Polarisierung oder Fortschritt

Der Konflikt Mitterlehner-Lopatka reicht über den Tag
hinaus. Sein Ausgang könnte für den Weg Österreichs in den nächsten Jahren
entscheidend sein. Man hört oft die Einschätzung, dass Lopatka durch seine Unterstützung
für Kurz mittelfristig die besseren Chancen habe. Ist das wirklich so? Die
Unterstützung von Franz Fischler, Claus Raidl und zahlreicher amtierender
ÖVP-Bürgermeister und ehemaliger
ÖVP-Landeshauptleute für Alexander Van der Bellen zeigt, dass jener
Parteiflügel, dem die Rolle der ÖVP als staatstragender Partei bewusst und
wichtig ist, noch lebendig ist.

Man sollte meinen, dass das Bekenntnis zu unserer liberalen,
humanistischen Verfassung, zu einer solidarischen Gesellschaftsordnung und zur
Europäischen Union als Friedensprojekt die beiden Regierungsparteien über alle
sonstigen Unterschiede hinweg verbindet. Wir sehen, dass dieser Grundkonsens,
der definitonsgemäß eine entschiedene Ablehnung aller rückwärtsgewandten, rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräfte umfasst, in Österreich nicht so ausgeprägt
ist wie etwa in Frankreich oder Deutschland. Ein früherer Mitarbeiter Jean
Claude Junckers hat mir kürzlich erzählt, Juncker habe in seiner Luxemburger
Zeit öfter gemeint: „Sie werden bei mir keine großen Konflikte und Unterschiede
zu den sozialdemokratischen Werten finden. Ich bin ein christlicher Politiker,
habe also ein ähnliches Wertekonzept wie die Sozialdemokraten.“ Im Unterschied
dazu gibt es in der ÖVP einen Flügel, der sich in der Zusammenarbeit mit
Rechtspopulisten und Rechtsextremen offenkundig wohler fühlt als in der
Kooperation mit Sozialdemokraten. Und es gibt Sozialdemokraten, die vergessen
haben, wofür die Sozialistinnen und Sozialisten in den 1930er- und
1940er-Jahren gekämpft haben. Reinhold Mitterlehner steht für ein Modell der Zusammenarbeit
und des gesellschaftlichen Ausgleichs. Er verdient deshalb die breite Unterstützung
auch von politisch Andersdenkenden genau so wie etwa Michael Häupl und
Alexander Van der Bellen; sie alle verbindet das Bemühen um einen ruhigen Ausgleich von Interessen ohne Hass und wechselseitiges Ausspielen. Mitterlehners Schritt, den Konflikt anzusprechen und auszutragen und die Dinge klar zu benennen, ist mutig und für Österreich ungewohnt. Es geht nun darum, ob Österreich in den nächsten Jahren
Schauplatz ständiger Polarisierung und Hetze sein soll oder ein Land, das seine
vergleichsweise sehr gute Lebensqualität durch Investitionen in Forschung,
Bildung, Gesundheitswesen und Stärkung des 
Sozialstaats sichert und ausbaut.         
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