Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

Kommentar der Anderen für den Standard vom 17.4.2020

Oliver Scheiber

Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

In der Krise sind Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde
Oliver Scheiber


Im Gastkommentar fordert der Richter Oliver Scheiber, dass Grundrechtsdiskussionen künftig breiter geführt werden müssen. Etwa in der Umwelt- und Klimafrage.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben Grundrechtsdiskussionen ausgelöst. Es geht zum einen um die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen, die in die Grundrechte der persönlichen Freiheit, des Privatlebens, der Erwerbsfreiheit und der Versammlungsfreiheit eingreifen. Und zum anderen um die App des Roten Kreuzes, ein Warnsystem, das mit einem Datenabgleich verbunden ist.
Gesetzliche Eingriffe, Grundrechtseingriffe im Besonderen, beruhen in der Regel auf Abwägungen. Wenn man in seiner Wohnung in der Nacht Musik nicht unbegrenzt laut spielen darf, dann bedeutet das für den, der gern laut Musik hört, eine Einschränkung. Zugleich schützt es aber die Freiheit des Nachbarn, ruhig zu schlafen. Und so ist das bei den meisten gesetzlichen Vorgaben. Tempolimits im Straßenverkehr stören den, der gern schnell fährt, sie schützen aber Gesundheit, Leben, Ruhe der anderen und sollen den Schadstoffausstoß reduzieren.

Vernünftiger Ausgleich

Die meisten Grundrechtseingriffe führen uns also zur Frage der Verhältnismäßigkeit: Eingriffe sind so auszugestalten, dass sie einen vernünftigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung schaffen oder zwischen Interessen des Einzelnen und denen der Allgemeinheit oder des Staates. Handyüberwachung etwa ist ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre, aber nach überwiegender Ansicht zur Aufklärung der allerschwersten Straftaten und unter richterlicher Kontrolle ein verhältnismäßiges Mittel des Strafrechts.
Diese Verhältnismäßigkeit dient als Schlüsselkriterium, wenn wir Grundrechtseingriffe auf ihre Legitimität und Sinnhaftigkeit prüfen. Das andere, bisher viel zu wenig beachtete Kriterium, ist jenes der Gleichheit. Wenn wir aus der Vogelperspektive auf die Vielzahl der grundrechtsrelevanten staatlichen Regelungen und Eingriffe blicken, erfolgen all diese Maßnahmen im Idealfall unter dem Postulat der Gleichbehandlung aller Menschen. Es soll nicht bei der einen Gruppe mehr, bei der anderen weniger Eingriffe geben, und es dürfen nicht verschiedene Schutzniveaus entstehen.

Schutz für Bevölkerung

Bei den Corona-Maßnahmen geht es primär darum, eine Überlastung des Gesundheitswesens und damit sehr hohe Sterberaten zu verhindern. Geschützt werden soll die gesamte Bevölkerung in ihrem Recht auf Leben und Gesundheit durch diverse Beschränkungsmaßnahmen, die viele treffen. Die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftssperren sind grundrechtlich gut vertretbar, wenn sie auf Basis wissenschaftlicher Bewertung zielgerichtet und befristet eingesetzt werden. Gerade die oft beklagten Einschränkungen beim Joggen oder bei Städtereisen sind wohl sehr gut zumutbar und angemessen, um viele schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Die Beschränkungen sind es auch wert, wenn es ausschließlich um den Schutz des besonders exponierten Gesundheitspersonals geht. Wenn wir nicht an unseren sozialen und zivilisatorischen Errungenschaften kratzen wollen, sind Beschränkungen auch gerechtfertigt, wenn sie nur die Gruppe sehr alter Menschen schützen.
Die schwierigeren Fragen sind jene unter dem Gleichheitsaspekt: Die Geschäftsschließungen hatten das Ziel, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit starkem Kundenkontakt und damit Infektionsrisiko zu schützen. War es so gesehen vertretbar, Supermarktpersonal und Reinigungskräfte wochenlang ungeschützt weiterarbeiten zu lassen? Und ist es vertretbar, ausgerechnet das Personal der Baumärkte frühzeitig wieder in den Kundenkontakt zu schicken?

Verpflichtung zur Weiterarbeit

Tatsächlich sind mehrere Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde. Medizinisches Personal hat zu Recht von Beginn an nach Schutzkleidung verlangt; langsam sehen wir, dass auch bei Supermarktkassen gute Plexiglaslösungen möglich sind. Zumindest im Nachhinein scheint, dass das Supermarkt- und Trafikpersonal oder auch Zusteller lange unzureichend geschützt wurden. Das grundrechtliche Problem liegt also weniger bei den Ausgangsbeschränkungen und Schließungen, als bei der Verpflichtung einzelner Arbeitnehmergruppen zur Weiterarbeit unter unzureichenden Schutzmaßnahmen.


Schutzmaßnahmen im Lebensmittelhandel kamen erst relativ spät.

Foto: APA / Helmut Fohringer
Grundrechtsdiskussionen benötigen in der Zukunft einen breiteren Ansatz. Das gilt etwa für die Umwelt- und Klimafrage. Wenn die Durchschnittstemperaturen und Feinstaubbelastungen rasch ansteigen, dann bedroht das nach unserem heutigen Wissensstand massiv Gesundheit und Leben von Menschen. Handeln wir also so entschlossen, wie das in den letzten Wochen praktiziert wurde: Großräumige Fußgänger- und Begegnungszonen, niedrige Tempolimits und geänderte Grenzwerte für Maximalverbrauch und Schadstoffausstoß von Fahrzeugen sind verhältnismäßige und gebotene Mittel, die Gesundheit der breiten Bevölkerung zu schützen.

Neuverteilung der Macht

Die grundrechtliche Lehre aus der Corona-Pandemie sollte sein, dem gesundheitlichen Schutz der Allgemeinheit mehr Bedeutung beizumessen und das Entstehen besser und schlechter in ihrer Gesundheit und in ihrem Leben geschützter Gruppen von Menschen zu vermeiden. Das gelingt nicht ohne eine Neuverteilung gesellschaftlicher Macht: Denn der gute Lebensstil von vielen ging die letzten Jahrzehnte auf Kosten der Gesundheit und Freiheit von noch viel mehr Menschen. Eine grundrechtsorientierte neue Politik umfasst radikale Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen genau so wie eine bedingungslose Seenotrettung im Mittelmeer.
Corona hat gezeigt, zu welchen Anstrengungen unsere Gesellschaften im Stande sind; nutzen wir sie dazu, allen Menschen ihre auf dem Papier garantierten Rechte tatsächlich zukommen zu lassen. (Oliver Scheiber, 17.4.2020)

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