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Den Fall Miklautz für Reformen nutzen! – Kommentar der Anderen für den Standard

Die Justiz hat einen schweren Fehler schnell korrigiert. Immerhin. Doch es sind Grundsatzfragen zu klären

Es waren turbulente Tage für die Justiz. Der Kärntner Aufdeckungsjournalist Franz Miklautz hat über fragwürdige Vorgänge in der Klagenfurter Stadtverwaltung berichtet. Die Stadt zeigte ihn an, die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung des Amtsgeheimnisses gegen den Journalisten ein und nahm ihm Mobiltelefon und Datenträger ab. Einen Tag nach dem breiten öffentlichen Aufschrei gegen das Vorgehen gegen einen Journalisten und dem damit verbundenen Eingriff in die Pressefreiheit stellte die Oberstaatsanwaltschaft Graz im Einvernehmen mit dem Justizministerium das Verfahren ein und gab Mobiltelefon und Computer wieder frei.

„Die Pressefreiheit ist ein unumstößliches Grundprinzip unserer Demokratie“, man habe „rasch und entschieden gehandelt“, sagt Ministerin Alma Zadić.
APA/GEORG HOCHMUTH

Das Positive zuerst: Wohl noch nie hat die Justiz einen (schweren) Fehler in einer heiklen Causa so schnell korrigiert. Für ein grundsätzlich repressives System, und das ist die Justiz genau so wie die Polizei, ist das ein großer Schritt. Gegenüber vergleichbaren Fällen wie der BVT-Hausdurchsuchung oder der Begründung der Einstellung im Aula-Strafverfahren ist das ein bemerkenswerter Fortschritt.

„Dieses kafkaeske Berichtswesen in clamorosen Strafsachen führt zu teilweise jahrelangen Verzögerungen.“

Nichtsdestotrotz sollte der Fall Anlass sein, Grundsatzfragen zu diskutieren. Da ist zunächst das Berichts- und Weisungswesen, das die Staatsanwaltschaften prägt. Während die Masse der Strafverfahren autonom innerhalb einer Staatsanwaltschaft abgehandelt wird, werden die sogenannten clamorosen Verfahren, also Strafverfahren von potenziell öffentlichem Interesse, durch eine lange Kette von mehr als zehn Personen von der Staatsanwaltschaft bis ins Justizministerium mitverfolgt und geprüft. So entsteht eine Zweiklassenjustiz, in der Ermittlungen gegen Normalbürgerinnen und Normalbürger ganz anders behandelt werden als die öffentlichkeitswirksamen Verfahren. Dieses kafkaeske Berichtswesen in clamorosen Strafsachen führt zu teilweise jahrelangen Verzögerungen. Ein Mehrwert an Qualitätssicherung wurde noch nie nachgewiesen.

Zudem steht in diesem System ein Regierungsmitglied an der Spitze der Staatsanwaltschaften. Auch wenn die Justizministerin im Anlassfall in positiver Weise interveniert hat – mit dieser Verquickung von Regierung und Gerichtsbarkeit wäre heute ein Beitritt zur EU undenkbar. Das österreichische System entspricht keinem modernen rechtsstaatlichen Standard. Bei einer Reform könnte man sich an der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft orientieren, in der die Qualitätssicherung durch eine interne Kontrollinstanz in Form eines Kollegialorgans stattfindet.

Großer Einsatz

Bei zehntausenden jährlichen Strafverfahren lassen sich einzelne Fehler nie vermeiden. Dennoch muss sich die Justiz wohl die Frage gefallen lassen, wie eine Staatsanwaltschaft nach Berichten über mögliche Verwaltungsmissstände auf die Idee kommen kann, gegen den Aufdeckungsjournalisten zu ermitteln; anstatt mögliche Missstände, bei denen es um Steuergelder geht, zu untersuchen. In der Kommunikation ihrer Einstellungsweisung führt die Oberstaatsanwaltschaft Graz aus, die zuständige Staatsanwaltschaft sei „in Bezug auf den Schutz von Berufs- und Redaktionsgeheimnissen sensibilisiert“ worden.

Damit sind Aus- und Fortbildung der Justiz angesprochen. Die Verantwortlichen der Justizausbildung sind auf allen Ebenen hochmotiviert und leisten Außerordentliches. Mit großem Einsatz wird die Unterdotierung bestmöglich kompensiert; ähnlich wie die österreichische Fußballnationalmannschaft spielt die Justizfortbildung in einem aus der Zeit gefallenen Stadion. Strukturen und Ressourcendotierung verfehlen die heute in Europa üblichen Standards.

Moderne Akademie

Nahezu alle europäischen Staaten verfügen über Justizakademien, an denen didaktisch und inhaltlich hochwertige Aus- und Fortbildungen mit angemessenen Budgets organisiert werden. Seit vielen Jahren steht die Schaffung einer solchen Justizakademie in den Regierungsprogrammen, auch diesmal. Aber noch immer verfügt Österreich als einer der letzten Staaten Europas über keine moderne Akademie, an der man ein Modulsystem mit Fachausbildung genauso implementieren könnte wie themenspezifische Sensibilisierungen wie eben zur Pressefreiheit.

Der Fall Miklautz könnte also im besten Fall gleich zwei nachhaltige wichtige Reformen auslösen: die Reform der Kontrolle der Staatsanwaltschaften nach dem Modell der Europäischen Staatsanwaltschaft und die Gründung einer Justizakademie nach modernen Standards. (Oliver Scheiber, 24.6.2023)

Richter und Autor Oliver Scheiber: „Niederschmetternd, wenn so etwas in demokratischen Zeiten passiert“

Beschlagnahme von Journalistenhandy zeigt „Einfallstore für autoritäre Entwicklungen“

Richter und Autor Oliver Scheiber: „Niederschmetternd, wenn so etwas in demokratischen Zeiten passiert“

Die Beschlagnahme von durch das Redaktionsgeheimnis geschützten Datenträgern, konkret Handy und Computer eines Kärntner Investigativjournalisten, ist für den Richter und Autor Oliver Scheiber „niederschmetternd“. Bei einem Vortrag im Presseclub Concordia in Wien sagte Scheiber am Freitag: „Es ist ein bisschen niederschmetternd, wenn so etwas in demokratischen Zeiten passiert. Wie wollen wir die Grundrechtsordnung verteidigen, wenn so etwas in ruhigen Zeiten passiert?“

„Darf nicht passieren“, wie die Klagenfurter Staatsanwaltschaft gegen einen Journalisten vorging: Richter Oliver Scheiber.
Matthias Cremer

„Vielleicht zeigt das auch die Labilität unserer Systeme“, erklärte der erfahrene Jurist: „Vor ein paar Jahren haben wir gedacht, dass das viel stabiler ist. Wir sehen jetzt, dass die demokratische Grundordnung sehr viele Einfallstore für autoritäre Entwicklungen hat.“

Scheiber räumte allerdings auch ein, dass die „Justiz noch nie so schnell einen Fehler korrigiert hat“ – das Verfahren wurde nach einem öffentlichen Aufschrei von Medien und Justiz von der Oberstaatsanwaltschaft Graz im Einvernehmen mit Justizministerin Alma Zadić (Grüne) eingestellt, und die Rückgabe der beschlagnahmten Geräte wurde angeordnet. Man müsse bedenken, „wie schwer sich Systeme wie Polizei und Justiz tun, Fehler einzuräumen und zu korrigieren“, betonte Scheiber.

Der erfahrene Jurist arbeitet auch in der Fortbildung der Justiz mit dem Ziel im Hinterkopf: „das System Gerichtsbarkeit fit zu machen für autoritäre Anwandlungen, die kommen können“. Denn: „So etwas, wie es in Klagenfurt passiert ist, darf nie passieren.“ Das allerdings hat sich Scheiber auch schon bei der Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) unter Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) und bei den Entscheidungen von Landesgericht und Oberlandesgericht Graz zugunsten der inzwischen eingestellten rechtsextremen Zeitschrift „Aula“, die Holocaustüberlebende als „Landplage“ bezeichnet hatte, gedacht. Erst der Oberste Gerichtshof hob die Grazer Urteile zugunsten des Mediums als „rechtsfehlerhaft“ auf. (fid, 23.6.2023)

Die große Chance für ein erstarrtes Land – Essay für den falter 25/23

Das Comeback der Sozialdemokratie kann zu einem Comeback der demokratischen Kultur werden. Wie sich dieses Land, seine Politik und seine Medien neu erfinden könnten

OLIVER SCHEIBER
POLITIK, FALTER 25/23 VOM 21.06.2023

Die SPÖ erlebt mit Andreas Babler einen Neubeginn. Wird die Partei die Fehler der Vergangenheit korrigieren können? (Illustration: PM Hoffmann)

Auf einmal ist es da: Österreichs Window of Opportunity. Unverhofft und aus heiterem Himmel, nachdem der Parteiapparat der SPÖ die Kontrolle verloren hatte. Am Ende des Prozesses steht Andreas Babler als neuer Parteichef fest. Die jahrelange Lähmung nicht nur der SPÖ, sondern auch der österreichischen Innenpolitik ist durchbrochen.

Dies nicht, weil ein Wechsel an der Spitze stattgefunden hat – auch das Bundeskanzleramt hat in dieser Legislaturperiode bereits den dritten Amtsinhaber, ohne dass sich an der Politik viel geändert hätte. Das Entscheidende ist, dass Babler einen völlig anderen Politikertypus verkörpert als jenen, der, quer durch alle Parteien, die letzten Jahre bestimmt und das Land nach unten geführt hat.

Babler steht für die von vielen Menschen ersehnte Hoffnung, diesen Trend nach unten wieder umzukehren. Denn beginnend mit der türkis-blauen und nun türkis-grünen Regierung fällt Österreich in vielen wichtigen Rankings stetig zurück: in maßgeblichen Messinstrumenten zu Demokratiequalität, Korruptionsverbreitung, Umweltdaten (Bodenversiegelung, CO2-Ausstoß) oder Pressefreiheit.

Österreich wurde 2022 vom V-Dem-Institut der Universität Göteborg in deren renommierter Untersuchung von einer liberalen Demokratie in den Rang einer Wahldemokratie zurückgestuft. Darunter ist eine minimale Demokratieform zu verstehen, in der zwar Wahlen stattfinden, in der aber wichtige Demokratiebedingungen schwächeln oder fehlen. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, zwar die Stimme abgeben, dadurch aber keine tatsächliche Veränderung herbeiführen zu können. Und tatsächlich: Die Regierung hat keine über den Tag hinausreichenden Konzepte für die großen Zukunftsfragen: weder bei Klimamaßnahmen noch in den Bereichen Bildung, Pflege, Armutsbekämpfung oder Digitalisierung.

Es ist ein gemeinsames Versagen von Politik und Medien, die sich in eine unglückliche wechselseitige Abhängigkeit begeben haben. Die österreichische Form der Medienfinanzierung, in der nur ganz geringe Mittel nach Qualitätskriterien vergeben werden, wo aber von der Regierung jedes Jahr dreistellige Millionenbeträge willkürlich über Medien im Wege von Inseraten ausgeschüttet werden, begründet maßgeblich den langsamen Abstieg Österreichs.

Von einem „stillen Tod der Justiz“ hat der frühere Vizekanzler der Expertenregierung, Jabloner, gesprochen. Von einem stillen Tod Österreichs insgesamt kann man mittlerweile sprechen. Das verhängnisvolle Verhältnis zwischen Politik und Medien ist untrennbar mit der zu großen Nähe und Verhaberung des innenpolitischen Journalismus und der Politik verbunden. Es ist unverständlich, dass sich Österreich Medien gegen dieses System nicht lautstark zur Wehr setzen und sich davon befreien, nimmt es den Journalistinnen und Journalisten und den Medien insgesamt doch Selbstwert und Würde.

Es ist kaum möglich, die Rolle der Medien als vierte Gewalt im Staat und kritische Kontrollinstanz wahrzunehmen, wenn man von Tag zu Tag vom Geld der Regierung abhängig ist. Es handelt sich um nichts anderes als Geldgeschenke und nichts anderes als das, was das Strafrecht sonst als Anfütterung bezeichnet. Die Konstellation ist beiderseits unmoralisch. Selbst dort, wo Beteiligte integer sind, muss bei der Bevölkerung immer der Anschein der Befangenheit und Abhängigkeit bestehen. Dazu kommt aber noch, dass Österreichs Politik und Medien sich von der Bevölkerung abgekoppelt haben, allzu oft die Lebensrealitäten der Bevölkerung nicht kennen beziehungsweise sich nicht darum kümmern. Diese Haltung hat den Erfolg rechtsextremer Bewegungen maßgeblich befördert. Die schon in der Sprache erkennbare Überheblichkeit und Entfernung vom Alltag der meisten Menschen führt mitunter zu einer zynischen Politik – sie wird von den Medien nicht ausreichend korrigiert. Im Gegenteil: Es leben Politik und Teile des innenpolitischen Journalismus in einer gemeinsamen Blase, die mit der Realität des Rests des Landes wenig zu tun hat und zu der sich noch diverse Beraterinnen und Berater und sonstige Mitläufer gesellt haben.

Die Tendenz zu solchen Entwicklungen besteht in jedem Land, in Österreich hat sie in den letzten Jahren aber alle Grenzen des Erträglichen überschritten, die bekannt gewordenen Chatprotokolle belegen die verhängnisvollen Nahebeziehungen. Die Verallgemeinerung ist an dieser Stelle für den Befund notwendig, sie tut naturgemäß den vielen tatsächlich unabhängig arbeitenden Journalisten inner- und außerhalb der Innenpolitik unrecht. Und gerade die Wahl Bablers hat die Bedeutung und Kraft eines unabhängigen, wachsamen Journalismus gezeigt: indem ORF-Redakteur Martin Thür den Widersprüchlichkeiten des Wahlergebnisses nachging und so den Gang der Geschichte beeinflusste.

Autoritäre Entwicklungen in Österreich wurden zuletzt von vielen, gerade auch konservativen Politikern von Franz Fischler bis Jean-Claude Juncker festgestellt. Diese Entwicklungen wären ohne die unkritische Haltung der Medien nicht möglich. So war es bezeichnend, wie wenig über das aufrüttelnde Statement von Michel Friedman, der den Abgeordneten von ÖVP und FPÖ bei der Gedenkstunde im Mai im Parlament den Spiegel vorhielt, geschrieben wurde. Vielsagend waren auch die Gesichter vieler Abgeordneter während der Rede, die eine solche Kritik weder kennen noch damit umgehen können. Einen ähnlichen Eindruck gewann man beim Betrachten der Gesichter vieler Spitzenfunktionäre der SPÖ während der Rede Bablers auf dem Parteitag. Bei beiden Anlässen wurde die Ruhe saturierter Funktionärszirkel gestört.

Die Macht und die Nähe zur Macht, das hektische Alltagsgeschäft tragen für Politik und Medien die Gefahr in sich, in einen Elfenbeinturm zu geraten, abgehoben zu werden, oder, um es sachter zu formulieren, die Gefahr, dass man den Alltag der Menschen, in deren Leben man durch Entscheidungen eingreift, zu wenig kennt. Weil man kaum existenzielle finanzielle Sorgen kennt, eine gesicherte Wohnsituation hat, Wochenenden im Grünen mit Städtereisen abwechselt. Man regelt Lebensbereiche und Lebensumstände, aber man führt keine Gespräche mit Menschen, die psychisch krank sind, langzeitarbeitslos sind oder im Gefängnis waren, also mit jenen, deren Lebenssituation sich von der eigenen stark unterscheidet.

Die Mittagspausen verbringt man in Besprechungen mit Mitarbeitern und Kollegen, anstatt einmal allein durch die Stadt zu gehen, in Selbstbedienungsrestaurants von Supermärkten oder in kleinen Cafés in der Vorstadt zu essen. Der Abkoppelung von der Vielfalt der Lebensverhältnisse in der Bevölkerung sind, so scheint es, viele in Österreichs Politik und innenpolitischen Redaktionen anheimgefallen – das ist kein moralischer Vorwurf, es passiert oft unbemerkt, schleichend. Es zeigt sich aber in der Wahl der Themen und in der Sprache vieler Medien, die weitgehend an den Themen und der Sprache der Bevölkerung vorbeigehen.

Österreichs Medien haben das doppelte Problem, dass sie einerseits in Geiselhaft der Regierenden durch die Abhängigkeit von Inseraten sind, dass andererseits auch bei ihnen die jahrelange Message-Control der Regierungen ihre Wirkung entfaltet. Selbst wenn man sich solcher Politikstrategien bewusst ist: Wenn jahrelang tagaus, tagein Fotos von Parteizentralen und Ministerien, immer gleiche Botschaften von Parteiapparaten und Ministerkabinetten verteilt werden, kann man sich dem schwer entziehen. Das zeigt sich im gesamten Zugang des Mainstreams von Politik und Medien zur Migrationsfrage, aber etwa auch in der Verniedlichung dessen, was die Vielzahl an Korruptionsstrafverfahren bedeutet. Natürlich ist es schwer, den Überblick zu behalten und die Dinge einzuordnen. Das Problem für das demokratische System, dass sowohl gegen die größere Regierungspartei als auch gegen eine beispiellose Vielzahl von hochrangigen Politikern Ermittlungen geführt werden, wird jedoch in sträflicher Weise verharmlost. Denn die Delikte, zu denen Ermittlungen geführt werden, sind überwiegend Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch, was in der Berichterstattung vielfach bagatellisiert transportiert wird.

Migrations-und Korruptionsthema zeigen beispielhaft, auf welch unterschiedliche Weise man sich einem Gegenstand nähern kann. Puls-4-Infochefin Corinna Milborn hat vor bald 20 Jahren intensiv an den Außengrenzen der EU recherchiert, die Flüchtlingslager besucht und ausführlich dazu publiziert. Die selbst recherchierten Fakten und gewonnenen Eindrücke prägen ihre Arbeit seither und bilden sich heute noch in einer differenzierten Berichterstattung aus, die sich wohltuend vom vereinfachenden, an die Regierungskommunikation angelehnten innenpolitischen Mainstream abhebt. Eine spektakuläre Einzelleistung wurde jüngst vom Vorsitzenden der Partei Wandel, Fayad Mulla, erbracht, der auf der griechischen Insel Lesbos illegale Entführungen und Rücksendungen von Flüchtlingen monatelang recherchiert und gemeinsam mit der New York Times veröffentlicht hat.

Das Sich-selbst-ein-Bild-Machen ist eine Grundvoraussetzung menschlicher Politik genauso wie guter Berichterstattung. Es ist etwa schwierig, die Situation an den Außengrenzen der EU einzuordnen, ohne jemals die Situation in der spanischen Enklave Melilla in Afrika beobachtet zu haben, wo verzweifelte Männer versuchen, über die Gitterzäune auf das Hoheitsgebiet der Europäischen Union zu gelangen. Mehr Beobachtung vor Ort würde der Migrationsdebatte in Europa viel von ihrem Zynismus nehmen. Und genauso wichtig sind für Politik wie Medien Gespräche mit und Recherchen bei den Schwachen in unserer Gesellschaft, bei Fahrradboten, Zeitungsverkäufern, prekär Beschäftigten, um die Dinge besser einzuordnen, bessere Lösungen zu finden und so das Erstarken des Rechtsextremismus quer durch Europa aufzuhalten.

Gerade darin liegen Vorteil und Stärke von Politikern des Typus Bablers: Er steht seit vielen Jahren mitten im Geschehen des Alltags, kennt die Schwierigkeiten eines großen Flüchtlingszentrums, die Probleme der Geflüchteten und jene der angestammten Wohnbevölkerung. Er hat die unterschiedlichen Wünsche und Anliegen zur Zufriedenheit einer sehr breiten Mehrheit der Bevölkerung zusammengeführt und bezieht daraus seine politische Stärke und Glaubwürdigkeit.

Die Krise der Demokratie in Österreich und Europa ist vor allem eine Krise der traditionellen Parteien. Die meisten sind erstarrt, auf kurzfristige Umfragen ausgerichtet, haben keine Vision mehr. Sie haben kritische Stimmen aus den Apparaten verdrängt, folgen den Strategien ihrer unpolitischen Berater und der Spur des Geldes. Diese Diagnose betrifft die große Mehrzahl der österreichischen Parteien.

An einer Veränderung dieser Situation hatte allerdings im System bisher niemand Interesse; nicht in den politischen Parteien und auch nicht in den Medien. Alle haben sich an die österreichische Spektakelkultur, die seit Jörg Haider herrscht, gewöhnt und es sich darin gemütlich gemacht oder sich zumindest arrangiert.

Dazu kommt, dass Menschen, auch wenn sie in schlechten Verhältnissen leben oder unter ungünstigen Bedingungen arbeiten, die Veränderung scheuen. Veränderung macht immer Angst. Die meisten ziehen es vor, in gewohnten Verhältnissen zu leben oder zu arbeiten, als eine Veränderung zu wagen und den Schritt zum Unbekannten zu tun.

Auch das mag ein Faktor sein, warum Österreichs Medien das System der Inseratenkorruption so geduldig ertragen. Und es erklärt die herablassenden Kommentierungen zu Bablers Kandidatur auch in Qualitätszeitungen, die mit Wahlkampfkostenüberschreitungen und Aktenverweigerungen gegenüber dem Parlament weniger Probleme hatten als mit der Kandidatur eines Bürgermeisters für den Vorsitz einer Bundespartei.

Diese Lähmung und Korrumpierung des Landes und des politischen Systems ist mit der Wahl Andreas Bablers zum Vorsitzenden der SPÖ auf einmal durchbrochen. Vielleicht spricht auch deshalb die Mehrzahl der innenpolitischen Kommentatoren von einer Katastrophe und einem Tiefpunkt, wo die Vorgänge doch bei ruhiger Betrachtung die größte Chance für das gesamte politische System seit vielen Jahren sind.

Ob es gelingt, sie zu nutzen, wird sich erst zeigen. Aber mit der innerparteilichen Bewegung und Kampagne Bablers wurde erstmals seit Jahren das System der Message-Control durch die Parteiapparate, die absolute Herrschaft von Funktionären, die stillschweigende Allianz von Apparaten mit innenpolitischen Kommentatoren durchbrochen.

Auf einmal steht jemand an der Spitze einer Partei, der vielleicht auch, aber jedenfalls nicht nur in der Welt der Politik und der Medien zuhause ist, sondern der ganz offenkundig gern unter Menschen ist, in klarer Sprache spricht. Allein diese Zugewandtheit zu Menschen scheint bei einem großen Teil der österreichischen Politik und Medien bereits Ängste auszulösen. Dabei gab es schon Vorboten – die Erfolge Marco Pogos bei der Bundespräsidentschaftswahl, Elke Kahrs in Graz und zuletzt Kay-Michael Dankls in Salzburg beruhen ebenso auf der authentischen Zugewandtheit zur Bevölkerung, der Befassung mit den im Alltag wichtigen Fragen und der verständlichen Sprache.

Die meisten bisherigen Einordnungen Bablers übersehen völlig dessen Leistung, in einer Stadt mit dem größten und meist überfüllten Flüchtlingslager des Landes den gesellschaftlichen Frieden zu halten und 70 Prozent der Bewohner der Stadt für eine aktive Menschenrechtspolitik auf kommunaler Ebene zu gewinnen. Es ist eine Leistung, die wohl europaweit wenige Beispiele hat. Das innovative und erfolgreiche Pandemie-und Schulmanagement Bablers bleibt in den meisten innenpolitischen Kommentaren ausgespart und verzerrt die Einordnungen.

Was wir in den letzten Jahren in Österreich erlebt haben, ist eine autoritäre Tendenz, die an Worten und Gesetzesvorschlägen abzulesen ist. Die früher staatstragende ÖVP hat weitgehend den Stil und Inhalt rechtspopulistischer Parteien übernommen. Seit der Obmannschaft von Kurz haben sich viele konservative kritische Geister abgewandt.

Jetzt ist der Zeitpunkt, da sich die kritischen Geister aller Parteien zu Wort melden müssen. In der SPÖ werden die, die viel zu bieten hatten und lange vom Parteiapparat kleingehalten wurden, jetzt Gewicht bekommen: von Nikolaus Kowall, der den Prozess erst angestoßen hat, über Julia Herr bis zu Jan Krainer. Und solche Persönlichkeiten gibt es auch bei ÖVP und Grünen, und nahezu alle, die kritisch waren, hatten ein ähnliches Schicksal, sie wurden von ihren Parteiapparaten hinaus- oder an den Rand gedrängt. Warum sollte dort nicht auch auf einmal eine Persönlichkeit wie der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer oder der erfolgreiche Europapolitiker Othmar Karas an der Spitze stehen, unbelastet von allen Affären der letzten Jahre und in der Tradition des Stils und der Inhalte früherer großer Konservativer?

Wir stehen vor einer großen Chance für eine völlige Neuaufstellung Österreichs und eine große gemeinsame Anstrengung über alle politischen Richtungen hinweg. Die SPÖ hat so unverhofft als erste traditionelle Partei die einmalige Chance erhalten, Erneuerung zu schaffen. Wenn ÖVP und Grüne demnächst in diesem Prozess nachziehen, dann wäre das ein großes Momentum für das Land.

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Der Autor ist Jurist und Mitinitiator des Antikorruptionsvolksbegehrens. Er hat sich in zwei Büchern mit der Krise von Sozialdemokraten und Konservativen beschäftigt. Zuletzt erschienen: „Die Krise der Volkspartei“(bahoe books, 2023)