Recht. Gerecht?

Text für das Spectrum, DIE PRESSE – Printausgabe vom Samstag, 9.1.2016

Ist es gerecht, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Supermarktangestellte wegen eines verdorbenen Krapfens belangen, nicht aber Konzernverantwortliche, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Warum das Strafrecht eine Umorientierung braucht.
   (Die Presse

Ein Mann um die dreißig, ohne
Arbeit, befindet sich in der Parkgarage eines Wiener Lebensmittelmarkts. Dort
steht ein Flaschenrückgabeautomat, in den der Mann hineinkriecht – die Öffnung
ist schmal, doch dem Mann kommt hier seine Magerkeit nach jahrelanger
Drogenabhängigkeit zu Hilfe. Das Vorhaben, ein paar Leerflaschen herauszuholen,
scheitert. Der Mann wird von Ladendetektiven erwischt.

Ein paar Wochen später
schildern die Detektive den Vorfall vor einem Wiener Bezirksgericht. Sie müssen
schmunzeln. Irgendwie sei es schon schräg gewesen, wie der Mann da mit
blutenden Armen am Flaschenband gelegen sei. Er habe sich an den zahlreichen
Scherben Arme und Beine zerschnitten. Die Detektive hatten den Mann in ihrem
Dienstzimmer über eine Videokamera beobachten können.

Der gescheiterte Flaschendieb
heißt im Gerichtssaal Angeklagter. Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten
Diebstahl zur Last. Der potentielle Schaden wurde auf rund 5 Euro geschätzt,
anhand der Flaschen, die sich in Reichweite des Mannes neben dem Flaschenband
befanden.

Der Mann ist, wie Juristen es
ausdrücken, umfassend geständig. Seine Mutter, in deren Wohnung er lebte, habe
ihn an diesem Tag vor die Tür gesetzt. Er habe nicht gewusst wohin und auch
kein Geld für Essen gehabt. Wäre das mit den Flaschen gelungen, dann hätte er
sich im Markt mit dem Leergutbon eine Leberkässemmel und ein Bier gekauft. Er
sei verzweifelt und hungrig gewesen, mehr könne er dazu nicht sagen. Es tue ihm
leid.

Die Umstände dieses Falles sind
markant, an sich ist es aber ein klassisches Beispiel einer Strafverhandlung,
wie man sie täglich bei Wiener Bezirksgerichten verfolgen kann. In
Westösterreich ist man großzügiger, da legen die Staatsanwälte die Anzeigen zu
solchen Vorfällen oft zurück. In und um Wien wird von Gesetzesbestimmungen, die
mit „Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat“ oder „Entwendung“ überschrieben sind,
kaum Gebrauch gemacht. Anders als bei prominenten Wirtschaftsverfahren gibt es
keine Besprechungen hochrangiger Justizbeamter über die Richtigkeit der
Anklage. Und so kommen jedes Jahr hunderte Fälle vor Gericht, in denen jemand
ein Bier oder einen Nagellack stehlen wollte. Hat der Angeklagte Vorstrafen, so
kann er für den gescheiterten Bierdiebstahl für einige Monate ins Gefängnis gehen.
Gibt man diesen Angeklagten die Gelegenheit über ihr Leben zu sprechen, so
bekommt man ähnliche Biographien zu hören: oft ging der Tat ein Todesfall in
der Familie voraus, der Verlust des Partners oder eines Kindes, manchmal eine
Trennung, und oft sind die Angeklagten seit längerem depressiv oder in
psychiatrischer Behandlung. Als Erfahrungswert lässt sich sagen: ungefähr ein
Drittel der Angeklagten, die wegen eines Ladendiebstahls oder vergleichbaren
Delikts der Kleinkriminalität vor dem Bezirksrichter stehen, zeigen Symptome
einer schweren psychischen Erkrankung.

Diebstahl ist strafbar, seit
Jahrhunderten und in allen Teilen der Welt. Aber hat der Staat das Recht und
die Aufgabe, bei Bagatelldiebstählen das Unglück dieser Menschen mit
Gefängnisstrafen zu vergrößern? Was ist denn die Aufgabe des Strafrechts, und
wie ist es um den Unrechtsgehalt von Taten wie jener des Leerflaschendiebs
bestellt?

Das
Strafrecht,  so antwortet wikipedia auf
die entsprechende google-Suche, ziele vor allem auf den Schutz bestimmter 
Rechtsgüter wie beispielsweise Leben und Eigentum sowie Sicherheit und Integrität des Staates und elementarer Werte des Gemeinschaftslebens ab. Das
Strafrecht sanktioniert also die schwersten Verstöße gegen das
gesellschaftliche Zusammenleben. Strafgesetzbücher sind in der Regel
überschaubar, die vorherrschenden Delikte in Gesetz und Verhandlungssaal sind
in den meisten Staaten dieselben: Mord, Raub, Sexualverbrechen, Einbrüche,
Drogendelikte, Diebstähle. Die Vielzahl anderer Gesetzesverletzungen wird als
nicht so dramatisch verstanden, als dass die Strafgerichte einschreiten
müssten. Wer falsch parkt, wer ohne Fahrschein die U-Bahn benutzt, wer den Müll
im Park ausleert oder als Wirt die Sperrstunde überzieht, kommt nicht vor den
Strafrichter, sondern erhält eine Verwaltungsstrafe.

Die
Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist ein Prinzip des modernen
Rechtsstaats, der Gleichheitssatz ein anderes. Gleiche Sachverhalte sollen
gleich behandelt werden. Misst man das Strafrecht an diesen Maximen, dann
stellt sich – nicht nur für Österreich, sondern global – die Frage: behandelt
das Strafrecht alle gleich, handeln die Staaten verhältnismäßig? Schärfer
formuliert: ist das Strafrecht in der Aufklärung angekommen? Ist das Strafrecht
konsequent beim Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen?

Die einfache
Antwort lautet: nein. Je größer und breiter die Gefährdung von Gesundheit und
Menschenleben ist, umso schwächer ist der strafrechtliche Schutz. Und das liegt
nicht so sehr an den Strafgesetzen, als vielmehr an der Strafrechtspraxis.
Weltweit lässt sich beobachten, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mit der
Verfolgung der schwerwiegendsten Kriminalität überfordert sind – es fehlt gleichermaßen
an Kompetenz wie an Mut. Man verfolgt weiter das bereits seit Jahrhunderten Verfolgte.
Den Zweck des Strafrechts verfehlt man immer deutlicher.

Anschauliche
Beispiele dafür gibt es sonder Zahl. In Kampanien, in der Gegend von Neapel und
Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien
angelegt.  Haus- wie Sondermüll wurde und
wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit
Erde beschüttet und dienen als Gemüseplantagen. Die Region hat heute die
höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl
der Tumorerkrankungen hat sich allein
zwischen 2008 und 2012 mehr als
verdreifacht. Ärzte sprechen von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs.
Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt
ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Der Chef des
Nationalen Krebsforschungsinstituts in Neapel, Giuseppe Comella, stellte vor einiger
Zeit fest, es sei eindeutig, dass
die Sterblichkeitsrate der Bevölkerung
in der Nähe von Müllhalden und Orten, wo heimlich Abfälle vergraben werden,
höher ist. Ein Onkologe aus der Region, Antonio Marfella, berichtet, dass genau
jene Krebsarten zunähmen, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind.

Das Müllproblem Kampaniens ist
ein europäisches – bereits 1997 sagte der Mafiaaussteiger Carmine Schiavone in einem parlamentarischen
Untersuchungsausschuss in Rom aus, dass die Camorra in Süditalien Giftmüll aus
ganz Europa lagere. Schiavone nannte die Namen der beteiligten Transportfirmen,
er führte die Ermittler zu den illegalen Müllhalden und erzählte von Lastwagen,
die aus Deutschland radioaktive Abfälle in Bleikisten angeliefert hätten.
Schiavone erläuterte, wie sein Clan Anfang der Neunzigerjahre mit dem illegalen
Müllgeschäft monatlich mindestens 700.000 Euro verdiente und damit
Bürgermeister und Polizeibeamte schmierte.

Ernsthafte
strafrechtliche Maßnahmen gab es in den 17 Jahren seit Schiavones Aussagen
nicht. Und so verwundert es wenig, dass vor einem Jahr in Kampanien
sichergestelltes
Gemüse Kadmium, Arsen und Blei in einer
Konzentration aufwies, die den erlaubten Höchstwert um das 500-Fache
überschritt. Und auch die Unternehmer, die wissentlich verseuchte Lebensmittel
vertreiben, ihre Herkunft verschleiern, sie falsch deklarieren, haben nur in
den seltensten Fällen mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Die
Gefängnisse der Welt sind voll mit Einbrechern, Dieben und kleinen
Drogenhändlern; diejenigen, die Gesundheit und Leben einer Vielzahl von
Menschen durch vergiftete Lebensmittel, durch illegale Rodungen oder
Flussverschmutzungen gefährden oder die Kinder arbeiten lassen, sucht man in
Haftanstalten vergeblich.

An den Müllverbrechen
Kampaniens sind viele beteiligt, vor Ort, aber auch unter den Müllexporteuren
in mehreren europäischen Staaten. Sie wissen, dass letztendlich zehn-, wenn
nicht hunderttausende Menschen an den Folgen dieser Umweltverbrechen sterben
werden, und sie haben dennoch wenig zu befürchten. Und das ist beileibe kein
italienisches Phänomen. Im westlichen Ungarn brach am 4. Oktober 2010 ein
Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut
wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt.
350 Häuser wurden zerstört, der Schlamm verseuchte Flüsse und den Boden auf
einem Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern.

Fünf Jahre nach der Katastrophe
sind die Strafverfahren nicht abgeschlossen: Die Katastrophe hätte nicht
vorausgesehen werden können und sei nicht auf menschliches Versagen
zurückzuführen, hieß es zuletzt von Seiten der Gerichte. Für Sanierungsarbeiten
hat die Regierung 40 Milliarden Forint (130 Millionen Euro) öffentlicher Gelder
ausgegeben.

Oder Japan: dort sind nach
neueren Expertenschätzungen als direkte Folge der Atomkatastrophe von Fukushima
vom März 2011 zwischen
40.000 und 80.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten,
außerdem bis zu 37.000 Krebserkrankungen durch strahlenbelastete
Nahrungsmittel. Allein in der Region Fukushima wurden bisher bei mehr als
55.000 Kindern Schilddrüsenzysten festgestellt, die als Vorstufe von
Tumorerkrankungen gelten. Der Reaktorunfall in Fukushima wurde zudem erst nach
einem Monat von der japanischen Regierung auf die
Katastrophenstufe sieben gestellt, also als schwerer
Unfall qualifiziert. Genauso lange hatte es im Jahr 1986 gedauert, bis der
Atomunfall von Tschernobyl ebenfalls als Katastrophe der Stufe 7 eingeordnet
wurde. Regelmäßig wird die Bevölkerung bei solchen Störfällen zu spät gewarnt,
und es gibt weder Konsequenzen für die Verursacher der Katastrophen noch für
die Behördenvertreter, die Informationen zurückhalten. Und da es keine
Konsequenzen gibt, bleibt das Muster immer gleich. Auch der jüngste Kärntner
Fall von HCB-kontaminierter Milch folgt dem bekannten Schema. Als Greenpeace die
Giftbelastung der Milch im Dezember 2014 öffentlich macht, weisen Behörden und
Politik zunächst jede Verantwortung zurück. Stück für Stück wird bekannt, dass
die Gefahren des Brückler-Baukalks seit 2004 im Umweltbundesamt dokumentiert
sind. 2011 erging ein Entsorgungsauftrag zur Verwertung des giftstoffbelasteten
Restmülls. Bereits im März 2014 wussten die Behörden von Milchproben, bei denen
die HCB-Belastung deutlich über den Grenzwerten lag. Der für Lebensmittelsicherheit
zuständige Behördenleiter meint nun, dass das Amtsgeheimnis eine Warnung der
Bevölkerung verhindert hätte. Was für eine absurde Rechtsauslegung. Der
Sachverhalt ist angezeigt.

Die Liste der Umwelt- und Lebensmittelskandale
ließe sich fortsetzen. Das Strafrecht kommt seiner Aufgabe, die Gesellschaft
vor schweren Verletzungen von Eigentumsrechten und vor Gefahren für Leib und
Leben zu schützen, immer weniger nach. Weltweit übt sich die Strafrechtspraxis
in der Verfolgung von Kleinkriminalität, stecken Polizei und Justiz den
Großteil ihrer Ressourcen in die Untersuchung von Delikten, die sich von
vornherein durch einen geringen Unrechtsgehalt und geringes Gefahrenpotenzial
auszeichnen. Umwelt- und Lebensmittelkriminalität bedrohen weltweit das Leben von
Millionen Menschen und haben kaum ein Risiko einer strafrechtlichen Ahndung.
Ähnliches gilt für viele Bereiche der Finanz- und Wirtschaftskriminalität, die
manchmal Kommunen oder Länder in ihrer Existenz bedrohen bzw. auf einen Schlag
eine Vielzahl von Anlegern um ihr Vermögen bringt. Oft verlieren auf einen
Schlag tausende Menschen durch kriminelle Machenschaften ihre jahrzehntelang
angesparten Pensionen. Es ist oftmals beschrieben worden, dass die Politik die
Kontrolle über das internationale Finanzkapital verloren hat. Global agierenden
Konzernen gelingt es, trotz hoher Gewinne durch ausgeklügelte Konzernstrukturen
und geschickte Standortwahl die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Und genau so
schaffen es manche Unternehmen, in einem weitgehend strafrechtsfreien Feld nach
Belieben zu agieren.

Eine Ursache des Dilemmas liegt
darin begründet, dass das Strafrecht zumeist an den Tatort im Inland anknüpft.
Ein europäischer Konzern, der sich irgendwo in der Welt der Kinderarbeit
bedient oder die Umwelt vergiftet, wird deshalb in Europa nicht strafrechtlich
verfolgt. Das ist nicht zeitgemäß: wirtschaftliches Handeln kennt keine
Grenzen, nur die Strafverfolgung lässt sich noch durch Grenzen behindern.
Schwere Vergehen europäischer Staatsbürger und Unternehmen sollten in Europa
genau so verfolgt werden als ob die Tat in der Heimat begangen worden wäre. Bei
politischen Verbrechen ist diese Systemumstellung bereits vor einiger Zeit
geglückt: Diktatoren und Völkermörder werden heute weltweit für ihre Verbrechen
belangt, sie können sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen.

Und auch die Konsumenten tragen
ihren Teil zur verfahrenen Situation bei, sehen sie doch über Unrecht hinweg,
wenn es nur weit genug von zu Hause ausgeübt wird. Kaum jemand würde in Wien
ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbeit in Österreich entstand; liegt der
Produktionsort im fernen Asien, so sinkt das Unrechtsempfinden im Ausmaß der
Entfernung. Wenn ein Produzent einen heimischen Fluss mit Abwässern verseucht,
wird er am österreichischen Markt recht bald Absatz- und Imageprobleme
bekommen; anders, wenn die Flussverschmutzung an einer ausländischen
Produktionsstätte stattfindet. Und Giftmüll wird ja nur deshalb aus
Zentraleuropa nach Süditalien verschafft, weil die Lagerung in Ländern wie Deutschland
auf den Widerstand der Bevölkerung stößt.
Die Strafrechtspraxis erklärt
fehlende Erfolge bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität oft mit der
Komplexität der Materie, und verweist bei der Umwelt- und
Lebensmittelkriminalität auf den schwer zu belegenden Zusammenhang zwischen
Schadstoffausstoß und Erkrankung. Die Argumentation hat einen wahren Kern, ist
aber vor allem eine Schutzbehauptung. Es geht nämlich um den Ressourceneinsatz.
Würde man ähnlich viele Personen und Geldmittel im Kampf gegen Finanz- und Umweltkriminalität
einsetzen wie im Kampf gegen Ladendiebe, dann würden sich schnell ähnliche
Ermittlungserfolge und Verurteilungsraten einstellen. 

Das Strafrecht mit seinen
vielen archaischen Elementen bedarf einer völligen Umorientierung. Wir müssen
uns fragen: ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die
Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin
Angestellte von Supermärkten belangen, wenn ein verdorbener Krapfen verkauft
wurde, aber Konzernverantwortliche ungeschoren lassen, die systematisch
verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Es ist richtig, die
Ahndung der Kleinkriminalität hat Modernisierungen wie den
Täter-Opfer-Ausgleich oder die Alternative der gemeinnützigen Arbeit erfahren.
Seiner Aufgabe, die schwersten Störungen des gesellschaftlichen Friedens zu
sanktionieren, kommt das Strafrecht nur völlig unzureichend nach. Wir sollten
zumindest die Unverhältnismäßigkeit und Unzulänglichkeit des Systems im
Hinterkopf haben, wenn wir die Armen und Kranken durch die Strafjustiz
schleusen. 
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