Die Staatsanwaltschaften brauchen Weisungsfreiheit

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Texts ist im FALTER Nr. 47/2017 erschienen

Die großen Parteien des Landes zeigen in den letzten Jahren wenig
Interesse an der Justizpolitik. Lebhafte Diskussionen zu Justizfragen sind
selten geworden. Mit dem Justizsprecher der Grünen Albert Steinhauser scheidet einer
der versiertesten Akteure der Justizpolitik aus dem Parlament aus. Von den im
Parlament verbliebenen Parteien hat vor der Wahl lediglich die Liste Pilz ein
umfassendes Justizprogramm präsentiert. Welche justizpolitischen Vorstellungen
die über eine Regierung verhandelnden Parteien haben, ist offen. Die
punktuellen Einwürfe von ÖVP-Chef Kurz im Wahlkampf – die Strafen für
Gewalttaten seien im Verhältnis zu Vermögensdelikten zu gering, Vergewaltigung
werde oft nur milde bestraft, man benötige Mindeststrafen – sind im Befund
falsch und antworten überdies mit überholten Konzepten.
Justizminister Brandstetter hat in den letzten Jahren
einiges vorangebracht – eine Reform von Jugendstraf- und Sachwalterschaftsrecht
etwa, sowie erste Reformen im Strafvollzug. Vor allem aber hat Brandstetter den
Zugang zum Recht durch Gebührensenkungen erleichtert und nach innen und außen
laufend Sensibilität und Empathie der Justizorgane im Umgang mit den
Bürgerinnen und Bürgern eingefordert; diese Neuorientierung ist auch
international eine Hauptaufgabe der Justizsysteme.  Negativ in der Bilanz fällt die Reform des
Untreuetatbestands auf, die dem Wirtschaftsstrafrecht einen wesentlichen Zahn
gezogen hat.
Als wahrscheinlich wird derzeit gehandelt, dass die
Justizagenden zur FPÖ wandern. Das würde Brandstetters Agenda unterbrechen und weckt
verbreitet Bedenken, die unter anderem darauf zurückgehen, dass die erste
schwarz-blaue Regierung 2000 in einer für Österreich beispiellosen Art
unliebsame Richter persönlich angegriffen und nicht zu Gesicht stehende
Einrichtungen wie den bewährten Wiener Jugendgerichtshof über Nacht aufgelöst
hat. Der damalige Machtkampf zwischen Regierung und Richterschaft – er gipfelte
in einem Offenen Brief der Richterschaft zur Verteidigung der Unabhängigkeit –
ist in Fachkreisen nicht vergessen. Die Tatsache, dass jetzt noch viele
Strafverfahren gegen frühere FPÖ-Politiker laufen, der Justizminister aber
zugleich oberster Herr über die Staatsanwaltschaften ist, vermittelt jedenfalls
kein gutes Gefühl. Eine neue Regierung könnte diesen Bedenken durch ein
Maßnahmenpaket vertrauensbildend entgegenwirken und fällige Reformschritte
setzen.
Die Zeit ist längst reif für eine völlige
Weisungsfreistellung der öffentlichen Anklage. Immer noch steht der
Justizminister an der Spitze der Staatsanwaltschaften – ein System, das 1995
noch akzeptiert wurde, heute aber einen EU-Beitritt hindern würde. Jedem
Strafverfahren, an dem Politiker oder Wirtschaftsgrößen beteiligt sind, haftet
damit der Verdacht der politischen Einflussnahme oder zumindest des
vorauseilenden Gehorsams von Staatsanwaltschaften an. Nach jahrzehntelanger
Diskussion und einem Herumdoktern an Details wäre die Abschaffung der
Weisungskette ein Befreiungsschlag in mehrfachem Wortsinn. Die
Weisungsunterworfenheit bedeutet in der Praxis, dass Staatsanwältinnen und
Staatsanwälten in wichtigen Causen gleich von mehreren vorgesetzten Stellen
beobachtet werden. Allein das Schreiben von Berichten nach oben konsumiert
wertvolle Zeit und Energie und demotiviert. Die Wirtschafts- und
Korruptionsstaatsanwaltschaft unterliegt zwar einem gelockerten Weisungsrecht,
doch bleibt auch hier zu viel Sand im Getriebe. Ermittlungen in großen
politischen Fällen, in Wirtschafts- und Korruptionssachen schleppen sich über
Jahre hin und das Agieren der öffentlichen Anklage vermittelt nicht den
Eindruck von Dynamik und Entschlossenheit. Das Potenzial des Abschöpfens
krimineller Vermögen, international ganz oben auf der Agenda der Kriminalitätsbekämpfung,
ist bisher nicht erkannt bzw. nicht umgesetzt. Die Weisungsfreiheit sollte dem
gesamten System Leben einhauchen. Die bekannten Bedenken gegen weisungsfreie
Staatsanwaltschaften überzeugen nicht – denn alles Agieren der Staatsanwaltschaften
unterliegt der Kontrolle unabhängiger Gerichte. Gefährlich für den Rechtsstaat
ist eher die Beißhemmung einer öffentlichen Anklage, die auf das Wohlwollen des
jeweiligen Justizministers angewiesen ist. Einer Untätigkeit von
Staatsanwaltschaften könnte durch erweiterte Rechte der Geschädigten oder ein
Antragsrecht eines Generalstaatsanwalts vorgebeugt werden.
Die Weisungsfreistellung der Staatsanwaltschaften ließe sich
durch die Berufung von Sonderstaatsanwälten zur Bekämpfung von Hate crime und zur Verfolgung von
Kriegsverbrechen ergänzen. Beide Bereiche sind vernachlässigt. Hate crime ist aktuell eines der
Phänomene, die den gesellschaftlichen Frieden am nachhaltigsten stören und
viele Menschen persönlich bedrohen. Es geht darum, Drohungen und Beleidigungen
im Internet als strafrechtswidrig zu benennen und effizient zu verfolgen. Eine
kleine spezialisierte Einheit von Staatsanwälten könnte ein entschiedenes
Auftreten des Staates in diesem Bereich sicherstellen. Dasselbe gilt für
Kriegsverbrechen und verwandte Delikte. Im Gegensatz zu Deutschland ist es
Österreich bisher nicht gelungen, die letzten lebenden Kriegsverbrecher der
NS-Zeit aufzuspüren und anzuklagen. Auch das wird ohne spezialisierte und vor
allem auch motivierte Sondereinheit nicht funktionieren. Es bietet sich an,
eine solche Sonderstaatsanwaltschaft auch mit der Verfolgung sonstiger
Kriegsverbrecher zu betrauen – man denke an Täter aus den Jugoslawienkriegen,
die nun in Österreich leben.
Schließlich ließen sich in ein nächstes Justizreformpaket neue
Straftatbestände zu psychischer Gewalt aufnehmen und einfachere
Klagsmöglichkeiten für Konsumenten und Kleinunternehmer (Sammelklage). Der
Zugang zum Recht sollte durch eine Totalreform der Verfahrenshilfe und eine
Offensive für Verständlichkeit erleichtert werden. Ein Entwurf für das wichtige
Maßnahmenvollzugsgesetz liegt bereits vor, die Schaffung einer Justizakademie
nach EU-Standards harrt seit langem der Realisierung.
Man darf gespannt sein, was davon sich im Justizteil des
kommenden Regierungsübereinkommens findet.

Oliver
Scheiber ist Richter in Wien. Er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder.
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