichen Auftrag und
kommt zu völlig anderen Schlüssen als die Vorgutachter Gross und Schiller: er
konstatiert ein normales psychisches Bild, keinerlei seelische oder geistige
Abartigkeit, keinen Anlass für eine Einweisung in eine Anstalt für gefährliche
Rückfallstäter. Kaiser stellt zwischen den Zeilen deutlich die Gutachten von
Gross und Schiller in Frage und kommt zum Schluss: „Das psychische Bild, das
Friedrich Zawrel bietet, entspricht weitgehend einer
Durchschnittspersönlichkeit und lässt auch erstaunlicherweise jene Apathie
vermissen, welche bei Menschen, denen die Freiheit durch lange Zeit entzogen
wurde, die Regel darstellt.“ Friedrich Zawrel wird am 3.9.1981 nach insgesamt
26 in behördlicher Anhaltung verbrachten Jahren aus der Haftanstalt entlassen.
Er widerlegt Gross und Schiller und wird nicht mehr straffällig. Über seine
Haftentlassung berichtet Friedrich Zawrel heute: „Am 27. Juli 1981 bin ich aus
der Haft entlassen worden. Ich war damals 52 Jahre alt. Ich habe wieder bei
meiner Mutter gewohnt, die schon in Pension war, und habe zuerst in einer
Siebdruckfirma, dann in der Firma meines Bewährungshelfers gearbeitet. 1983
habe ich dann den Führerschein gemacht, der mir 1948 wegen meiner Jugendstrafe
verweigert worden ist, und habe dann fünfzehn Jahre lang als Lieferfahrer
gearbeitet. Das Auto konnte ich auch privat benutzen und habe am Sonntag mit
meiner Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 Ausflüge ins Waldviertel
unternommen.“

23. Februar 1999, Wien.

Friedrich Zawrel muss sich erneut einer ärztlichen
Begutachtung unterziehen. Im Auftrag der Magistratsabteilung 12, Referat für
Opferfürsorge, kommt Zawrel zur Untersuchung, die über die Zuerkennung einer
Opferrente entscheidet. Der Gutachter verliest eingangs der Untersuchung das
Vorgutachten des Dr. Illing aus dem Jahr 1944 und diktiert in Anwesenheit des
Friedrich Zawrel: „Betroffener stammt aus erbbiologisch und soziologisch
minderwertiger Familie.“ Friedrich Zawrel will daraufhin den Raum verlassen, er
kann nur mühsam zurückgehalten werden. Der Sachverständige bescheinigt eine
„posttraumatische Belastungsreaktion“. Werner Vogt fasst die Beziehung des
Friedrich Zawrel und der Medizin so zusammen: „55 Jahre lang verfolgte das
Gutachten des hingerichteten Mörders Illing das Leben des Friedrich Zawrel. Nie
war er ein Fall für die Psychiatrie, aber die Psychiatrie hat ihn fast zu Fall
gebracht.“

21. März 2000, Landesgericht für Strafsachen Wien.

An diesem Tag beginnt die Hauptverhandlung gegen Heinrich
Gross. Ab 1989 war mit Öffnung der Archive der DDR immer neues, belastendes
Material über Heinrich Gross und den Spiegelgrund nach Österreich gelangt.
Allein, die Staatsanwaltschaft Wien reagiert nicht. 1998 bringt das
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (erneut) eine Anzeige
gegen Heinrich Gross ein. Das Justizministerium unter Minister Nikolaus Michalek
setzt dem unwürdigen Spiel ein Ende, ordnet das Beweismaterial und gibt den
Auftrag, Gross anzuklagen. Die Staatsanwaltschaft Wien legt im April 1999 eine
57-seitige Anklageschrift gegen Heinrich Gross wegen des Verdachts des
Verbrechens des Mordes als Beteiligter nach den §§ 12, 75 StGB vor und führt
neun Kinder an, die im Sommer 1944 durch Handlungen oder Unterlassungen des
Angeklagten zu Tode gekommen seien.
Am 21.3.2000 wird im Landesgericht für Strafsachen Wien der
Geschworenenprozess gegen Gross eröffnet. Ein Gutachter stellt die
Verhandlungsunfähigkeit des anwesenden Angeklagten fest; die Hauptverhandlung
wird auf unbestimmte Zeit erstreckt. Heinrich Gross gibt gleich darauf in einem
Kaffeehaus ein Fernsehinterview. Ein zweites Gutachten stellt fest, dass sich
Gross nur dreißig Minuten lang durchgehend konzentrieren könne. Eine
Hauptverhandlung wird nicht mehr anberaumt.[2]

Frühjahr 2002, Wien.

Friedrich Zawrel beantragt die vorzeitige Tilgung seiner
Vorstrafen im Gnadenweg. Die Tilgungsfrist ist noch nicht abgelaufen, für
Friedrich Zawrel ist es aber wichtig, endlich mit seiner Vergangenheit ins
Reine zu kommen und unbelastet davon zu leben. Das Justizministerium unter
Minister Böhmdorfer spricht sich in seiner Stellungnahme für die Präsidentschaftskanzlei
gegen eine vorzeitige Tilgung im Gnadenweg aus; zur Begründung wird auf Akten
der Nazis und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit verwiesen(!). Die empörten
Reaktionen einiger Freunde Friedrich Zawrels zeigen Wirkung: die Polizei kommt
bei Zawrel vorbei, um „Erhebungen zu tätigen“. Nach wenigen Tagen erhält
Friedrich Zawrel die Verständigung über die vorzeitige Tilgung der Vorstrafen
durch Entschließung des Bundespräsidenten vom 9.4.2002 und einen Auszug aus dem
Strafregister: es scheint keine Verurteilung auf.[3]


[1] Die Gutachten von Gross und Schiller
sind in der Zeitschrift FORUM vom Juli/August 1981 veröffentlicht worden; vor
allem das Schiller-Gutachten wird durch seine ebenso gehässige wie einfältige
Argumentation gegen Zawrel zum zeitgeschichtlichen Dokument (Schiller führt zur
Untermauerung des Gross-Gutachtens etwa an, dass Gross im Proponentenkomitee
für Bundespräsident Jonas vertreten war).
[2] An weiterführender Literatur zum Fall
des Dr. Heinrich Gross sind zu nennen: Groß
bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
, Eingriffe (Informationen der
AG Kritische Medizin und des AK Kritische Medizin-Innsbruck) Nr. 13/14
(1./2.Quartal 1980); Werner Vogt, Arm-krank-tot,
Europa Verlag (1989); Alois Kaufmann, Spiegelgrund-Pavillon
18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim
, Verlag für Gesellschaftskritik (1993);
Johann Gross, Spiegelgrund. Leben in
NS-Erziehungsanstalten
. Ueberreuter (2000); Werner Vogt, Euthanasiearzt und Gerichtsgutachter. Zwei
Möglichkeiten der Ausübung von Gewalt gegen Menschen
. Literaturzeitschrift
Wespennest Nr. 119, 2000 (S. 89-104); Werner Vogt, Der verhandlungsunfähige Kläger. Heimatkunde im Gerichtssaal.
Literaturzeitschrift Wespennest Nr.  121,
2000 (S. 20); Werner Vogt, Das spät
bereitete Grab
. Literaturzeitschrift Wespennest Nr.127, 2002 (S. 22).
[3] Der Artikel basiert auf zwei Gesprächen
mit Friedrich Zawrel am 15. Mai und 13. September 2002, auf die Einsicht in
Aktenkopien und auf Informationen, die Dr. Werner Vogt freundlicherweise zur
Verfügung gestellt hat. Aufschlüsse hat mir weiters das Buch von Oliver
Lehmann/Traudl Schmidt, In den Fängen des
Dr. Gross – Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel
,  Czernin-Verlag (2001), geliefert. Mein
besonderer Dank gilt neben Dr. Werner Vogt auch Dr. Karin Mosser, die mich zur
Kontaktaufnahme mit Friedrich Zawrel ermuntert hat; vor allem aber habe ich
Friedrich Zawrel für seine Bereitschaft zu danken, so offen über sein Leben zu
sprechen. 
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