Eine Brücke für Friedrich Zawrel

Text für den falter.at am 28.5.2024

In der NS-Zeit von einem Nazi-Arzt gefoltert, nach dem Krieg vom selben Mediziner wegen „seelischer Abartigkeit“ hinter Gitter gebracht – und erst viel zu spät rehabilitiert: Jetzt trägt eine Brücke in Meidling den Namen von Friedrich Zawrel und erinnert die Verbrechen, die an ihm begangen wurden.

OLIVER SCHEIBER
VOM 28.05.2024

Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (Mitte) und Laudator Oliver Scheiber (ganz links) bei der Enthüllung der Gedenktafel für Friedrich Zawrel (© Veronika Hofinger)

 „Jetzt müssen die Damen und Herren Richterinnen und Richter also über die Friedrich-Zawrel-Brücke gehen, bevor Sie Recht sprechen.“ So oder so ähnlich und jedenfalls mit einem Schmunzeln hätte der 2015 verstorbene Friedrich Zawrel wohl reagiert, hätte er einen Beschluss der Stadt Wien vom Dezember 2023 noch erlebt. Mit diesem Beschluss wurde die Umbenennung der Meidlinger Fabriksbrücke in Friedrich-Zawrel-Brücke amtlich. Die Wahl des Ortes ist stimmig: In Meidling verbrachte Zawrel seine letzten Lebensjahre, das Bezirksgericht, das nun an die Friedrich-Zawrel-Brücke anschließt, hatte er mehrfach besucht. Obwohl er in seinem Leben nicht nur ein Mal zum Opfer einer unmenschlichen Justiz wurde, sah sich Zawrel in seinen letzten Lebensjahren doch versöhnt mit der Staatsmacht. Die Einladungen der Justiz, an der Ausbildung angehender Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte teilzunehmen, hat Friedrich Zawrel immer gern angenommen. In Summe hat er seine Lebensgeschichte wohl einer hohen dreistelligen Zahl von Juristinnen und Juristen vortragen und mit ihnen diskutiert.

Friedrich Zawrel gehört zu den bekanntesten Zeugen der NS-Zeit in Österreichs. Selbst Opfer der Nationalsozialisten hat er in seinen letzten Lebensjahren tausenden Schülerinnen und Schülern über die Verbrechen des NS-Regimes berichtet und einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung geleistet. Zawrel erhob seine Stimme für die Vielen, die den NS-Terror nicht überlebt hatten; und für die Vielen, denen so wie ihm selbst nicht nur in der NS-Zeit Unrecht widerfuhr, sondern auch in der neuen, Zweiten Republik nach 1945. Denn Zawrel hatte unter den Folgen der NS-Zeit lange zu leiden; Respekt, Rehabilitation und Würdigung erfuhr er erst in seinen letzten Jahren.

Friedrich Zawrel wurde 1929 geboren. Er ist fünf Jahre alt, als seine Mutter die Miete für die kleine Wohnung in Kaisermühlen nicht mehr zahlen kann. Die Familie wird delogiert, die Kinder werden der Mutter abgenommen und in die Kinderübernahmestelle gebracht. Friedrich Zawrel kommt zunächst zu Pflegeeltern, 1941, elf Jahre alt, wird er in das Städtische Erziehungsheim „Am Spiegelgrund“ eingewiesen. Bei der Aufnahme wird er vom jungen Arzt Heinrich Gross untersucht. In den folgenden Jahren wird Zawrel von Gross und dessen Kollegen gefoltert, auf eine unvorstellbare Weise, er ist eingesperrt, wird in nasse Tücher gewickelt, sieht kaum Tageslicht, erhält keine Schulbildung. 1944 verhilft eine Krankenschwester dem Kind Friedrich Zawrel zur Flucht. Sie lässt die Türen offen, rettet Zawrel das Leben. Rund 800 Kinder finden keine Hilfe, sie werden am Spiegelgrund ermordet.

Der abstruse Inhalt der in der Nazizeit erstellten ärztlichen Gutachten verfolgt Friedrich Zawrel ein Leben lang. Zawrel kann im Nachkriegsleben nicht richtig Fuß fassen. Er begeht Vermögensdelikte und trifft 30 Jahre nach Kriegsende wieder mit Gross zusammen. Gross soll für das Gericht ein Gutachten über Zawrel erstatten. Zawrel spricht Gross auf dessen Tätigkeit als Arzt am Spiegelgrund an. Gross erklärt sich nicht befangen, sondern verfasst ein vernichtendes Gutachten über Zawrel. Die „seelische Abartigkeit ist hochgradig“ schreibt Gross und bringt Zawrel so hinter Gitter. Wegen des Diebstahls von 20.000 Schilling wird Zawrel zu sechs Jahren Haft und zehn Jahren Anhaltung in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter verurteilt.

Im März 2000 hat sich das Szenario endlich umgekehrt. Heinrich Gross ist des mehrfachen Mordes angeklagt. Es sollte die letzte Strafverhandlung wegen eines NS-Verbrechens in Österreich sein. Gross hatte in der NS-Zeit wehrlose Kinder am Spiegelgrund in Wien ermordet, im Schatten der wunderbaren Otto-Wagner-Kirche. Am Ort seiner Mordstaten verblieb Gross auch nach 1945, wurde Primar in derselben Spitalsanlage, stieg zum meistbeschäftigten Gerichtssachverständigen Österreichs auf. Jahrzehnte sollte es dauern, bis er endlich angeklagt wurde. Gross rettete sich im Jahr 2000 in die Verhandlungsunfähigkeit, das Verfahren wurde ohne Urteil abgebrochen. Eine Niederlage für das Rechtssystem, so wie es die gesamte Karriere des Heinrich Gross war.

Die Biographie des Heinrich Gross ist furchterregend, und doch eine typische österreichische Biographie des 20. Jahrhunderts. Der Karrierist und Opportunist Gross hatte als junger Arzt am Euthanasieprogramm der Nazis mitgewirkt, seinen Sadismus im geplanten Massenmord der Nazis ausgelebt. Den von ihm und seinem Umfeld getöteten Kindern entnahm Gross die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine Karriere in der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied von BSA (Bund Sozialistischer Akademiker) und SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Primariat, die Zertifizierung als Gerichtssachverständiger, das Goldene Verdienstzeichen der Republik.

Dass Gross spät aber doch angeklagt wurde, ist vor allem das Verdienst des 2015 verstorbenen Friedrich Zawrel. Die Biographien der beiden Männer, Gross und Zawrel, sind auf so einprägsame und schreckliche Weise miteinander verbunden, dass es bereits mehrere künstlerische Umsetzungen der Biographien gibt. Die bekannteste darunter ist Nikolaus Habjans Geniestreich, das preisgekrönte Theaterstück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“, mittlerweile eines der meistgespielten Werke des deutschsprachigen Raums.  In Elisabeth Scharangs Dokumentarfilm „Meine liebe Republik“ begleitet Florian Klenk Friedrich Zawrel bei seinen Erinnerungen.

Die Wende zum Positiven in Friedrich Zawrels Leben begann, als er als Häftling in den 1970er-Jahren wieder auf den nunmehrigen Gerichtssachverständigen Heinrich Gross traf. Zawrel, der bis dahin viel Leid in seinem Leben ertragen hatte, beginnt nun zu kämpfen. Es ist eine lange Geschichte, bis er freikommt – im Wesentlichen waren es der Arzt Werner Vogt, führendes Mitglied der Kritischen Medizin, und der Kurier-Journalist Wolfgang Höllrigl, die Zawrel den Weg in die Freiheit ebneten.  „Mein Befreier und Retter“, so nannte Friedrich Zawrel den großen Werner Vogt, der im November 2023 verstorben ist. Als Heinrich Gross Werner Vogt zivilrechtlich klagt, gewinnt Vogt. Im Urteil des Oberlandesgerichts Wien aus den 1980er-Jahren heißt es, dass „Dr. Heinrich Gross an der Tötung einer unbestimmten Zahl von geisteskranken, geistesschwachen oder stark missgebildeten Kindern (die erb- und anlagebedingte schwere Leiden hatten) mitbeteiligt war…“. Dennoch erhebt die Staatsanwaltschaft keine Anklage gegen Gross. Gross bleibt Primarius und einer der meistbeschäftigten Sachverständigen vor österreichischen Gerichten, ungeachtet großer Berichte in profil und Kurier. Immerhin: Friedrich Zawrel wurde 1981 nach insgesamt 26 in behördlicher Anhaltung verbrachten Jahren aus der Haftanstalt entlassen. Er wird nicht mehr straffällig.

Im Jahr 2000 beginnt dann das Geschworenenverfahren wegen Mordes gegen Heinrich Gross und 2002 werden die verbliebenen Teile der Körper der ermordeten Kinder vom Spiegelgrund beigesetzt. 57 Jahre nach Kriegsende. Historiker und Künstler beginnen sich für Überlebende des Spiegelgrunds zu interessieren. Zu dieser Zeit lerne auch ich Friedrich Zawrel kennen. So wie andere zieht mich das Charisma Friedrich Zawrels in den Bann. Der ohne Schulbildung aufgewachsene Friedrich Zawrel hat sich als Autodidakt Geschichte und Kunst erschlossen. Er ist ein scharfer Analytiker, er rezitiert frei die großen klassischen Dichter. Er ist illusionslos und doch nicht bitter. Und er ist ein begnadeter Erzähler. Egal welches Forum: wo Zawrel spricht, ist es mucksmäuschenstill.

Am Beginn der 2000er-Jahre tritt Friedrich Zawrel erstmals auf einer juristischen Veranstaltung auf. Im Dachgeschoß des Wiener Juridicum erzählt er vor mehr als 200 Juristinnen und Juristen seine Geschichte. Zawrel wurde nun zum gefragten Zeitzeugen an Schulen, er erhielt höchste Auszeichnungen und sprach in Justizministerium und Parlament. Durch die Aufarbeitung seines Schicksals in Literatur, Theater und Film ist Friedrich Zawrel eine späte Rehabilitierung widerfahren. Von unschätzbarem Wert für die Justiz war es, dass Friedrich Zawrel in seinen letzten Lebensjahren in der Aus- und Fortbildung der österreichischen Justiz mitwirkte. Einige hundert Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte konnten ihn hören und mit ihm diskutieren. Zawrel gehörte der Generation der letzten Zeugen an. Die Vermittlung von Wissen über die NS-Zeit wird ohne die Zeitzeugen schwieriger. Die Justiz arbeitet nun unter anderem mit künstlerischen Werken über diese Zeit. Nikolaus Habjan bietet der Justiz regelmäßig Aufführungen seines Stücks über Friedrich Zawrel als Teil von Fachseminaren an, seit vielen Jahren steht Habjan für Diskussionen über Stück und Inhalt zur Verfügung. Nikolaus Habjan führt den Weg Friedrich Zawrels auf seine eigene, wunderbare Weise weiter.

Friedrich Zawrel ist am 20.2.2015 verstorben. Der damalige Justizminister Brandstetter hat Zawrel bei der Trauerfeier gewürdigt. Als weiteres Zeichen hat Wolfgang Brandstetter dem Justiz- und Medizinkritiker Werner Vogt im September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der Republik überreicht. Die Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks von Nikolaus Habjan über die Lebenswege von Zawrel und Gross im Wiener Justizministerium hatte Zawrel gerade noch erlebt.

Bereits 2016 war im dritten Wiener Gemeindebezirk eine Schule nach Friedrich Zawrel benannt worden. Im Dezember 2023 hat die Stadt Wien dann über Anregung der Bezirksvertretung des 12. Bezirks und dank des Engagements der Bezirksspitzen Wilfried Zankl und Barbara Marx beschlossen, eine Brücke über das Wiental nach Friedrich Zawrel zu benennen. Am 28. Mai 2024 wird nun die Einweihung mit einer Veranstaltung am Bezirksgericht Meidling stattfinden.

Infos zur Veranstaltung finden Sie hier.

Der Autor:

Oliver Scheiber leitet das Bezirksgericht Meidling und ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien und an der FHWKW Wien. Gemeinsam mit den Historikern Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried R. Garscha hat er für die österreichische Justiz eine Zeitgeschichteausbildung entwickelt und umgesetzt.

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