„Wir“ von Judith Kohlenberger – Rezension

Ein Plädoyer für Solidarität  – Besprechung des Essaybands „Wir“ von Judith Kohlenberger (Kremayr & Scheriau, 2021)

Judith Kohlenberger gehört zur Generation junger österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in den letzten Jahren ihre Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln und der Gesellschaft zugänglich machen. Die Kulturwissenschaftlerin, die an der Wirtschaftsuniversität Wien am Institut für Sozialpolitik forscht und lehrt, hat sich in den letzten Jahren schwerpunktmäßig mit Flucht- und Migrationsforschung und Studien zur gesellschaftlichen Teilhabe beschäftigt.

Nun hat Judith Kohlenberger einen Essayband zum Thema „Wir“ vorgelegt – ein Thema, das durch die Coronakrise an Aktualität gewonnen hat, sind doch am Beginn der Pandemie Rufe nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und einem Miteinander laut geworden.

Judith Kohlenberger stellt in ihrem Text die grundsätzliche Frage, wer aller zum „Wir“ gehört und wie der Weg zur gesellschaftlichen Gemeinsamkeit führt. Denn während das „Du“ oder „Ich“ für uns recht alle klar am Tisch liegt, ist das „Wir“ ein Begriff, der sich je nach Kontext ändert und für jeden etwas anderes bedeuten kann – diese Ausgangslage skizziert Kohlenberger  eingangs des bei Kremayr & Scheriau erschienen neuen Bandes. In acht, aufeinander aufbauenden Kapiteln geht Judith Kohlenberger dann der Frage nach, wie ein „Wir“ definiert werden und welchen Mehrwert ein „Wir“ haben kann. Denn allzu oft, darauf weist Kohlenberger hin, wird das „Wir“ so definiert, dass es ausschließend wirkt: etwa bei der Anknüpfung der Gemeinsamkeit an die Staatsbürgerschaft.

Der Band plädiert, das sei vorweggenommen, für ein breites Miteinander, für gesellschaftliche Solidarität und für den Versuch, Diskriminierungen auszuschalten. Den Weg dorthin zeichnet Judith Kohlenberger anhand soziologischer Forschungs- und Studienergebnisse nach, alles in leicht verständlicher Sprache und mit Hilfe vieler einprägsamer Bilder und Beispiele. Der Band legt einen Fokus auf jene Gruppen der Gesellschaft, die vom „Wir“ im öffentlichen Diskurs oft ausgeschlossen bleiben und mit denen sich die Autorin auch wissenschaftlich beschäftigt: Flüchtlinge, zugewanderte Menschen oder Menschen nicht weißer Hautfarbe. Judith Kohlenberger benennt Problemfelder und redet Konflikte nicht klein. Ein entscheidender Gedanke des Textes ist, dass gesellschaftliche Konflikte, oft als Polarisierung der Gesellschaft beschrieben, nicht unbedingt negativ zu sehen sind, sondern sich als mitunter schmerzliche Prozesse eines Zusammenwachsens einer bunt gewordenen Gesellschaft betrachten lassen.

Der Essay bietet eine Vielzahl von Denkanstößen, etwa den Hinweis, dass eine breitere Solidarität und ein breites „Wir“ zur Voraussetzung hat, dass sich die Privilegierten ihrer Privilegien bewusst sind. Privilegien ließen sich, so Kohlenberger, als Chancen verstehen, die man ohne eigenes Zutun erhält, aber dennoch selbst nutzen muss – für sich und für die Gesellschaft. Gerade die Corona-Krise habe uns „frappant vor Augen geführt, wie ungleich unsere Gesellschaft tatsächlich ist.“ Zur Bewusstmachung von Privilegien bringt der Essayband ein Beispiel, das sich einprägt: die Situation einer im Auto laut Hip-Hop hörenden weißen jungen Frau, die von der US-Polizei bei einer Verkehrskontrolle angehalten wird. Bei der Anhaltung wird der Frau bewusst, dass die Beamten auf Grund der lauten Hip-hop-Musik mit einer schwarzen Lenkerin gerechnet haben und nun unschlüssig sind, wie sie sich verhalten sollen. Kohlenberger geht dann einen Schritt weiter und fordert dazu auf, solche Privilegien aktiv zurückzuweisen: „Reject your privilege ist ein Zeichen von Solidarität und ein wesentlicher Baustein für ein größeres, inklusiveres Wir.“

Der Essay befasst sich auch mit Tendenzen, die einem breiten „Wir“ entgegenlaufen, also verschiedenen Formen der Abgrenzung, Ausgrenzung und des Ausschlusses. Das so genannte Othering beschreibt Kohlenberger als eine Form der Selbstbestätigung: Um uns selbst aufzuwerten, uns zu erhöhen und uns gut in der eigenen Identität zu fühlen, würden wir den anderen abwerten. Kohlenberger hält das nicht nur für den, der abgewertet wird, für gefährlich und falsch, sondern auch für jenen, der abwertet. Überhaupt sei es im eigenen Interesse sinnvoll, Ungleichheiten zu reduzieren und bisher ausgeschlossene Gruppen ins Wir aufzunehmen: „Dafür gibt es vielfache empirische Evidenz: Beenden wir Ausgrenzung und stärken die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, so stärken wir alle.“ In der großen Sicht sei eine gleichberechtigtere Welt auch eine sicherere, gesündere und lebenswertere Welt.

So ist dieser Essayband ein kraftvolles Plädoyer für ein starkes gesellschaftliches Miteinander, das alle aufnimmt und einschließt. Judith Kohlenberger arbeitet heraus, dass gemeinsames Handeln alle zusammen, aber auch jeden einzelnen stärker macht – und dass das keine bloße Phrase ist, sondern eine These, die sich wissenschaftlich ableiten und belegen lässt. Ihre Argumentation vertritt Judith Kohlenberger im Essayband so, wie man die Autorin in den letzten Jahren bei vielen Medienauftritten kennen gelernt hat: mit viel Sachkenntnis, Empathie und dem bedingungslosen Eintreten dafür, dass allen Menschen gleiche Rechte und Chancen zu kommen sollen. Und so vermag der Band sicher Viele von der am Beginn formulierten Intention zu überzeugen: „Ziel dieses Buches ist es, seinen Leser*innen die Bestärkung zu geben, dass ein anderes Wir möglich ist. Ein Wir, das niemanden zurücklässt. Ein Wir, das nicht auf Ausgrenzung oder Abwertung beruht, sondern auf Miteinander und Füreinander.“

 

Zur Autorin: Judith Kohlenberger ist promovierte Kulturwissenschaftlerin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie forscht zu Fluchtmigration, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe. 2019 wurde sie mit dem Kurt-Rothschild-Preis für eine der europaweit ersten Studien zum Fluchtherbst 2015 ausgezeichnet. Sie lehrt an der WU Wien und der FH Wien, schreibt für den FALTER Think Tank und engagiert sich in Fachgremien und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen im Menschenrechtsbereich.

Judith Kohlenberger, Wir. Kremayr & Scheriau 2021

112 Seiten, ISBN: 978-3-218-01255-3, 18,00 €.

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