Gastkommentar fuer DIE PRESSE vom 21.7.2014 – Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Anklage gegen einen Demonstranten sollte Anlass sein, Auswahl und Ausbildung der Richter und Staatsanwälte zu überdenken.

 (Die Presse

Der Fall des Studenten
Josef S., der seit Ende Jänner in Untersuchungshaft sitzt, macht
Schlagzeilen. Josef S. hatte Ende Jänner an der Demonstration gegen den
Ball rechter Burschenschafter in Wien teilgenommen, in deren Zuge es zu
Ausschreitungen mit erheblichen Sachschäden gekommen war. Die
Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Landfriedensbruchs erhoben. Bisher
fand ein Verhandlungstermin statt.
Das unabhängige Gericht wird den Fall entscheiden. Bereits in diesem
frühen Stadium muss es zulässig sein, sich mit der Sprache der
Institutionen auseinanderzusetzen. Laut unwidersprochenen Berichten des
„Falter“ ist in den Akten im Fall Josef S. nicht wie üblich von
Tatverdächtigen die Rede, sondern von „Demonstrationssöldnern“, von
„Manifestanten“ und „Chaoten“, die sich „zusammenrotten“, von „Spähern“
und einer „martialischen Phalanx“, von „kohortengleichen Formationen“.
Diese Ausdrucksweise weicht von der üblichen, sachlichen Amtssprache ab.
Es sind Begriffe der Polemik und Dramatisierung, die zur politischen
Agitation eignen.
In Behördenakten haben sie im Rechtsstaat nichts
verloren, signalisieren sie doch Gleichgültigkeit, wenn nicht
Feindseligkeit gegenüber den Grundrechten der Meinungs-, der
Versammlungs- und der Demonstrationsfreiheit. Sie vermitteln (jedenfalls
im Kontext der Strafverfahren Tierschützer und Votivkirche/Schlepperei)
den Schluss, die Behörden hätten eine Abneigung gegen
zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt.
Demonstrationen
verursachen Unannehmlichkeiten: Verkehrsstaus, Mehrarbeit und fallweise
Gefahren für die Behörden, Umsatzeinbußen für Geschäfte. Sie
rechtfertigen nie Ausschreitungen. Das ändert aber umgekehrt nichts
daran, dass die Versammlungsfreiheit zentrales Grund- und Freiheitsrecht
und zugleich verfassungsrechtliche Absicherung zivilgesellschaftlichen
Engagements ist.
Polizei und Justiz haben die Versammlungsfreiheit
nicht nur zu schützen, sondern aktiv zu garantieren. Der Begriff des
„Demonstrationssöldners“ denunziert und verhöhnt das Grundrecht.
Und
noch etwas fällt auf: Im Strafverfahren geht es in der Regel darum,
einer konkreten Person eine konkrete Handlung nachzuweisen. Das
Einschlagen einer Fensterscheibe, die Verletzung eines Menschen, den
Verkauf eines Säckchens Heroin. Im Fall Josef S. weicht die Polizei
dieser mühsamen Ermittlungsarbeit und Beweisführung aus, indem sie mit
Landfriedensbruch einen Tatbestand heranzieht, der die bloße Anwesenheit
an einem Ort bzw. Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestraft.
Ähnlich
war die Polizeitaktik im Tierschützerverfahren, als man wegen des
Delikts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. In beiden
Fällen kommen Tatbestände zur Anwendung, die der Gesetzgeber für
Ausnahmesituationen – zur Bekämpfung von Terror- und Mafianetzwerken
bzw. für Zeiten des Aufruhrs – geschaffen hat. Landfriedensbruch etwa
war lange Jahre totes Recht. Die Anwendung der sogenannten
Organisationsdelikte gerade im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichem
Engagement bewirkt Einschüchterung und ist verfassungs- und
demokratiepolitisch fatal.
Was treibt die Polizei, und warum
gelingt es der Justiz so schwer, sich von der Arbeit der stärker
politisch beeinflussten Polizei abzugrenzen? Liegt es an Personalauswahl
und Ausbildung? Gerade die Richterausbildung hat doch in den letzten
zwei Jahrzehnten eine Öffnung erfahren und einen Qualitätssprung
gemacht. Es gibt interdisziplinäre Seminare, Praktika bei
Wirtschaftsbetrieben, Jugendämtern und Opferhilfestellen. Angehende
Richter besuchen heute NGOs und NS-Gedenkstätten, sie diskutieren mit
Journalisten, Zeitzeugen und Schauspielern. Und dennoch: Es ist bereits
diese junge Generation, die die Protagonisten der angeführten
Strafverfahren der letzten Jahre stellt und Zweifel bei Beobachtern
weckt.
Könnte das fehlende politische Bewusstsein der Richter und
Staatsanwälte ein Erklärungsmuster dafür bieten? Als Reaktion auf die
damalige Verpolitisierung aller Lebensbereiche hat die Richterschaft in
den 1980er-Jahren einen Trennstrich gezogen und sich von der Politik
radikal distanziert. Allerdings hat man Politik mit Parteipolitik
verwechselt.

Schlüssel zum Rechtsstaat

Man kann oder soll sich als Richter von Parteipolitik fernhalten.
Verhängnisvoll ist es jedoch zu meinen, Rechtsprechung sei unpolitisch
oder könne unpolitisch sein. Genau das ist passiert. Nun ist es ein
längerer Prozess, sich wieder bewusst zu machen, dass nicht nur
gesetzliche Regelungen zu Mieten, Lebensgemeinschaften und
Drogentherapien (gesellschafts-)politische Entscheidungen sind, sondern
auch die Rechtsprechungslinien dazu. Für das Strafrecht gilt dies ganz
besonders. Das Bewusstsein, dass es sich bei alldem um politische
Vorgänge handelt, ist Voraussetzung einer ruhig abwägenden richterlichen
Tätigkeit.
Das Gesetz sieht eine Distanz von Polizei, Gericht und
Staatsanwaltschaft vor, um die wechselseitige Kontrolle zu
gewährleisten. Vielleicht benötigt diese Distanz auch räumliche
Trennung, etwa von Staatsanwaltschaft und Gericht? Bei der Wirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist man diesen Weg bereits erfolgreich
gegangen. Die räumliche Eigenständigkeit schärft Profil,
Rollenbewusstsein und Unabhängigkeit.
Im Übrigen liegt der
Schlüssel zu Qualität und rechtsstaatlicher Aufgabenerfüllung vor allem
bei Personalauswahl, Aus- und Fortbildung. Für Richter und Staatsanwälte
gilt dasselbe wie für Ärzte oder Lehrer: Man muss Menschen mögen, um
den Beruf gut ausüben zu können.
Europarat und EU arbeiten seit
einigen Jahren an gemeinsamen Standards für die Ausbildung der Richter
und Staatsanwälte. Erstaunlicherweise gibt es dabei auf dem gesamten
Kontinent eine große Übereinstimmung. War man früher auf die Vermittlung
der Gesetzeskenntnisse konzentriert, erkannte man später die Bedeutung
der sozialen Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten der Richter und
Staatsanwälte. Und aktuell folgt der nächste Schritt: Europaweit sieht
man in der Vermittlung von Werten und Haltungen, in der Arbeit an der
Persönlichkeit des Richters und Staatsanwalts die zentrale
Herausforderung der Berufsausbildung. Es geht darum, die Sensibilität
für die Bedeutung der Grundrechte im täglichen Justizbetrieb zu
entwickeln: für eine verständliche Sprache, für eine aktive anwaltliche
Vertretung oder umfassendes Dolmetschen etwa. Es geht um die Schärfung
des Sinns für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, und es geht unter
vielem anderem darum, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie
zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur zu respektieren, sondern zu
garantieren. Wenn Polizei und Justiz diese Selbstverständlichkeit und
Klarheit nicht gelingen, dann sehen sie sich zu Recht der Frage
ausgesetzt: Wie würde eine Polizei und eine Justiz, die in ruhigen
Zeiten von „Demonstrationssöldnern“ und „Zusammenrottungen“ spricht,
unter einer autoritären Regierung vom Schlag eines Viktor Orban agieren?
Der
Fall Josef S. wäre ein guter Anlass, der Personalauswahl sowie Aus- und
Fortbildung der Richter und Staatsanwälte mehr an Aufmerksamkeit und
Mittel zukommen zu lassen und neue Initiativen zu setzen – als Dienst an
Rechtsstaat und Bevölkerung.
Dr. Oliver Scheiber ist Richter,
Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Mitglied der Allianz gegen
die Gleichgültigkeit, einer Gruppe prominenter Juristen, die
Reformvorschläge für Justiz und Strafvollzug unterbreitet hat. Er gibt
hier ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 21.07.2014)

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