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Österreichweite Videokonferenz von aufstehn am 10.6.2020 – Wir schreiben den Plan aus der Krise gemeinsam!

Die NGO aufstehn hat am 10. Juni 2020 die erste österreichweite Videokonferenz organisiert: 

Österreichweite Videokonferenz: „Wir schreiben den Plan aus der Krise gemeinsam!“

Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

Kommentar der Anderen für den Standard vom 17.4.2020

Oliver Scheiber

Das Grundrecht Gesundheit – nicht für alle?

In der Krise sind Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde
Oliver Scheiber


Im Gastkommentar fordert der Richter Oliver Scheiber, dass Grundrechtsdiskussionen künftig breiter geführt werden müssen. Etwa in der Umwelt- und Klimafrage.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben Grundrechtsdiskussionen ausgelöst. Es geht zum einen um die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen, die in die Grundrechte der persönlichen Freiheit, des Privatlebens, der Erwerbsfreiheit und der Versammlungsfreiheit eingreifen. Und zum anderen um die App des Roten Kreuzes, ein Warnsystem, das mit einem Datenabgleich verbunden ist.
Gesetzliche Eingriffe, Grundrechtseingriffe im Besonderen, beruhen in der Regel auf Abwägungen. Wenn man in seiner Wohnung in der Nacht Musik nicht unbegrenzt laut spielen darf, dann bedeutet das für den, der gern laut Musik hört, eine Einschränkung. Zugleich schützt es aber die Freiheit des Nachbarn, ruhig zu schlafen. Und so ist das bei den meisten gesetzlichen Vorgaben. Tempolimits im Straßenverkehr stören den, der gern schnell fährt, sie schützen aber Gesundheit, Leben, Ruhe der anderen und sollen den Schadstoffausstoß reduzieren.

Vernünftiger Ausgleich

Die meisten Grundrechtseingriffe führen uns also zur Frage der Verhältnismäßigkeit: Eingriffe sind so auszugestalten, dass sie einen vernünftigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung schaffen oder zwischen Interessen des Einzelnen und denen der Allgemeinheit oder des Staates. Handyüberwachung etwa ist ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre, aber nach überwiegender Ansicht zur Aufklärung der allerschwersten Straftaten und unter richterlicher Kontrolle ein verhältnismäßiges Mittel des Strafrechts.
Diese Verhältnismäßigkeit dient als Schlüsselkriterium, wenn wir Grundrechtseingriffe auf ihre Legitimität und Sinnhaftigkeit prüfen. Das andere, bisher viel zu wenig beachtete Kriterium, ist jenes der Gleichheit. Wenn wir aus der Vogelperspektive auf die Vielzahl der grundrechtsrelevanten staatlichen Regelungen und Eingriffe blicken, erfolgen all diese Maßnahmen im Idealfall unter dem Postulat der Gleichbehandlung aller Menschen. Es soll nicht bei der einen Gruppe mehr, bei der anderen weniger Eingriffe geben, und es dürfen nicht verschiedene Schutzniveaus entstehen.

Schutz für Bevölkerung

Bei den Corona-Maßnahmen geht es primär darum, eine Überlastung des Gesundheitswesens und damit sehr hohe Sterberaten zu verhindern. Geschützt werden soll die gesamte Bevölkerung in ihrem Recht auf Leben und Gesundheit durch diverse Beschränkungsmaßnahmen, die viele treffen. Die Ausgangsbeschränkungen und Geschäftssperren sind grundrechtlich gut vertretbar, wenn sie auf Basis wissenschaftlicher Bewertung zielgerichtet und befristet eingesetzt werden. Gerade die oft beklagten Einschränkungen beim Joggen oder bei Städtereisen sind wohl sehr gut zumutbar und angemessen, um viele schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Die Beschränkungen sind es auch wert, wenn es ausschließlich um den Schutz des besonders exponierten Gesundheitspersonals geht. Wenn wir nicht an unseren sozialen und zivilisatorischen Errungenschaften kratzen wollen, sind Beschränkungen auch gerechtfertigt, wenn sie nur die Gruppe sehr alter Menschen schützen.
Die schwierigeren Fragen sind jene unter dem Gleichheitsaspekt: Die Geschäftsschließungen hatten das Ziel, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit starkem Kundenkontakt und damit Infektionsrisiko zu schützen. War es so gesehen vertretbar, Supermarktpersonal und Reinigungskräfte wochenlang ungeschützt weiterarbeiten zu lassen? Und ist es vertretbar, ausgerechnet das Personal der Baumärkte frühzeitig wieder in den Kundenkontakt zu schicken?

Verpflichtung zur Weiterarbeit

Tatsächlich sind mehrere Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entstanden, deren Recht auf Gesundheit und Leben unterschiedlich geschützt wurde. Medizinisches Personal hat zu Recht von Beginn an nach Schutzkleidung verlangt; langsam sehen wir, dass auch bei Supermarktkassen gute Plexiglaslösungen möglich sind. Zumindest im Nachhinein scheint, dass das Supermarkt- und Trafikpersonal oder auch Zusteller lange unzureichend geschützt wurden. Das grundrechtliche Problem liegt also weniger bei den Ausgangsbeschränkungen und Schließungen, als bei der Verpflichtung einzelner Arbeitnehmergruppen zur Weiterarbeit unter unzureichenden Schutzmaßnahmen.


Schutzmaßnahmen im Lebensmittelhandel kamen erst relativ spät.

Foto: APA / Helmut Fohringer
Grundrechtsdiskussionen benötigen in der Zukunft einen breiteren Ansatz. Das gilt etwa für die Umwelt- und Klimafrage. Wenn die Durchschnittstemperaturen und Feinstaubbelastungen rasch ansteigen, dann bedroht das nach unserem heutigen Wissensstand massiv Gesundheit und Leben von Menschen. Handeln wir also so entschlossen, wie das in den letzten Wochen praktiziert wurde: Großräumige Fußgänger- und Begegnungszonen, niedrige Tempolimits und geänderte Grenzwerte für Maximalverbrauch und Schadstoffausstoß von Fahrzeugen sind verhältnismäßige und gebotene Mittel, die Gesundheit der breiten Bevölkerung zu schützen.

Neuverteilung der Macht

Die grundrechtliche Lehre aus der Corona-Pandemie sollte sein, dem gesundheitlichen Schutz der Allgemeinheit mehr Bedeutung beizumessen und das Entstehen besser und schlechter in ihrer Gesundheit und in ihrem Leben geschützter Gruppen von Menschen zu vermeiden. Das gelingt nicht ohne eine Neuverteilung gesellschaftlicher Macht: Denn der gute Lebensstil von vielen ging die letzten Jahrzehnte auf Kosten der Gesundheit und Freiheit von noch viel mehr Menschen. Eine grundrechtsorientierte neue Politik umfasst radikale Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen genau so wie eine bedingungslose Seenotrettung im Mittelmeer.
Corona hat gezeigt, zu welchen Anstrengungen unsere Gesellschaften im Stande sind; nutzen wir sie dazu, allen Menschen ihre auf dem Papier garantierten Rechte tatsächlich zukommen zu lassen. (Oliver Scheiber, 17.4.2020)

Florian Zillner: Rezension zu „Mut zum Recht“

Für die österreichische Richterzeitung hat Florian Zillner mein Buch „Mut zum Recht“ rezensiert. Der Text ist in der Richterzeitung 2020/1-2 erschienen (S. 26)

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Rezension: „Mut zum Recht“ von Oliver Scheiber
Dem viel beschworenen „leisen Tod“ der Justiz setzt Oliver Scheiber Visionen entgegen. Mit seinem Buch „Mut zum Recht“ formuliert der Wiener Strafrichter ein leidenschaftliches Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat. In seiner Streitschrift spart der Autor nicht mit Kritik am System, warnt vor einer Klassenjustiz und verlangt von seinen Kolleg*innen mehr politisches Engagement. Hat er damit wirklich recht?
Das Jahr 2019 stellte die heimische Justiz vor große und viel diskutierte Herausforderungen: Durch die jahrelangen und zusätzlich verschärften Einsparungen und die weitreichende Reduktionen im Personalbereich an den Rand der Funktionstüchtigkeit gedrängt. BVT-Affäre und öffentlich ausgetragene Konflikte zwischen WKStA und Zentralstelle. Ein Justizminister, Mitglied einer einzigartigen Expertenregierung, der von einem „stillen Tod der Justiz“ sprechen muss und in einem viel beachteten Wahrnehmungsbericht nicht bloß personelle, sondern auch dramatische strukturelle Mängel in der Gerichtsbarkeit, Strafvollzug sowie Maßnahmenvollzug aufzeigt.
Das Ende November im Falter-Verlag erschienene Buch des Vorstehers des BG Meidling Oliver Scheiber greift all diese Entwicklungen auf. Der Autor begnügt sich allerdings nicht mit einem Lamento über die herrschenden Zustände. Herausgekommen ist eine außerordentliche Streitschrift. Entgegen der sonstigen, zwar verständlichen, aber größtenteils lähmenden Gepflogenheiten übt der Autor offene Kritik. Nicht nur an der Politik, sondern auch an der Justiz und ihren Protagonisten.
Die Medien nahmen das Buch mit Begeisterung auf. Nikolaus Lehner nannte das Buch in der Wiener Zeitung ein Gesamtkunstwerk und Manifest. Für die Wochenzeitung „Falter“ ist der Autor nicht bloß Strafrichter, sondern „Citoyen.“ Der Standard sieht in Oliver Scheiber „das Gegenteil von Betriebsblindheit.“ und kürt ihn kurzer Hand zum „obersten Justizkritiker“.
Die kollegiale Skepsis schlägt bei derartigen Jubelmeldungen sofort Alarm: Handelt es sich wirklich um das progressivte Plädoyer für eine Erneuerung der Justiz seit Chrisitan Broda? Wäre es nicht einfacher, das Buch zu verdammen und den Autor am besten gleich mit? Stichwort „linke Justiz“?
Immerhin bemühte sich die Richterschaft jahrzehntelang darum, ihren Mitgliedern das Versprechen abzuringen, sich nicht politisch zu äußern. Von den Richter*innen wurde – und wird – Zurückhaltung und Distanz zum politischen Tagesgeschäft gefordert. Immer mit dem Ziel vor Augen, dadurch jeglichen Anschein von Parteilichkeit oder gar Parteinahme zu vermeiden.
Oliver Scheiber bricht bewusst mit der Konvention, die sich die Richterschaft spätestens mit den Salzburger Beschlüssen auferlegt hat. Er macht klar, dass er die Distanzierung – Verdammung, wie er es nennt – allen Politischen innerhalb der Richterschaft für falsch hält. Durch sie sei schleichend ein unnötiger atmosphärischer Graben zwischen Politik und Justiz entstanden. Ähnliches macht er im Verhältnis zu den Medien aus. Auch hier gelinge es nicht, eine Kommunikation auf Augenhöhe herzustellen. Nur im Verband mit Politik und Medien sei es aber möglich, den Rechtsstaat zu reformieren und letztendlich auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Das Ziel, das Oliver Scheiber in zehn Kapiteln und jeweils darauf aufbauenden Thesen verfolgt, tritt mit der notwendigen Klarheit hervor: Einerseits die Verteidigung und andererseits die Fortentwicklung des liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats.
Sein Hauptaugenmerk richtet Scheiber dabei immerzu auf die Rechtsunterworfenen. Ohne unnötig zu skandalisieren wird der Umgang der heimischen Justiz mit jenem Teil der Bevölkerung analysiert, dem der Autor im richterlichen Berufsalltag begegnet. Das ehemalige Kabinettsmitglied im BMJ sucht dabei nach den Ursachen für Fehlentwicklungen und findet sie in allen Bereichen. Sowohl interne als auch externe Faktoren macht er dafür verantwortlich, dass die guten Leistungen der Justiz nicht mehr Akzeptanz in der Bevölkerung fänden. Der mangelnde Rückhalt erleichtere es wiederum populistischen Strömungen in der Politik, schlechten Einfluss auf den Rechtsstaat zu nehmen oder die Unabhängigkeit von gerichtlichen Entscheidungen in Frage zu stellen. Inhaltlich spannt er dabei den Bogen von der französischen Literatur an der Wende zum 20. Jahrhundert hin zu den Niederungen eines Verhandlungstages in Strafsachen am BG Meidling.
Die Analysen sind eindeutig und bestechend scharf formuliert. Sie sind richtig und tun weh. Wenn Scheiber etwa über den Sprachgebrauch von Jurist*innen schreibt, den er für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als unverständlich bezeichnet. Oder die Behauptung aufstellt, dass sich die Strafgerichtsbarkeit zu sehr auf die minderschwere Kriminalität konzentriert und sich vor der Verfolgung wirtschaftlich potenter Täter*innen drückt. Letztendlich gelingt Oliver Scheiber der Beweis, dass das Rechtssystem (unbewusst?) zwischen arm und reich unterscheidet und dies – auch – von der Richterschaft großteils widerstandslos hingenommen wird.
Man will diesen Befund nicht teilen. Einfacher wäre es, ihn erbost zurück zu weisen. Doch dazu sind die Beobachtungen des Autors zu präzise und dessen Ableitungen nicht widerlegbar. Schadet er damit dem Ansehen der Gerichtsbarkeit? Erweist er den Richter*innen und Staatsanwält*innen einen Bärendienst, indem er zu sehr auf die Versäumnisse des Systems hinweist?
Mitnichten. Das Buch verteilt keineswegs die Schuld selbstgerecht an die Kollegenschaft. Wiederholt verweist Oliver Scheiber auf die hervorragenden Leistungen der Justiz im internationalen Vergleich. Vielmehr bildet der Text eine Wirklichkeit ab, die eben existiert. Die sich tagtäglich an jedem Gericht in Österreich abspielt. Eine Wirklichkeit, welche die Entscheidungsorgane vor große Herausforderungen stellt und von diesen gemeistert wird. Der Text beschränkt sich zwar großteils auf den Strafbereich, würdigt dennoch den wertvollen Beitrag, den Kolleg*innen abseits davon zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.
Allzu oft wird dies als eine reine Selbstverständlichkeit abgetan. Nur Recht und Justiz sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie bedürfen des aufopferungsvollen Einsatzes der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Darin besteht die Leistung dieses Buchs. Es formuliert den Anspruch an das System, die Politik und die Mitarbeiter*innen gemeinsam für den Erhalt des Rechtsstaats zu kämpfen. Alleine die Nennung der großen Zahl seiner Mitstreiter*innen aus Justiz, Kultur, Politik und Medien und bietet durchaus Grund zum Optimismus, dass Zustände wie sie in Polen oder Ungarn herrschen, auf absehbare Zeit in Österreich nicht Einzug halten können.

Wenn das Buch daher Politik machen will, dann bitte mehr davon!


Florian Zillner


(Florian Zillner ist Richter in Oberösterreich)