Interview mit anwalt aktuell

„Mut zum Recht“

OLIVER SCHEIBER
Jusstudium (Dr. iur.) in Salzburg, 1995 Ernennung zum Richter in Wien. 1999–2000 Leiter der Justizabteilung bei der Europäischen Kommission, Justizattaché im Rat der Europäischen Kommission. 2007–2008 Stv. Kabinettschef unter Justizministerin Dr. Maria Berger. Seit 1.1.2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling, Wien.
PLÄDOYER. In seinem Buch „Mut zum Recht“ listet Richter und Gerichtsvorsteher Oliver Scheiber 10 Themen zur Verbesserung der österreichischen Justiz auf. Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL geht es um unverständliche Juristensprache, unsymmetrische Verbrechensverfolgung, unausgewogene Instanzenzüge und vieles mehr…
Interview: Dietmar Dworschak

Will der Titel Ihres Buches „Mut zum Recht“ sagen, dass unser Recht ohnehin ganz gut da steht, aber nicht optimal ausgeübt wird?
Oliver Scheiber: Es braucht mehr Mut zur Anwendung des Rechts, aber auch zur Weiterentwicklung. Man sollte insgesamt mehr machen aus der Rechtsordnung.

Sie sagen: Rechtswissenschaft ist Sozialwissenschaft. Warum eigentlich?
Oliver Scheiber: Weil sich’s zu einem guten Teil um den Menschen dreht. Nicht immer. Wir können hochentwickelte Zusammenführungen von Aktiengesellschaften nehmen, da ist der menschliche Faktor nicht so im Vordergrund. Bei allem, was wir im Familienrecht, im Strafrecht, im Mietrecht haben, geht es sehr stark um Menschen und um Konfikte. Deshalb Sozialwissenschaft.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Ausbildung zum Juristen. Ich frage dies mit Blick auf die Ärzteausbildung, der man nachsagt, gerade im psychologischen Bereich einige Lücken aufzuweisen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Vergleich zur Medizin ein guter ist. Da gibt es einige Verwandtschaften. Ein wesentlicher Punkt ist einmal die Verständlichkeit. Das sehen wir auch in den Evaluierungen zur Justiz. Sie verfügt über ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, gleichzeitig aber wird festgestellt, dass sie für viele Menschen nicht verständlich ist. Das ist ein großes Manko. Ich glaube, es ist für jeden Beruf eine Schwäche, wenn er sich nicht verständlich macht. Sicher braucht man eine Fachterminologie, es muss aber trotzdem möglich sein, verständlich zu kommunizieren.

Führt nicht das Erlernen der sogenannten Fachsprache bereits im Studium von der Normalsprache weg?
Oliver Scheiber: Ja, drum glaube ich, dass hier schwerpunktmäßig bei den Universitäten angesetzt werden müsste. Was Gerichte und Anwaltschaft tun, ist, hart gesagt: die Deformationen, die die Leute im Studium erlitten haben, wieder wettzumachen. Die Fachsprache wird im Studium zu übertrieben gefördert, es findet eine Erziehung zur Unverständlichkeit statt. Der andere Punkt, den auch Sprachwissenschaftler kritisieren, ist, dass sich die schriftlichen Entscheidungen der Justiz eigentlich nie an die Parteien wenden, sondern immer nur an die Rechtsmittelinstanz. Das menschlich nachvollziehbare Interesse der Richter ist, dass ihre Entscheidungen halten. Wenn diese nicht halten, schadet das natürlich der Karriere, deshalb wird bei der Entscheidung vornehmlich die Sprache verwendet, die die Instanz versteht.

In Ihrem Buch kommt nicht selten der Begriff „Klassenjustiz“ vor. Sie weisen darauf hin, dass man bei unseren Gerichten lieber „die Kleinen“, also die Letzten in einer Verantwortungskette anklagt. Verstehe ich das richtig auch als Kritik an der richterlichen Kollegenschaft?
Oliver Scheiber: Ich glaube, das ist generell eine Frage des Strafrechts, die über Österreich hinaus gehend diskutiert werden muss. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo vieles humanistischer geworden ist, da ist es auch Zeit, in der Justiz Grundsatzfragen zu überdenken. Das Unternehmensstrafrecht ist ein gutes Beispiel, weil es ganz einfach wäre, bei bestimmten Umweltvergehen oder Arbeitsunfällen das Unternehmen zu verfolgen, und nicht Einzelpersonen. Beim Unternehmensstrafrecht gibt es allerdings ganz stark ein Ausbildungsproblem. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz hat in Österreich nie richtig zu leben begonnen, und das ist vor allem eine Schulungsfrage.

Gibt es eine Neigung, bei der Strafverfolgung und dann auch im Gericht auf jene zuzugreifen, von denen man den geringsten Widerstand erwartet?
Oliver Scheiber: Delikte gibt es viele, das Dunkelfeld ist groß. Selektieren tut im Wesentlichen einmal die Polizei. Überwache ich U-Bahn-Stationen oder schicke ich meine Leute in irgendwelche Villen oder Seeuferpromenaden…usw. Die Staatsanwaltschaft führt diese Selektion dann weiter. Mein Anliegen ist hier ein Soziales: Es soll gleichmäßig alle Schichten treffen. Hier geht es auch um Ressourcen. Die Ressourcen sollen dort eingesetzt werden, wo die größten Schäden drohen. Das heißt: Vernünftigerweise konzentriere ich mich als Staat auf die Verfolgung von Mord, Raub und Vergewaltigung, aber auch von großen Gemeingefährdungsdelikten wie Umweltverbrechen, Lebensmittelvergiftungen etc.

Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Polizei und Justiz konzentrieren sich auf die Verfolgung sozial und wirtschaftlich schwacher Menschen bzw. jener Kriminalitätsfelder, die für sozial und wirtschaftlich Schwache naheliegend sind.“ Gleichzeitig weisen Sie darauf hin, dass bei Umweltvergehen, bei Pharma und Medizin sowie bei der Finanz- und Börsenkontrolle wesentlich weniger Ermittlungs- und Verfolgungsdruck entwickelt wird. War das in der Geschichte nicht immer so?
Oliver Scheiber: Das war sicher immer so. Aber ich denke, es hat sich doch einiges auch geändert. Mit der Einrichtung der Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft ist doch ein Feld aufgetan worden, wo man in der angesprochenen Hinsicht wesentlich mehr tut als früher. Im Umweltbereich sollte man ebenfalls mehr tun. Es gibt auch in Österreich Gegenden, wie zum Beispiel das Görschitztal, wo gesundheitliche Schäden in großem Ausmaß da sind, wo sich aber strafrechtlich viel zu wenig tut, um in irgendeiner Weise abschreckend zu wirken.

Sie kritisieren die aktuell praktizierte Form der Verhandlung vor Gericht als nicht mehr zeitgemäß, weil viel zu hierarchisch, sie sprechen von „Über-Inszenierung“…?
Oliver Scheiber: Ja, das betrifft aber nicht alle Bereiche. Im Familienrecht habe ich schon positive Beispiele erlebt. Es beginnt immerhin ein Umdenken, speziell in der Architektur, wo es schon Ansätze gibt, Verhandlungssituationen „auf Augenhöhe“ zu schaffen, wie zum Beispiel in den neuen Gerichtsgebäuden von Salzburg oder Korneuburg. Mit der Mediation und mit der Diversion gibt es bereits Instrumente, die die Kommunikation stark verändert haben. Den begonnenen Paradigmenwechsel sollte man aber weiter forcieren.

Sie fordern die Gleichstellung zivil- und strafrechtlicher Verfahren, was den Instanzenzug betrifft. Wo sehen Sie hier im Moment das Problem?
Oliver Scheiber: Das Problem ist, dass man in einem relativ undramatischen Zivilverfahren sehr oft drei Instanzen zur Verfügung hat und diese drei Instanzen auch ohne größere Formzwänge durchlaufen werden können, was ich zum Beispiel im Familienrecht auch sehr angemessen finde, dass umgekehrt aber im Strafrecht, wo es um Freiheitsstrafen geht, im Regelfall nur zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Der Rechtszug bei Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr endet bei den Landesgerichten, wodurch sich keine höchstgerichtliche Rechtsprechung herausbilden kann.

In Ihrem Buch loben Sie Österreichs Medien mehrfach für ihre Rolle bei der Aufdeckung von Skandalen. Diese Tendenz wäre mir, den „Falter“ ausgenommen, eigentlich nicht besonders aufgefallen. Dafür bekomme ich immer wieder mit, dass Medien von Beamtenseite mit Insiderinformationen, oder nennen wir es „Amtsgeheimnissen“ versorgt werden. Ist das für Sie okay?
Oliver Scheiber: Wenn sehr viele Interna weitergegeben werden ist das für mich ein Zeichen, dass mit der Behörde etwas nicht stimmt. Wenn ich nämlich Missstände aufzeigen kann, dann regelt sich das normalerweise intern. Wenn Informationen an Medien weitergegeben werden bedeutet das zumeist, dass in der Behörde ein Druck besteht, etwas unter der Decke zu halten. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass Informationen besser auf diesem Weg in die Öffentlichkeit kommen als gar nicht. Es ist wichtig, dass wir einen stabilen Informantenschutz bewahren, denn ohne diesen wären die meisten Skandale, beginnend beim AKH, nicht in die Medien gelangt.

Wir haben es seitens der Beamtenschaft also nicht mit einer Art Nudelsieb zu tun, was die Bewahrung von Informationen betrifft?

Oliver Scheiber: Nein, da bin ich nicht sehr beunruhigt, da alle Experten sagen, dass sehr viel von den Verfahrensparteien weitergegeben wird. Nur der kleinere Teil kommt aus den Behörden, zumal diese im Ermittlungsverfahren gar kein Interesse daran haben, dass etwas hinausgelangt.

Sie fordern mehr Kommunikation zwischen Justiz und Öffentlichkeit. Dabei beziehen Sie sich auf das skandinavische Modell, wo Entscheidungen von Höchstgerichten im Internet veröffentlicht werden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich hier in Österreich in absehbarer Zeit etwas ändert, zumal wir in Sachen Behördentransparenz weltweit am letzten Platz stehen?
Oliver Scheiber: Da bin ich wenig zuversichtlich. Es gibt so viele Anküdigungen… Jeder aufstrebende Politiker in Österreich verspricht mehr Transparenz, und in Wirklichkeit tut sich gar nichts.

Weiter zum Thema Kommunikation: 2002 hat Jörg Haider den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs verhöhnt und damit ganz bewusst das Ansehen der Justiz geschädigt. Haben Sie das Gefühl, dass die österreichischen Politiker seither in sich gegangen sind und der Justiz so etwas wie Respekt entgegenbringen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Schaden rund um die Ortstafeln und Haiders Verspottung der Justiz schon nachhaltig gewirkt haben. Ich glaube aber, dass wir mittlerweile wieder grundsätzlich eine Stimmung haben, in der Institutionen respektiert werden. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn gewissermaßen strukturell „Verwunderung“ über Urteile ausgesprochen wird. Dem einzelnen Bürger steht es zu, dass er auf dem Weg aus dem Gerichtssaal sagt „Ich kann mich nur wundern…“ Als Politiker, vor allem in Regierungsverantwortung, muss ich mir schon überlegen, ob ich mich da wundern will – oder ob man es nicht besser dabei belässt, zu sagen: „das Gericht hat entschieden, so ist es.“

Wenn Sie in der Nacht aufgeweckt und nach Ihren drei wichtigsten Wünschen zur Verbesserung der Justiz in Österreich gefragt werden, was sagen Sie dann?
Oliver Scheiber: Deutliche Ressourcenkorrektur als ersten Punkt. Als zweites würde ich mir eine andere Unternehmenskultur wünschen, vor allem, was die Kommunikation betrifft. Und als dritten Punkt, auch wenn es nicht direkt Justiz ist: Ich glaube, dass man das Asyl- und Fremdenrecht neu denken muss. Hier sollten wir bei null beginnen.

Herr Dr. Scheiber, danke für das Gespräch.

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Bei Stöckl vom 6.2.2020

Ich danke Barbara Stöckl für die Einladung in die Sendung vom 6.2.2020. Bis 13.2.2020 noch in der TV-THEK nachzusehen.

Ursula Strauss, Marcos Nader, Herbert Fechter und Oliver Scheiber zu Gast in „Stöckl.“

Barbara Stöckl im Nighttalk mit einmal mehr höchst interessante Persönlichkeiten
Donnerstag, 6. Februar 2020
23.00 Uhr, ORF 2
Untertitelung: ORF TELETEXT S 777
In der aktuellen Ausgabe des ORF-Nighttalks „Stöckl.“ sind am Donnerstag, dem 6. Februar 2020, um 23.00 Uhr in ORF 2 Schauspielerin Ursula Strauss, Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader, Künstlermanager Herbert Fechter und Bezirksrichter Oliver Scheiber zu Gast bei Barbara Stöckl:

Bezirksrichter Oliver Scheiber

Oliver Scheiber gibt im Gespräch mit Barbara Stöckl Einblick in seinen Alltag als Richter. Der Vorsteher des Wiener Bezirksgerichts Meidling kritisiert in seinem Buch „Mut zum Recht!“, dass die Strafjustiz vor allem die Armen treffe: „Strafgerichte und Anklagebehörden haben eher die kleinen Fälle im Auge, während die Verfolgung der großen Verbrechen schleppend erfolgt“, so der Jurist, der für mehr Empathie im Gerichtssaal plädiert.
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Oliver Scheiber

Buch von Oliver Scheiber
Mut zum Recht!Falter Verlag

Schauspielerin Ursula Strauss

Mit Kriminalität beschäftigt sich auch Ursula Strauss seit Jahren. Die Schauspielerin dreht für die beliebte ORF-Serie „Schnell ermittelt“ bereits die siebente Staffel. Derzeit ist sie am ORF-1-Serienmontag in der neuen Comedyserie „Wischen ist Macht“ als Chefin eines Putztrupps zu sehen. Welche Erfahrungen hat sie persönlich mit Ordnung und Chaos gemacht? Tut Putzen tatsächlich der Seele gut?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Ursula Strauss

Link:


ORF-Serie: Wischen ist Macht
montags, 21.05 Uhr, ORF 1

Künstlermanager Herbert Fechter

Was die innere Ordnung betrifft, hat Herbert Fechter viel von den Shaolin-Mönchen gelernt. Der Künstlermanager feiert als Produzent der Bühnenshow „Die Mönche des Shaolin Kung-Fu“, die ab Mitte Februar wieder durch Österreich tourt, 25-jähriges Jubiläum. Wie hat das Eintauchen in diese Kultur sein eigenes Leben verändert?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Herbert Fechter

Link:


Bühnenshow
Die Mönche des Shaolin Kung Fuab 14.2. auf Österreich-Tour

Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader

Marcos Nader ist Österreichs Aushängeschild im Boxen. Der IBF International Champion im Mittelgewicht verteidigte Ende des vergangenen Jahres erfolgreich seinen Titel. Nun wartet eine ganz andere Herausforderung: Ab 6. März nimmt er an der neuen Staffel des ORF-1-Tanzevents „Dancing Stars“ teil.
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Interview mit dem Standard vom 6.2.2020

Richter über Kurz‘ WKStA-Kritik: „Dann kommt der Rechtsstaat ins Rutschen“

Die Kritik des Kanzlers an der Justiz hat Wellen geschlagen. Dass Kurz eine Aussprache will, ist für den Richter Oliver Scheiber ein Tabubruch

 

Marie-Theres Egyed

 

 

Oliver Scheiber sorgt sich um den Rechtsstaat.
Foto: Der Standard/Cremer
Der von Bundeskanzler Sebastian Kurz einberufene – und von Justizministerin Alma Zadić zur „Aussprache“ herabgestufte – runde Tisch über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sorgt für Kritik. Oliver Scheiber, Gerichtsvorsteher am Bezirksgericht Wien-Meidling, empörte sich in den sozialen Medien. Der Richter ist auch als Autor tätig, mit „Mut zum Recht!“ schrieb er ein „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“. Zuvor beschäftigte er sich mit einer Reform der Sozialdemokratie. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt er, warum er das als dramatische Entwicklung sieht und derartige Tendenzen oft Vorboten autoritärer Regierungsstile seien.

STANDARD: Was stört Sie daran, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz einen runden Tisch einberufen hat, bei dem Verfahrensdauer, Vertrauen in die Justiz und Unabhängigkeit und Objektivität diskutiert werden sollen?
Scheiber: Entweder liegt beim Bundeskanzler ein völliges Missverstehen der Gewaltentrennung und Checks and Balances in einem Rechtsstaat vor – diese Naivität und dieses Unwissen würden mir Angst machen. Oder er will Signale an die Staatsanwaltschaft senden, künftig anders vorzugehen. Das wäre ein unzulässiger Übergriff des Kanzlers auf Organe der Gerichtsbarkeit.
STANDARD: Geht es darum, Kontrolle über die Staatsanwaltschaft zu gewinnen?
Scheiber: In der Verfassung sind die Staatsanwaltschaften der Gerichtsbarkeit zugeordnet und haben eine besondere Stellung. Sie besteht keinesfalls in einer Unterordnung zum Kanzler. Es gibt auch eine klare Qualitätskontrolle für Staatsanwaltschaften und Gerichte. Alles, was etwa die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft macht, unterliegt der Aufsicht von Oberstaatsanwaltschaft, Justizministerium und Weisungsrat. Jeder Grundrechtseingriff wie eine Hausdurchsuchung, Festnahme oder Beschlagnahmung bedarf der Bewilligung durch einen Richter und kann gerichtlich bekämpft werden.
STANDARD: Zunächst wollten sich die Staatsanwälte noch bei Kurz beschweren, dass ihre Unabhängigkeit von ihm infrage gestellt wurde. Jetzt bestellt aber er sie zu sich.
Scheiber: Was Kurz bei diesem Hintergrundgespräch gesagt haben soll, hat Richtervereinigung und Staatsanwälte zu Recht irritiert. Da ist es legitim, dass sie das Gespräch suchen. Es kann aber nicht sein, dass ein Kanzler, während aktueller politischer Strafverfahren, mit den Staatsanwälten über ihre Arbeitsweise reden will. Wer das nicht sieht, hat Demokratie und Rechtsstaat nicht verstanden. Das ist eine dramatische Entwicklung.
STANDARD: Inwiefern?
Scheiber: Das ist ein Tabubruch. Wenn sich Institutionen nicht mehr wechselseitig respektieren und nicht auf Augenhöhe begegnen, kommt der Rechtsstaat ins Rutschen. Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit haben abgegrenzte eigene Bereiche, der Kanzler darf nicht in die Gerichtsbarkeit eingreifen.

STANDARD: Woher kommt die plötzliche Skepsis von Kurz gegenüber der Justiz?
Scheiber: Wir sehen in Ungarn, Polen oder bei Trump, dass Angriffe auf Institutionen, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und die Justiz oft Vorboten autoritärer Regierungsstile sind. Unter Türkis-Blau wurde der ORF massiv kritisiert, die Angriffe auf die Justiz sind möglicherweise die Fortsetzung.
STANDARD: Sie appellieren an Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Was kann er tun?
Scheiber: Der Bundespräsident hat in den vergangenen Monaten immer wieder auf die Verfassung hingewiesen. Es ist wichtig, ein stärkeres Verfassungsbewusstsein zu entwickeln und das Funktionieren des Staatswesens verständlich zu machen. Die Regierung darf nicht bei der Justiz intervenieren. Es wäre gut, jetzt auch diese verfassungsrechtlichen Grundsätze in Erinnerung zu rufen. (Marie-Theres Egyed, 6.2.2020)
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Nikolaus Lehner über „Mut zum Recht“ in der Wiener Zeitung

Appell für notwendige Reformen in der Justiz



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Die Neuerscheinung „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist ein Gesamtkunstwerk und ein Manifest zugleich.

Das Plädoyer ist in zehn Thesen strukturiert, die Oliver Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat.
© adobe.stock/everythingpossible





Dieses Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist für mich ein Gesamtkunstwerk und auch ein Manifest, nämlich ein Appell für die endlich durchzuführenden notwendigen Reformen in der Justiz. Der vormalige Kabinettschef einer Justizministerin hat durch diese Position den Überblick beziehungsweise Durchblick über den gesamten Justizapparat, nunmehr ist er Gerichtsvorsteher eines Wiener Bezirksgerichtes und sieht die Probleme der Justiz im Alltag.
Strukturiert ist dieses Plädoyer in zehn Thesen, die Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat. In der ersten These beweist er, dass die Kunst der Justiz wichtige Impulse liefert. Die Kunst spendet Anregungen und liefert oft Kritik. Er beschreibt aus der berühmten Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Anatole France „Crainquebille“, wie sich oft ein kleiner Irrtum eines Justizorgans im Laufe der Jahre zur Tragödie eines Menschen (hier eines französischen Staatsbürgers) ausgeweitet hat.

Vernetzung mit der Kunst


Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester - © Foto: Gregor Schweinester

Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester – © Foto: Gregor Schweinester
Ich möchte nunmehr einen kleinen Beitrag zu diesem aufsehenerregenden Fall in Frankreich liefern und mache auf den österreichischen Autor Otto Hans Ressler mit seiner großartigen Novelle „Die Verleumdung“, erschienen in der Edition Splitter in Wien, aufmerksam, die historische Hintergrundfolie des vergessenen Antisemitismus vor 1914 in der Habsburgermonarchie. Die Hauptfigur, der Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt den rechtsradikalen Reichsratsabgeordneten Gerwald Holomek wegen Rufschädigung und Ehrenbeleidigung. Vieles aus dem beschriebenen Gerichtsverfahren erinnert an die Jetztzeit, weil Ressler Zitate auch von lebenden Politikern verwendet hat.

"Mut zum Recht!" Das "Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat" des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604

„Mut zum Recht!“ Das „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“ des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604
Scheiber fordert zu Recht, dass die Justiz die Vernetzung mit der Kunst für die Aus- und Fortbildung der Richter stärker nutzen soll.
In der zweiten These wünscht sich der Autor ein Mehr an Gerechtigkeit, indem die leider noch immer vorhandene Klassenjustiz durch eine neue Kultur innerhalb der Justiz eine stärkere Ressourcenverteilung bewirken soll. Leitbild der Justiz müssen der gleiche einfache Zugang zum Recht für alle und das faire Verfahren sein. Im geltenden Zivilverfahren herrscht durch die hohen Gerichtsgebühren ein Ungleichgewicht, im Strafverfahren werden auffallend oft sogenannte „heikle“ Fälle wegen angeblicher Komplexität eingestellt, oder es wird eben bis zur Verjährung ermittelt. Die Justiz muss innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals verständlich, fair und emphatisch agieren. Das bedeutet mit möglichst wenig Formalismen kommunizieren, einen effizienteren Rechtsschutz und die Gelegenheit für jedermann, ausführlich angehört zu werden.
In der dritten These stellt der Verfasser mit Recht fest, wie wichtig Leitfiguren sind. Derzeit fehlen in der österreichischen Justiz solche Persönlichkeiten, die genügend engagiert sind und im System innovativ wirken. Schon bei der Grundausbildung sollte die Kritikfähigkeit und Selbstreflexion gestärkt werden. Mein Beitrag dazu ist der Umstand, dass jeder Richter genügend Kreativität haben muss, um sich (und den Parteien) den Ärger mit dem Sachverständigen(un)wesen zu ersparen. Die Sachverständigen haben mich oft an reine „Lohnschreibereien“ erinnert, wobei ich nicht unbedingt mangelnde Ethik behaupten möchte, jedenfalls aber mangelnde Qualität und die jeweilige Abhängigkeit vom Auftraggeber – klassischer Fall sind die von den Staatsanwälten bestellten Sachverständigen.
Imponierend ist der Gedanke von Scheiber im Familien-, Jugendstraf- und Erwachsenenschutzrecht runde Tische einzuführen, um eine gemeinsame Lösungssuche aller Beteiligten zu ermöglichen.
In der vierten These behandelt Scheiber die großen Probleme im Zusammenhang mit dem Faschismus und schildert den Fall Gross. Zu meiner Verwunderung als damaliger Verteidiger des Heinrich Gross weist Scheiber nach, dass erst eine Weisung des damaligen Justizministers notwendig war, aufgrund des erdrückenden Beweismaterials Gross anzuklagen. Die Republik hätte schon längst Gross anklagen müssen, und das erkennende Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, ein Beweisverfahren durchzuführen. Tatsächlich war es so, dass ganz im Gegenteil Heinrich Gross jahrzehntelang der Hauptsachverständige der Justiz im Landesgericht für Strafsachen Wien war.

Mängel im Strafrecht

Die These fünf ist ein Narrativ betreffend die Mängel im Strafrecht bezüglich der aktuellen gesetzlichen Bestimmungen. Maßnahmen für eine Reform sind folgende:
Befreiung des Rechtsmittelverfahrens vom Formalismus der Nichtigkeitsgründe; obligatorische anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren, also nicht nur wie bisher in der Untersuchungshaft, sondern auch in der Strafhaft.
Gerade im Verfahren bei der bedingten Entlassung habe ich selbst noch festgestellt, wie oft nicht genügend qualifizierte Sprengel- und Rechtshilferichter den Antrag eines Delinquenten in wenigen Minuten abgeschmettert haben, weil er ohne Anwalt und nach jahrelanger Verbüßung einer Strafe geschwächt und im Hinblick auf die Autorität dieses Richters sprach- und machtlos war. Unter dem Vorwurf der Nicht-Qualifikation erblicke ich die nicht genügend geschärfte Empathie und die totale Überlastung vieler Richter in zahlreichen Gerichten Österreichs. Scheiber fordert die Vernetzung der Gerichte mit den Sozialarbeitern und den Forschungseinrichtungen, und es sollte endlich ein forensischer Lehrstuhl eingerichtet werden.
Für mich nicht überzeugend ist Scheibers Forderung nach der Schaffung dreier statt wie bisher zweier Instanzen, weil durch die bisher unrichtige Einschätzung der Bedeutung der Justiz nicht einmal genügend Mittel für die korrekte Gestaltung zweier Instanzen zur Verfügung stehen.
In der These sechs behauptet Scheiber, dass Europa unser Rechtssystem verbessert. Mir fehlt allerdings ein europäischer Kanon in der Justiz. Seine Forderung, die Justiz sollte in Brüssel verstärkt eigene Gesetzesinitiativen einbringen und so den europäischen Rechtsraum stärker mitbestimmen, finde ich realitätsfremd, weil Österreich allein ohne die vorherige Absprache mit größeren und mächtigeren Staaten nichts bewegen kann.
In der siebenten These beschäftigt sich Scheiber mit der Sprache und Kommunikation der Justiz, also dem Zugang zum Recht. Das Setting ist generell zu modernisieren.
Leider wird der juristische Nachwuchs an den Universitäten zur Unverständlichkeit erzogen. Endlich muss als Kernkompetenz der Rechtsberufe die Fähigkeit, juristische Sachverhalte allgemein verständlich auszudrücken und sich einer einfachen Sprache zu bedienen, erkannt werden. Die Justiz müsste eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit an den Tag legen und Public-Relation-Profis einbinden. Dazu gehören eine mehrsprachige Internetseite und der Ausbau der Servicestellen, ebenso eine Zusammenarbeit der Justiz mit der Sprach- und Kommunikationswissenschaft.
In der achten These fordert Scheiber eine nicht nur räumliche Trennung von Staatsanwaltschaften und Gerichten, also keine Unterbringung im selben Gebäude, sondern auch keine öffentliche Vertrautheit von Richtern und Staatsanwälten.
Scheiber postuliert zu Recht, dass Staatsanwaltschaften über Anträge der Polizei oder Gerichte über Anträge der Staatsanwaltschaften – wie oft nicht üblich – über telefonische Ansuchen möglich sein sollen. Aufgrund der modernen Technik entsteht auf diese Art und Weise keine Zeitverzögerung durch eine schriftliche Erledigung.
Einen großen Fortschritt stellt die audiovisuelle Aufzeichnung aller Einvernahmen und Verhandlungen dar. Für alle Asyl- und Strafverfahren fordert er eine obligatorische unabhängige Rechtsvertretung.
In der neunten These ist das Narrativ eine politische Justiz, gemeint wohl gesellschaftspolitisch und nicht parteipolitisch oder gar ideologisch determiniert. Allerdings ist durch das Weisungsrecht des Justizministers die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet. Trotz der Einführung des sogenannten Weisenrates, übrigens ein Fremdkörper in unserem System, sowie der nunmehr notwendigen Schriftlichkeit der Begründung der Weisung, bleibt weiterhin die mögliche Gefahr eines vorauseilenden Gehorsams bestehen. Ich, Lehner, fordere die Abschaffung der Dienstbesprechungen.

Richter als Spiegel

In der zehnten These ist der Kanon, dass die Justiz ihre Unternehmungs- und Kommunikationskultur stark verdichten muss, da durch die Digitalisierung und Globalisierung alles in Bewegung ist. Scheibers Vorschlag, dass die Richter ein Spiegelbild der Zusammensetzung der Bevölkerung darstellen sollen, gefällt mir sehr.
Der derzeitige Justizminister, Clemens Jabloner, stellte den stillen Tod der Justiz in den Raum. Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Friedrich Forsthuber, ruft zur Rettung des Rechtsstaates auf. Der engagierte Staatsanwalt Bernd Ziska meint, “ der Patient Justiz liegt im Wachkoma“, und ich erblicke „high noon“.
Die Legisten des Justizministeriums sollen sich Oliver Scheiber als Vorbild nehmen, der Text seines Werkes ist für jedermann verständlich und nicht dadaistisch. Mögen seine Vorschläge so rasch wie möglich umgesetzt werden.

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„Null-Toleranz-Botschaften sind leere Schlagworte” – Interview für verfassungslos

„Null-Toleranz-Botschaften sind leere Schlagworte”

Oliver Scheiber im Interview zur Lage der Justiz und Reform des Strafrechts.

Strafverschärfungen sollen den Gewaltschutz fördern. Doch wie wirksam ist diese Herangehensweise wirklich? Valentina Klemen und Ricardo Parger trafen den Strafrichter Oliver Scheiber, um über die tägliche Praxis bei Gericht, die geplante Strafrechtsreform sowie über den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt zu sprechen.
Parger: Herr Scheiber, Sie sind nicht nur Gerichtsvorsteher an einem Bezirksgericht in Wien, sondern engagieren sich auch außerhalb dieser Tätigkeit. Inwiefern dürfen oder sollen sich Richter öffentlich politisch äußern?
Scheiber: Wenn ich bei mir persönlich beginne, dann war zivilgesellschaftliches Engagement stets ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit und meines Agierens. Selbstverständlich erfordert der Richterberuf eine Menge besonderer Verpflichtungen und Rücksichtnahmen. Diese ergeben sich zum Teil aus dem Gesetz: Zum Beispiel dürfen Richter*innen keine Vorstandsfunktionen in Kapitalgesellschaften annehmen, müssen eine ethische Herangehensweise bei öffentlichen Auftritten an den Tag legen und auch eine gewisse Distanz zu politischen Parteien haben. Wichtig ist eine saubere Trennung [von beruflicher Tätigkeit und privatem Engagement] und Professionalität im Beruf. Grundsätzlich würde ich jedoch aus meiner Biographie heraus sagen, dass der Beruf des Richters/der Richterin ein zivilgesellschaftliches Engagement nicht ausschließen darf und im Sinne der freien Meinungsäußerung auch nicht ausschließen kann.

Klemen: Die derzeitige Lage der Justiz liefert ausreichend
Anlässe für ein solches Engagement. Man hört ständig, es seien zu wenig
finanzielle Mittel vorhanden, bei der Staatsanwaltschaft fehle es an Personal.
Trotzdem wird Budget gekürzt und Planstellen werden nicht nachbesetzt. Das
zeigt sich auch in komplizierten Korruptions- und Wirtschaftsstrafverfahren,
wie zuletzt bei der Eurofighter-Causa. Wie nehmen Sie das in der Praxis wahr?
Scheiber: Die aktuellen
Schwierigkeiten haben eine lange Vorgeschichte. Die Justiz ist traditionell ein
sehr sparsames Ressort mit wenigen Ermessensausgaben. Als dann die
gleichmäßigen Kürzungen in allen Ressorts vor etwa 20, 30 Jahren begonnen
haben, war die schon damals schlanke Justiz natürlich doppelt betroffen. In den
letzten Jahren haben wir jedoch gesehen, dass bei der Justiz gekürzt wird,
während z.B. bei der Polizei Aufstockungen erfolgen. Das hat definitiv zu einer
Schieflage geführt.
Parger: Könnte man das als einen Angriff auf den Rechtsstaat
interpretieren?
Scheiber: Könnte man, wenn man
unterstellen mag, dass dahinter ein Plan oder eine Absicht steht. Es ist
natürlich bei jeder politischen Partei, die ein (eher) autoritäres Staatsbild
vor sich hat, eine Tendenz da, die Polizei zu stärken und Ressourcen bei
kontrollierenden Einrichtungen wie Justiz oder Parlament zurückzunehmen.
Parger: Viele
Richter*innen fühlen sich im Stich gelassen und fürchten sogar, dass die
finanzielle Situation der Justiz den Rechtsstaat gefährde. Dazu kommen
wiederholte Angriffe der bis vor kurzem regierenden freiheitlichen Partei.
Herbert Kickl [ehemaliger Innenminister] hat etwa die europäische
Menschenrechtskonvention infrage gestellt und damit die Verfassung – die Grundlage
unseres Rechtsstaates. Sehen Sie das auch so drastisch wie Ihre
Richterkolleg*innen?
Scheiber: Ich würde es schon so drastisch sehen, weil ich
glaube, es gibt bei diesen Entwicklungen hin zum Autoritären immer einen
Zeitpunkt, an dem das Ganze kippt und kaum mehr rückgängig zu machen ist. Ein
solch kritischer Moment war die BVT-Affäre, die Gott sei Dank viele
wachgerüttelt hat. Zum anderen sei erwähnt, dass es Tradition der FPÖ ist, sich
mit der Justiz schwer zu tun. Das war bei der ersten schwarz-blauen  Koalition unter Schüssel ähnlich.
Klemen: Auf der einen
Seite gibt es Kürzungen im Bereich der Justiz, auf der anderen Seite werden
etwa in Wirtschaftsstrafverfahren sowie auch im allgemeinen Strafrecht
scheinbar höhere Anforderungen an die Justiz gestellt. 2018 ist in Erinnerung
als Jahr mit verhältnismäßig vielen Morden an Frauen. Deren Zahl hat sich im
Vergleich zu 2014 mehr als verdoppelt. Sehen Sie Zusammenhänge zwischen dem
Ressourcen- und Personalmangel in der Justiz und dem Anstieg an Gewalttaten
gegen Frauen?
Scheiber: Bei der Einschätzung wäre ich vorsichtig. Klar ist,
dass darüber Aufschlüsse, Forschungen sowie Studien fehlen. Es ist schon
denkbar, dass dies eine gewisse Häufung ist, die in dem einen Kalenderjahr
aufgetreten ist. Ich kann keinen direkten Konnex herstellen zwischen schlechter
Budgetsituation und dem raschen Anstieg der Kriminalität genau in diesem
Bereich. Im Jahr 2019 setzt sich das auch zum Glück bislang nicht so fort.
Klemen: Mangelnde
Ressourcen können auch die effiziente Abwicklung des Ermittlungsverfahrens
erschweren. Seitens der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser etwa wurde
kritisiert, dass dies zur Folge haben kann, dass Täter nicht in
Untersuchungshaft kommen und dass Opfer daher oftmals auch nach Erstattung der
Anzeige weiterhin in Gefahr sind.
Scheiber: Bei vielen Beratungs- und Unterstützungsvereinen für
Opfer oder gefährdete Personen wurden die Mittel gekürzt. Dass das negative
Folgen hat, ist naheliegend. Dass sich das auch auswirkt auf ein längeres
Fortbestehen oder Nichtabbrechen von Gefahrensituationen, ist auch naheliegend.
Die Untersuchungshaftfrage sehe ich nicht unbedingt als den Knackpunkt.
Vielmehr glaube ich, dass wir ein Defizit bei Gefährlichkeitsprognosen und
Prognoseentscheidungen haben und dass dieser Mangel zu einem Anstieg der
Gewaltkriminalität führen kann. Außerdem besteht ein Kommunikationsproblem.
Polizei, Staatsanwaltschaft, Psychiatrien und Krankenhäuser kommunizieren zu
schwerfällig miteinander. So werden etwa wesentliche Informationen, teilweise
aus Datenschutzerwägungen, nicht gegenseitig ausgetauscht. Meines Erachtens ist
dies ein starkes Element dafür, dass Gefahrenlagen nicht rechtzeitig
abgebrochen werden.
Parger: Sie sind auch
Vorstandsmitglied in der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring. Inwiefern war
diese Organisation von Einsparungsmaßnahmen durch den Staat betroffen?
Scheiber: Es ist generell schwierig, öffentliche Gelder zu
lukrieren. Auch für die besten Zwecke ist es schwierig geworden. Im Bereich des
Opferschutzes gibt es die psychosoziale und die juristische Prozessbegleitung.
Wenn etwas passiert ist, dann hat das Opfer Anspruch auf staatliche Leistungen
sowie Opferschutzleistungen. Das hilft bei der Vermeidung der Gewalttaten aber
praktisch gar nicht. Gefahren zu erkennen und einzugreifen, bevor etwas
passiert, ist die größte Herausforderung.
Parger: Was wären
solche Institutionen, die die Gefahr erkennen könnten?
Scheiber: Das kann sowohl die Schule
selbst sein, der etwas auffällt, das kann aber auch ein Kind sein, das einem
Lehrer berichtet. Das kann natürlich
auch der praktische Arzt sein, der bei einer ständigen Patientin
Gewalteinwirkungen feststellt. Das kann eine Notaufnahme im Krankenhaus sein,
aber natürlich auch die Polizei selbst.
Klemen: Wo könnte man
Ihres Erachtens nach ansetzen?
Scheiber: Wichtig ist die Information der Öffentlichkeit:
Sensibilisierung auf altersgerechte Art und Weise, auch bei Kindern,
Jugendlichen und der Lehrerschaft. Ein weiterer Punkt ist sicher die
Fortbildung, das heißt eine Sensibilisierung auch von Jurist*innen.
Klemen: Kommen wir zur geplanten
Strafrechtsreform – dem sogenannten dritten Gewaltschutzgesetz. Dieses umfasst
ein Bündel verschiedener Änderungen, die im Herbst beschlossen werden sollen.
Unter anderem werden zwei Ziele verfolgt: Es 
soll im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte bei einigen Tatbeständen
zu einer Straferhöhung kommen. Außerdem sollen die Opferrechte in der
Strafprozessordnung eine umfassende Erweiterung erfahren. Insgesamt gehe es
darum – so die frühere Staatssekretärin Edtstadler – Tätern gegenüber „null
Toleranz“ zu zeigen. Was halten Sie von dieser Zielsetzung?
Scheiber: Ich halte diese
Null-Toleranz-Botschaften für leere Schlagworte und denke, sie sind auch
wissenschaftlich widerlegt. Wir haben die USA mit einem starken Strafanspruch,
sehr vielen Haftstrafen und gleichzeitig einer hohen Kriminalität. Es ist
hinlänglich ausdiskutiert, dass Straferhöhungen nicht zu einer Senkung  der Kriminalität führen. Der
Gesetzesvorschlag enthält einige sinnvolle Maßnahmen im Bereich des
Opferschutzes. Wo er jedoch im StGB ansetzt, ist er eher schädlich, weil der
Ermessensspielraum der Richter*innen zu stark eingeschränkt werden soll.
Klemen: § 201 StGB – das Verbrechen der Vergewaltigung: Hier
soll es zu einer Erhöhung der Mindeststrafe von einem auf zwei Jahre kommen.
Wie beurteilen Sie diese Verschärfung? Könnte sie sich auch gegenteilig, d.h.
nicht im Sinne des Reformzweckes auf Ihr richterliches Urteil auswirken?
Scheiber: Starre Regelungen wie
Mindeststrafen haben vielerlei ungünstige und zum Teil verheerende Folgen. Sie
sind generell ein sehr untaugliches Instrument, wenn man von wenigen Fällen
absieht. Man muss immer vor Augen haben, dass sowohl die Straftaten in ihrer
Ausformung völlig unterschiedlich sind, als auch die Täterpersönlichkeiten.
Ein Strafrecht mit dem Ziel,
Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, muss Richter*innen ein
möglichst flexibles Instrumentarium geben. 
Das schafft man mit Mindeststrafen ab. Opferschutz muss immer auch die
Täter und die Auswirkungen der Strafe auf diese mitdenken. Es ist ein
schlechter Dienst an den Opfern, einfach blind auf den Täter hinzuhauen.
Parger: Das Strafrecht soll das Ziel verfolgen, eine
maßgeschneiderte Strafe für die Täter zu urteilen?
Scheiber: Genau! Das ist aus einem
humanistischen Zugang zum Strafrecht notwendig, aber auch ganz pragmatisch
wegen des Opferschutzes und des Schutzes der Gesellschaft. Die Fragen sollten
sein: Wie gelingt es, dass es möglichst wenige Straftaten gibt? Wie erreiche
ich eine geringe Rückfallquote? Dafür muss das Strafrecht flexibel sein, denn
einmal ist eine Haftstrafe angemessen, ein anderes Mal eine Therapie oder eine
Kombination aus beidem. 
Parger: Bei sexueller und familiärer Gewalt sind es
überwiegend Männer, die Frauen und Kindern Gewalt zufügen. Wie ist Ihre
Erfahrung mit dem Erfolg von Burschen- bzw. Männerarbeit? Wie sehr wird in der
Praxis ein Fokus darauf gesetzt, Anti-Gewalt-Training in einer Weisung zu
erteilen oder Burschen möglichst jung zu sensibilisieren?
Scheiber: Ich glaube, wir haben
immer noch zu wenig Angebote für männliche Gewalttäter. Es wird oft als
Schwäche ausgelegt, wenn sich Burschen oder Männer Therapien unterziehen. Das
Gewaltschutzgesetz vor 20 Jahren hat schon die Möglichkeit eröffnet, Männer bei
familiärer Gewalt aus der Wohnung zu weisen. Obwohl diese Regelung sehr
fortschrittlich war, hat man den Fehler gemacht, sich in Folge zu wenig um
diese weggewiesenen Männer zu kümmern. Das fällt letztlich allen Beteiligten
auf den Kopf.
Klemen: Wie entscheiden Sie in der Praxis? Welche Kriterien
werden bei der Beurteilung herangezogen, ob ein Täter während seiner Haftstrafe
Therapie machen muss oder nicht?
Scheiber: Hier muss unterschieden
werden. Wir haben einerseits den großen Bereich des Maßnahmenvollzuges:
psychisch kranke Täter, die nicht im normalen Strafvollzug unterkommen. Daneben
gibt es den normalen Strafvollzug mit verschiedenen Varianten. Wird eine Person
zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt, entscheidet das Gericht darüber, ob
Auflagen dazukommen, das heißt ob Weisungen erteilt werden. Das kann eine
Drogenentzugsbehandlung oder auch eine Anti-Aggressionstherapie sein. Spricht
das Gericht jedoch eine unbedingte Strafe aus [das bedeutet, dass der Täter in
Strafhaft kommt], dann obliegt diese Entscheidung dem Strafvollzug selbst, d.h.
der Gefängnisverwaltung und den Strafvollzugsinstanzen.
Klemen: Die Reform umfasst auch Änderungen im
Jugendstrafrecht. So soll der Strafrahmen von jungen Erwachsenen mit jenem von
Erwachsenen gleichgesetzt werden. Außerdem soll die Möglichkeit lebenslanger
Haftstrafen geschaffen werden. Unter 20-Jährigen lebenslange Haftstrafen zu
geben war zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts möglich. Halten Sie diese
Änderung für einen Rückschritt?
Scheiber: Es ist einfach die
Rückkehr des plumpen Vergeltungsgedankens. Dabei handelt es sich mit Abstand um
den schlimmsten Punkt in diesem Gesetzesvorschlag. Ich hoffe immer noch, dass
es nicht umgesetzt wird. Ich halte die Idee für bösartig und wider jeden Trend.
Eine Art Gegenaufklärung kann man sagen.
Parger: Sprechen wir über Ihr Buch Sozialdemokratie – letzter Aufruf. Dort schreiben Sie gleich zu
Beginn: „Wer wo im Gerichtssaal sitzt, ob jemand sich bei den Angeklagten, bei
den RichterInnen, bei den AnwältInnen oder SchuldnerInnen wiederfindet. Das
hängt stark von jenem Zufall ab, in welche soziale Umgebung, in welche Familie
er oder sie geboren wurde.“ Im Strafgericht wird auf Basis der individuellen
Schuld geurteilt. Es wird wenig über das familiäre Umfeld und über die soziale
Herkunft gesprochen. Wie könnte man mehr darauf eingehen?
Scheiber: Sieht man sich das österreichische
StGB an, so würde ich meinen, dass die Praxis dem Gesetz hinterherhinkt. Unser
Gesetz stammt aus den 1970er Jahren, einer stark aufklärerischen, progressiven
Phase der Justizgesetzgebung. Das Gesetz hat seit damals einen breiten
Horizont, ist menschenfreundlich und denkt unter Berücksichtigung der sozialen
Hintergründe. Das sieht man an einigen Formulierungen. Wenn man die Milderungs-
und Erschwerungsgründe betrachtet, ist erkennbar, dass die Milderungsgründe
deutlich überwiegen. Das Gesetz denkt schon weit in die Täterbiographien
hinein. Die praktische Umsetzung dessen ist eher unbefriedigend. Wir
beschäftigen uns in Österreich ausführlich mit der Tat, jedoch recht wenig mit
der Persönlichkeit des Täters. Das ist bereits bei einem Blick auf den
Akteninhalt erkenntlich. Rund 95% des Papieraktes drehen sich um die Tat und
ihre Modalitäten. In anderen Ländern, etwa in der Schweiz, ist dies anders.
Dort beschäftigt sich etwa ein Drittel des Aktes mit der Person. Auch Verfahren
werden anders geführt. So teilt man in anderen Ländern die Verhandlung in
verschiedene Abschnitte: Zunächst wird überprüft, ob es zu einem Freispruch
oder Schuldspruch kommt. Im Falle eines Schuldspruchs käme dann ein zweiter
Teil der Verhandlung, der sich mit der Person des Täters und der Frage nach
einer geeigneten Sanktion beschäftigt.
Klemen: Woran liegt es, dass es im Bereich der sexuellen
Gewalt zwar viele Anzeigen gibt, es aber im Verhältnis dazu zu wenigen
Verurteilungen kommt? Weil die Staatsanwaltschaft erst gar nicht Anklage gegen
die Verdächtigten  erhebt, sondern das
Verfahren einstellt?
Scheiber: Ich glaube der Knackpunkt
bei Sexualdelikten und bei dieser Form der familiären Gewaltdelikte ist, dass
es sich um eine besondere Form der Kriminalität handelt. Sie passiert meistens
ohne Zeug*innen. Das führt oft dazu, dass sich im Ermittlungsverfahren zwei
Aussagen gegenüberstehen. Daher ist die Geschwindigkeit bei solchen Delikten
von besonderer Bedeutung. Alles, was an Beweisen sehr schnell gesichert wird,
erleichtert eine Anklageerhebung. Je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird
das. Aus diesem Grund würde ich den Schwerpunkt bei der Unterstützung der Opfer
setzen. Bereits einfache Handlungen, etwa das Fotografieren der Verletzungen,
können im Verfahren einen wesentlichen Unterschied machen. Darüber müssen Opfer
aufgeklärt werden. Wird das vergessen und kann man die Verletzung eine Woche
später nicht mehr erkennen, ist die Beweislage aus strafrechtlicher Sicht
bereits ganz anders.
Klemen: Sie haben bereits angesprochen, dass hier auch die
Umgebung, etwa Freunde, Bekannte und Nachbarn aufmerksam sein sollen.



Scheiber: Genau und ich glaube, dass
man auch gesetzlich etwas tun sollte, um klarzustellen, dass es jedenfalls
nicht gesetzwidrig sein kann, wenn Institutionen wie die Schule oder der
Kindergarten Verdachtsmomente mitteilen und Informationen weitergeben. Wir
merken oft eine Hemmung seitens der Lehrerschaft. Oft werden Informationen
nicht weitergegeben, aufgrund des „Datenschutzes“. Klar ist: Überall dort, wo auch
nur der Verdacht besteht, dass Menschen gefährdet sind, sollten diese
Überlegungen keine Rolle spielen dürfen.
Klemen: Vielen Dank für die spannenden Einblicke. Haben Sie
als Abschluss noch eine Botschaft, die Sie unseren Leser*innen mitgeben möchten?
Egal, in welcher Rolle jemand vor Gericht auftritt: Jeder hat ein Recht darauf, dass ihm die staatlichen Behörden zuhören! Es ist ausgesprochen wichtig, Menschen ernst zu nehmen und die Vielschichtigkeit von Situationen mitzudenken. Es lohnt sich stets, Menschen zumindest fünf ehrliche Minuten zu schenken, denn wenn man ihnen Raum gibt, haben sie auch etwas zu sagen.
Wer mehr über Oliver Scheiber erfahren will, kann ihm auf seinem Blog oliverscheiber.blogspot.com sowie auf Twitter folgen.
Information für Betroffene und Unterstützer*innen:
Frauenhelpline: 0800/222 555
(anonym, kostenlos, Onlineberatung)
Männerberatung: https://www.maenner.at

Gewaltfreie Nachbarschaften aufbauen: https://stop-partnergewalt.at

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