Vorschlag für eine Strafprozessreform: ein Schritt nach vorn mit einem großen Makel

Es ist gut,
dass wieder Justizpolitik stattfindet. Der heute zur Begutachtung versandte Vorschlag für eine Strafprozessreform  ist nicht mehr, wie viele Maßnahmen im Justizbereich der letzten Jahre, einseitig an Einsparungen orientiert. Der Gesetzesvorschlag hat vielmehr eine klare Leitidee – mehr Rechtsschutz für Verdächtige und Beschuldigte, Beschleunigung der Strafverfahren – und er ist sorgfältig ausgearbeitet und begründet. Der Vorschlag ist somit ein erfreuliches Signal dahingehend, dass
Qualität und Rechtsschutz auch etwas kosten dürfen. Dies gilt etwa für die
Wiedereinführung eines zweiten Berufsrichters im Schöffenverfahren: vor wenigen
Jahren war der zweite Berufsrichter aus Einsparungsgründen abgeschafft worden.
Es hat sich gezeigt, dass dies bei großen Verfahren eine unzumutbare Belastung
des einzigen im Schöffensenat verbliebenen Berufsrichters bedeutet. Die schnelle Korrektur dieses
Fehlers verdient Anerkennung. Dasselbe gilt für die Erhöhung des
Verteidigungskostenersatzes: seit Jahrzehnten wird beklagt, dass Menschen, die
in einem Strafverfahren freigesprochen werden, mit geringen Geldbeträgen
abgespeist werden und oft hohe Verteidigungskosten selbst tragen müssen. Wer
freigesprochen wird, ist unschuldig. Das Strafverfahren hat ihn finanziellen,
psychischen und sozialen Beeinträchtigungen und Risiken ausgesetzt. Es ist mehr
als angemessen, den Höchstsatz des Verteidigungskostenersatzes nun auf 10.000 Euro bei schwersten
Delikten und 1.000 Euro vor dem Bezirksgericht anzuheben. Selbst mit diesen Beträgen ist in der
Regel nur ein Teil der Kosten abgedeckt, es bedeutet aber eine Verdoppelung der
bisherigen Richtwerte – in Sparzeiten durchaus respektabel. Eine erfreuliche
Modernisierung liegt auch in der vorgeschlagenen sprachlichen Unterscheidung
zwischen Verdächtigen und Beschuldigten. Sie schützt Personen, die bloß einem
Anfangsverdacht ausgesetzt sind, besser vor einer frühen
Stigmatisierung. Die zuletzt viel diskutierte Frage, wieviel Mitsprache Staatsanwaltschaft und Verdächtiger bei der Auswahl des Sachverständigen haben, löst der Entwurf mit einer neuen Regelung, die in den Erläuterungen sehr eingehend argumentiert wird. Dabei wird auch die Diskussion der letzten Jahre breit referiert. 
Schließlich erscheint  auch das überraschend vorgeschlagene Zeitlimit
von drei Jahren im Ermittlungsverfahren sinnvoll. Der Gesetzesvorschlag ist umsichtig: dort wo etwa Verdächtige das Verfahren bewusst verschleppen, kann das
Gericht das Zeitlimit für die Staatsanwaltschaft ausdehnen. Für die Masse der
Fälle aber muss man sagen: ein Strafverfahren ist für den Verdächtigen in
vielerlei Hinsicht so belastend, dass nach drei Jahren zumindest eine
Entscheidung fallen muss, ob die Staatsanwaltschaft die Sache vor Gericht
bringen will oder nicht. Auch bei komplexen Familienrechts- oder
Unternehmensstreitigkeiten erwartet sich die Bevölkerung zu Recht, dass
Verfahren nach einigen Monaten zu einer Erstentscheidung kommen. Die neue Frist
sollte also ein Ansporn für alle Ermittlungsbehörden (Polizei und
Staatsanwaltschaft) sein.
Bleibt ein heikler Punkt: die
Wiedereinführung des Mandatsverfahrens, also eine schriftliche gerichtliche
Entscheidung ohne Hauptverhandlung. Das bedeutet: man kann vorbestraft sein,
ohne dass je eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat. Eine solche Neuerung
sollte sich das Parlament gut überlegen. Es empfiehlt sich der Besuch eines
Strafverhandlungstags an einem Bezirksgericht. Wie sieht die Realität aus? Die
Beschuldigten gehören zu einer Personengruppe, die vielfach Postsendungen nach
Verständigungen des Zustellers vom Postamt nicht abholt. Es sind Menschen, die
jede Woche mehrfach Schriftstücke von Behörden erhalten, die sie entweder nicht
abholen, nicht lesen oder nicht verstehen. Kaum jemand kann zwischen bloßen
Polizeistrafen und gerichtlichen Strafen unterscheiden. Die Betroffenen können
daher vielfach die Folgen einer gerichtlichen Verurteilung nicht abschätzen: der
jahrelange Ausschluss von einer Gewerbeberechtigung, von Ausbildungen, von einem
Dienstverhältnis bei Stadt, Land oder Bund. Und vielfach zeigt sich erst in der
Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte nicht schuldig ist; gerade auch in
Fällen, wo sich Menschen in Verkennung der Rechtslage schuldig bekennen. Das
betrifft etwa Anklagen wegen Taxibetrugs, wo Taxifahrgäste zu wenig Geld bei sich
hatten und sich schuldig bekennen, obwohl sie nie einen Betrugsvorsatz hatten
und daher auch nicht im strafrechtlichen Sinn schuldig sind. Und das betrifft
die vielen Fälle, in denen sich erst in der Hauptverhandlung Hinweise ergeben,
dass eine Notwehrsituation vorlag oder in denen Zweifel an der Schuldfähigkeit
auftauchen. Vielfach kommt erst in der Verhandlung heraus, dass der Beschuldigte
psychisch krank ist und seit Jahren unter Sachwalterschaft steht. Die Hauptverhandlung ist das Herzstück eines Strafverfahrens: der Angeklagte wird angehört,  der Bewährungshelfer kann Stellung nehmen, das Gericht kann die Pläne des
Beschuldigten bezüglich Aiusbildung, Job und Wohnung erfragen und besprechen. Wie soll
das Gericht eine passende Sanktion und Weisung finden, ohne dies in einer
Verhandlung mit Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem erörtert zu haben? 
Das Mandatsverfahren widerspricht aber auch der jüngsten Entwicklung hin zu einem umfassenden Opferschutz. Die Hauptverhandlung bietet die Möglichkeit,
Opferansprüche zu erörtern, rasch abzuklären und dem Opfer ein Zivilverfahren zu
ersparen. Ohne Verhandlung wird man den umfangreichen Opferschutzbestimmungen
der StPO schwer entsprechen können und auch schwerlich eine Entscheidung über
privatrechtliche Ansprüche fällen können.
Vor fünfzehn Jahren erst hat
man die alte Strafverfügung deshalb abgeschafft, weil man sich in Lehre und
Praxis einig war, dass viele Betroffene die Bedeutung des verurteilenden Schriftstücks nicht
erkennen. Menschen nehmen solche schriftlich zugestellten Strafen oft an, um ihre Ruhe zu haben. Viele der mit der alten Strafverfügung verurteilten Menschen wussten gar
nicht, dass sie nun gerichtlich vorbestraft sind. Eine Wiedereinführung der
Strafverfügung würde wohl dazu führen, dass weniger Fälle mit Diversion und mehr
mit der schnell versandten Strafverfügung erledigt werden. Für mutmasslich
fremdsprachige Personen müsste alles in die Muttersprache übersetzt werden – ein
Aufwand der höher wäre als der für eine Hauptverhandlung, die am Bezirksgericht
im Schnitt vielleicht 30 Minuten dauert. Überhaupt: die Strafverfahren am
Bezirksgericht dauern im Schnitt vier bis fünf Monate – wie will man da ohne
Qualitätsverlust verkürzen und warum auch? Mit der Strafverfügung riskiert man
also einen großen Rückschritt im Rechtsschutzsystem und eine zunehmende
Kriminalisierung, ohne dass ein Beschleunigungs- oder Einsparungseffekt
erkennbar wäre. Will man die Bezirksgerichte entlasten, so müsste man ihnen die vielen nicht-richterlichen Arbeiten abnehmen: etwa die aufwendige Abrechnung von Drogentherapien und Ähnliches.     
Während das restliche
Reformpaket sich also im Großen und Ganzen Qualitätsverbesserungen und mehr
Rechtsschutz verschreibt weist das geplante Mandatsverfahren in die
Gegenrichtung: man sollte diesen Punkt noch einmal überdenken und sich die
Erwägungen ansehen, mit denen die Strafverfügung vor 15 Jahren abgeschafft
wurde: niemand soll gerichtlich vorbestraft sein, ohne eine Gerichtsverhandlung
gehabt zu haben. Die Verhandlung ist schließlich die Kernkompetenz des
Richters/der Richterin und das wesentliche Qualitätskriteriums jedes
Behörden/Gerichtsverfahrens. Für ein angemessenes rechtliches Gehör und ein
faires Verfahren ist eine mündliche Verhandlung in einem gerichtlichen Strafverfahren
unabdingbar.
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