Florian Zillner: Rezension zu „Mut zum Recht“

Für die österreichische Richterzeitung hat Florian Zillner mein Buch „Mut zum Recht“ rezensiert. Der Text ist in der Richterzeitung 2020/1-2 erschienen (S. 26)

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Rezension: „Mut zum Recht“ von Oliver Scheiber
Dem viel beschworenen „leisen Tod“ der Justiz setzt Oliver Scheiber Visionen entgegen. Mit seinem Buch „Mut zum Recht“ formuliert der Wiener Strafrichter ein leidenschaftliches Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat. In seiner Streitschrift spart der Autor nicht mit Kritik am System, warnt vor einer Klassenjustiz und verlangt von seinen Kolleg*innen mehr politisches Engagement. Hat er damit wirklich recht?
Das Jahr 2019 stellte die heimische Justiz vor große und viel diskutierte Herausforderungen: Durch die jahrelangen und zusätzlich verschärften Einsparungen und die weitreichende Reduktionen im Personalbereich an den Rand der Funktionstüchtigkeit gedrängt. BVT-Affäre und öffentlich ausgetragene Konflikte zwischen WKStA und Zentralstelle. Ein Justizminister, Mitglied einer einzigartigen Expertenregierung, der von einem „stillen Tod der Justiz“ sprechen muss und in einem viel beachteten Wahrnehmungsbericht nicht bloß personelle, sondern auch dramatische strukturelle Mängel in der Gerichtsbarkeit, Strafvollzug sowie Maßnahmenvollzug aufzeigt.
Das Ende November im Falter-Verlag erschienene Buch des Vorstehers des BG Meidling Oliver Scheiber greift all diese Entwicklungen auf. Der Autor begnügt sich allerdings nicht mit einem Lamento über die herrschenden Zustände. Herausgekommen ist eine außerordentliche Streitschrift. Entgegen der sonstigen, zwar verständlichen, aber größtenteils lähmenden Gepflogenheiten übt der Autor offene Kritik. Nicht nur an der Politik, sondern auch an der Justiz und ihren Protagonisten.
Die Medien nahmen das Buch mit Begeisterung auf. Nikolaus Lehner nannte das Buch in der Wiener Zeitung ein Gesamtkunstwerk und Manifest. Für die Wochenzeitung „Falter“ ist der Autor nicht bloß Strafrichter, sondern „Citoyen.“ Der Standard sieht in Oliver Scheiber „das Gegenteil von Betriebsblindheit.“ und kürt ihn kurzer Hand zum „obersten Justizkritiker“.
Die kollegiale Skepsis schlägt bei derartigen Jubelmeldungen sofort Alarm: Handelt es sich wirklich um das progressivte Plädoyer für eine Erneuerung der Justiz seit Chrisitan Broda? Wäre es nicht einfacher, das Buch zu verdammen und den Autor am besten gleich mit? Stichwort „linke Justiz“?
Immerhin bemühte sich die Richterschaft jahrzehntelang darum, ihren Mitgliedern das Versprechen abzuringen, sich nicht politisch zu äußern. Von den Richter*innen wurde – und wird – Zurückhaltung und Distanz zum politischen Tagesgeschäft gefordert. Immer mit dem Ziel vor Augen, dadurch jeglichen Anschein von Parteilichkeit oder gar Parteinahme zu vermeiden.
Oliver Scheiber bricht bewusst mit der Konvention, die sich die Richterschaft spätestens mit den Salzburger Beschlüssen auferlegt hat. Er macht klar, dass er die Distanzierung – Verdammung, wie er es nennt – allen Politischen innerhalb der Richterschaft für falsch hält. Durch sie sei schleichend ein unnötiger atmosphärischer Graben zwischen Politik und Justiz entstanden. Ähnliches macht er im Verhältnis zu den Medien aus. Auch hier gelinge es nicht, eine Kommunikation auf Augenhöhe herzustellen. Nur im Verband mit Politik und Medien sei es aber möglich, den Rechtsstaat zu reformieren und letztendlich auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Das Ziel, das Oliver Scheiber in zehn Kapiteln und jeweils darauf aufbauenden Thesen verfolgt, tritt mit der notwendigen Klarheit hervor: Einerseits die Verteidigung und andererseits die Fortentwicklung des liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats.
Sein Hauptaugenmerk richtet Scheiber dabei immerzu auf die Rechtsunterworfenen. Ohne unnötig zu skandalisieren wird der Umgang der heimischen Justiz mit jenem Teil der Bevölkerung analysiert, dem der Autor im richterlichen Berufsalltag begegnet. Das ehemalige Kabinettsmitglied im BMJ sucht dabei nach den Ursachen für Fehlentwicklungen und findet sie in allen Bereichen. Sowohl interne als auch externe Faktoren macht er dafür verantwortlich, dass die guten Leistungen der Justiz nicht mehr Akzeptanz in der Bevölkerung fänden. Der mangelnde Rückhalt erleichtere es wiederum populistischen Strömungen in der Politik, schlechten Einfluss auf den Rechtsstaat zu nehmen oder die Unabhängigkeit von gerichtlichen Entscheidungen in Frage zu stellen. Inhaltlich spannt er dabei den Bogen von der französischen Literatur an der Wende zum 20. Jahrhundert hin zu den Niederungen eines Verhandlungstages in Strafsachen am BG Meidling.
Die Analysen sind eindeutig und bestechend scharf formuliert. Sie sind richtig und tun weh. Wenn Scheiber etwa über den Sprachgebrauch von Jurist*innen schreibt, den er für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als unverständlich bezeichnet. Oder die Behauptung aufstellt, dass sich die Strafgerichtsbarkeit zu sehr auf die minderschwere Kriminalität konzentriert und sich vor der Verfolgung wirtschaftlich potenter Täter*innen drückt. Letztendlich gelingt Oliver Scheiber der Beweis, dass das Rechtssystem (unbewusst?) zwischen arm und reich unterscheidet und dies – auch – von der Richterschaft großteils widerstandslos hingenommen wird.
Man will diesen Befund nicht teilen. Einfacher wäre es, ihn erbost zurück zu weisen. Doch dazu sind die Beobachtungen des Autors zu präzise und dessen Ableitungen nicht widerlegbar. Schadet er damit dem Ansehen der Gerichtsbarkeit? Erweist er den Richter*innen und Staatsanwält*innen einen Bärendienst, indem er zu sehr auf die Versäumnisse des Systems hinweist?
Mitnichten. Das Buch verteilt keineswegs die Schuld selbstgerecht an die Kollegenschaft. Wiederholt verweist Oliver Scheiber auf die hervorragenden Leistungen der Justiz im internationalen Vergleich. Vielmehr bildet der Text eine Wirklichkeit ab, die eben existiert. Die sich tagtäglich an jedem Gericht in Österreich abspielt. Eine Wirklichkeit, welche die Entscheidungsorgane vor große Herausforderungen stellt und von diesen gemeistert wird. Der Text beschränkt sich zwar großteils auf den Strafbereich, würdigt dennoch den wertvollen Beitrag, den Kolleg*innen abseits davon zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.
Allzu oft wird dies als eine reine Selbstverständlichkeit abgetan. Nur Recht und Justiz sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie bedürfen des aufopferungsvollen Einsatzes der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Darin besteht die Leistung dieses Buchs. Es formuliert den Anspruch an das System, die Politik und die Mitarbeiter*innen gemeinsam für den Erhalt des Rechtsstaats zu kämpfen. Alleine die Nennung der großen Zahl seiner Mitstreiter*innen aus Justiz, Kultur, Politik und Medien und bietet durchaus Grund zum Optimismus, dass Zustände wie sie in Polen oder Ungarn herrschen, auf absehbare Zeit in Österreich nicht Einzug halten können.

Wenn das Buch daher Politik machen will, dann bitte mehr davon!


Florian Zillner


(Florian Zillner ist Richter in Oberösterreich)

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Interview mit anwalt aktuell

„Mut zum Recht“

OLIVER SCHEIBER
Jusstudium (Dr. iur.) in Salzburg, 1995 Ernennung zum Richter in Wien. 1999–2000 Leiter der Justizabteilung bei der Europäischen Kommission, Justizattaché im Rat der Europäischen Kommission. 2007–2008 Stv. Kabinettschef unter Justizministerin Dr. Maria Berger. Seit 1.1.2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling, Wien.
PLÄDOYER. In seinem Buch „Mut zum Recht“ listet Richter und Gerichtsvorsteher Oliver Scheiber 10 Themen zur Verbesserung der österreichischen Justiz auf. Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL geht es um unverständliche Juristensprache, unsymmetrische Verbrechensverfolgung, unausgewogene Instanzenzüge und vieles mehr…
Interview: Dietmar Dworschak

Will der Titel Ihres Buches „Mut zum Recht“ sagen, dass unser Recht ohnehin ganz gut da steht, aber nicht optimal ausgeübt wird?
Oliver Scheiber: Es braucht mehr Mut zur Anwendung des Rechts, aber auch zur Weiterentwicklung. Man sollte insgesamt mehr machen aus der Rechtsordnung.

Sie sagen: Rechtswissenschaft ist Sozialwissenschaft. Warum eigentlich?
Oliver Scheiber: Weil sich’s zu einem guten Teil um den Menschen dreht. Nicht immer. Wir können hochentwickelte Zusammenführungen von Aktiengesellschaften nehmen, da ist der menschliche Faktor nicht so im Vordergrund. Bei allem, was wir im Familienrecht, im Strafrecht, im Mietrecht haben, geht es sehr stark um Menschen und um Konfikte. Deshalb Sozialwissenschaft.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Ausbildung zum Juristen. Ich frage dies mit Blick auf die Ärzteausbildung, der man nachsagt, gerade im psychologischen Bereich einige Lücken aufzuweisen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Vergleich zur Medizin ein guter ist. Da gibt es einige Verwandtschaften. Ein wesentlicher Punkt ist einmal die Verständlichkeit. Das sehen wir auch in den Evaluierungen zur Justiz. Sie verfügt über ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, gleichzeitig aber wird festgestellt, dass sie für viele Menschen nicht verständlich ist. Das ist ein großes Manko. Ich glaube, es ist für jeden Beruf eine Schwäche, wenn er sich nicht verständlich macht. Sicher braucht man eine Fachterminologie, es muss aber trotzdem möglich sein, verständlich zu kommunizieren.

Führt nicht das Erlernen der sogenannten Fachsprache bereits im Studium von der Normalsprache weg?
Oliver Scheiber: Ja, drum glaube ich, dass hier schwerpunktmäßig bei den Universitäten angesetzt werden müsste. Was Gerichte und Anwaltschaft tun, ist, hart gesagt: die Deformationen, die die Leute im Studium erlitten haben, wieder wettzumachen. Die Fachsprache wird im Studium zu übertrieben gefördert, es findet eine Erziehung zur Unverständlichkeit statt. Der andere Punkt, den auch Sprachwissenschaftler kritisieren, ist, dass sich die schriftlichen Entscheidungen der Justiz eigentlich nie an die Parteien wenden, sondern immer nur an die Rechtsmittelinstanz. Das menschlich nachvollziehbare Interesse der Richter ist, dass ihre Entscheidungen halten. Wenn diese nicht halten, schadet das natürlich der Karriere, deshalb wird bei der Entscheidung vornehmlich die Sprache verwendet, die die Instanz versteht.

In Ihrem Buch kommt nicht selten der Begriff „Klassenjustiz“ vor. Sie weisen darauf hin, dass man bei unseren Gerichten lieber „die Kleinen“, also die Letzten in einer Verantwortungskette anklagt. Verstehe ich das richtig auch als Kritik an der richterlichen Kollegenschaft?
Oliver Scheiber: Ich glaube, das ist generell eine Frage des Strafrechts, die über Österreich hinaus gehend diskutiert werden muss. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo vieles humanistischer geworden ist, da ist es auch Zeit, in der Justiz Grundsatzfragen zu überdenken. Das Unternehmensstrafrecht ist ein gutes Beispiel, weil es ganz einfach wäre, bei bestimmten Umweltvergehen oder Arbeitsunfällen das Unternehmen zu verfolgen, und nicht Einzelpersonen. Beim Unternehmensstrafrecht gibt es allerdings ganz stark ein Ausbildungsproblem. Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz hat in Österreich nie richtig zu leben begonnen, und das ist vor allem eine Schulungsfrage.

Gibt es eine Neigung, bei der Strafverfolgung und dann auch im Gericht auf jene zuzugreifen, von denen man den geringsten Widerstand erwartet?
Oliver Scheiber: Delikte gibt es viele, das Dunkelfeld ist groß. Selektieren tut im Wesentlichen einmal die Polizei. Überwache ich U-Bahn-Stationen oder schicke ich meine Leute in irgendwelche Villen oder Seeuferpromenaden…usw. Die Staatsanwaltschaft führt diese Selektion dann weiter. Mein Anliegen ist hier ein Soziales: Es soll gleichmäßig alle Schichten treffen. Hier geht es auch um Ressourcen. Die Ressourcen sollen dort eingesetzt werden, wo die größten Schäden drohen. Das heißt: Vernünftigerweise konzentriere ich mich als Staat auf die Verfolgung von Mord, Raub und Vergewaltigung, aber auch von großen Gemeingefährdungsdelikten wie Umweltverbrechen, Lebensmittelvergiftungen etc.

Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Polizei und Justiz konzentrieren sich auf die Verfolgung sozial und wirtschaftlich schwacher Menschen bzw. jener Kriminalitätsfelder, die für sozial und wirtschaftlich Schwache naheliegend sind.“ Gleichzeitig weisen Sie darauf hin, dass bei Umweltvergehen, bei Pharma und Medizin sowie bei der Finanz- und Börsenkontrolle wesentlich weniger Ermittlungs- und Verfolgungsdruck entwickelt wird. War das in der Geschichte nicht immer so?
Oliver Scheiber: Das war sicher immer so. Aber ich denke, es hat sich doch einiges auch geändert. Mit der Einrichtung der Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft ist doch ein Feld aufgetan worden, wo man in der angesprochenen Hinsicht wesentlich mehr tut als früher. Im Umweltbereich sollte man ebenfalls mehr tun. Es gibt auch in Österreich Gegenden, wie zum Beispiel das Görschitztal, wo gesundheitliche Schäden in großem Ausmaß da sind, wo sich aber strafrechtlich viel zu wenig tut, um in irgendeiner Weise abschreckend zu wirken.

Sie kritisieren die aktuell praktizierte Form der Verhandlung vor Gericht als nicht mehr zeitgemäß, weil viel zu hierarchisch, sie sprechen von „Über-Inszenierung“…?
Oliver Scheiber: Ja, das betrifft aber nicht alle Bereiche. Im Familienrecht habe ich schon positive Beispiele erlebt. Es beginnt immerhin ein Umdenken, speziell in der Architektur, wo es schon Ansätze gibt, Verhandlungssituationen „auf Augenhöhe“ zu schaffen, wie zum Beispiel in den neuen Gerichtsgebäuden von Salzburg oder Korneuburg. Mit der Mediation und mit der Diversion gibt es bereits Instrumente, die die Kommunikation stark verändert haben. Den begonnenen Paradigmenwechsel sollte man aber weiter forcieren.

Sie fordern die Gleichstellung zivil- und strafrechtlicher Verfahren, was den Instanzenzug betrifft. Wo sehen Sie hier im Moment das Problem?
Oliver Scheiber: Das Problem ist, dass man in einem relativ undramatischen Zivilverfahren sehr oft drei Instanzen zur Verfügung hat und diese drei Instanzen auch ohne größere Formzwänge durchlaufen werden können, was ich zum Beispiel im Familienrecht auch sehr angemessen finde, dass umgekehrt aber im Strafrecht, wo es um Freiheitsstrafen geht, im Regelfall nur zwei Instanzen zur Verfügung stehen. Der Rechtszug bei Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr endet bei den Landesgerichten, wodurch sich keine höchstgerichtliche Rechtsprechung herausbilden kann.

In Ihrem Buch loben Sie Österreichs Medien mehrfach für ihre Rolle bei der Aufdeckung von Skandalen. Diese Tendenz wäre mir, den „Falter“ ausgenommen, eigentlich nicht besonders aufgefallen. Dafür bekomme ich immer wieder mit, dass Medien von Beamtenseite mit Insiderinformationen, oder nennen wir es „Amtsgeheimnissen“ versorgt werden. Ist das für Sie okay?
Oliver Scheiber: Wenn sehr viele Interna weitergegeben werden ist das für mich ein Zeichen, dass mit der Behörde etwas nicht stimmt. Wenn ich nämlich Missstände aufzeigen kann, dann regelt sich das normalerweise intern. Wenn Informationen an Medien weitergegeben werden bedeutet das zumeist, dass in der Behörde ein Druck besteht, etwas unter der Decke zu halten. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass Informationen besser auf diesem Weg in die Öffentlichkeit kommen als gar nicht. Es ist wichtig, dass wir einen stabilen Informantenschutz bewahren, denn ohne diesen wären die meisten Skandale, beginnend beim AKH, nicht in die Medien gelangt.

Wir haben es seitens der Beamtenschaft also nicht mit einer Art Nudelsieb zu tun, was die Bewahrung von Informationen betrifft?

Oliver Scheiber: Nein, da bin ich nicht sehr beunruhigt, da alle Experten sagen, dass sehr viel von den Verfahrensparteien weitergegeben wird. Nur der kleinere Teil kommt aus den Behörden, zumal diese im Ermittlungsverfahren gar kein Interesse daran haben, dass etwas hinausgelangt.

Sie fordern mehr Kommunikation zwischen Justiz und Öffentlichkeit. Dabei beziehen Sie sich auf das skandinavische Modell, wo Entscheidungen von Höchstgerichten im Internet veröffentlicht werden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich hier in Österreich in absehbarer Zeit etwas ändert, zumal wir in Sachen Behördentransparenz weltweit am letzten Platz stehen?
Oliver Scheiber: Da bin ich wenig zuversichtlich. Es gibt so viele Anküdigungen… Jeder aufstrebende Politiker in Österreich verspricht mehr Transparenz, und in Wirklichkeit tut sich gar nichts.

Weiter zum Thema Kommunikation: 2002 hat Jörg Haider den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs verhöhnt und damit ganz bewusst das Ansehen der Justiz geschädigt. Haben Sie das Gefühl, dass die österreichischen Politiker seither in sich gegangen sind und der Justiz so etwas wie Respekt entgegenbringen? 
Oliver Scheiber: Ich glaube, dass der Schaden rund um die Ortstafeln und Haiders Verspottung der Justiz schon nachhaltig gewirkt haben. Ich glaube aber, dass wir mittlerweile wieder grundsätzlich eine Stimmung haben, in der Institutionen respektiert werden. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn gewissermaßen strukturell „Verwunderung“ über Urteile ausgesprochen wird. Dem einzelnen Bürger steht es zu, dass er auf dem Weg aus dem Gerichtssaal sagt „Ich kann mich nur wundern…“ Als Politiker, vor allem in Regierungsverantwortung, muss ich mir schon überlegen, ob ich mich da wundern will – oder ob man es nicht besser dabei belässt, zu sagen: „das Gericht hat entschieden, so ist es.“

Wenn Sie in der Nacht aufgeweckt und nach Ihren drei wichtigsten Wünschen zur Verbesserung der Justiz in Österreich gefragt werden, was sagen Sie dann?
Oliver Scheiber: Deutliche Ressourcenkorrektur als ersten Punkt. Als zweites würde ich mir eine andere Unternehmenskultur wünschen, vor allem, was die Kommunikation betrifft. Und als dritten Punkt, auch wenn es nicht direkt Justiz ist: Ich glaube, dass man das Asyl- und Fremdenrecht neu denken muss. Hier sollten wir bei null beginnen.

Herr Dr. Scheiber, danke für das Gespräch.

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Bei Stöckl vom 6.2.2020

Ich danke Barbara Stöckl für die Einladung in die Sendung vom 6.2.2020. Bis 13.2.2020 noch in der TV-THEK nachzusehen.

Ursula Strauss, Marcos Nader, Herbert Fechter und Oliver Scheiber zu Gast in „Stöckl.“

Barbara Stöckl im Nighttalk mit einmal mehr höchst interessante Persönlichkeiten
Donnerstag, 6. Februar 2020
23.00 Uhr, ORF 2
Untertitelung: ORF TELETEXT S 777
In der aktuellen Ausgabe des ORF-Nighttalks „Stöckl.“ sind am Donnerstag, dem 6. Februar 2020, um 23.00 Uhr in ORF 2 Schauspielerin Ursula Strauss, Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader, Künstlermanager Herbert Fechter und Bezirksrichter Oliver Scheiber zu Gast bei Barbara Stöckl:

Bezirksrichter Oliver Scheiber

Oliver Scheiber gibt im Gespräch mit Barbara Stöckl Einblick in seinen Alltag als Richter. Der Vorsteher des Wiener Bezirksgerichts Meidling kritisiert in seinem Buch „Mut zum Recht!“, dass die Strafjustiz vor allem die Armen treffe: „Strafgerichte und Anklagebehörden haben eher die kleinen Fälle im Auge, während die Verfolgung der großen Verbrechen schleppend erfolgt“, so der Jurist, der für mehr Empathie im Gerichtssaal plädiert.
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Oliver Scheiber

Buch von Oliver Scheiber
Mut zum Recht!Falter Verlag

Schauspielerin Ursula Strauss

Mit Kriminalität beschäftigt sich auch Ursula Strauss seit Jahren. Die Schauspielerin dreht für die beliebte ORF-Serie „Schnell ermittelt“ bereits die siebente Staffel. Derzeit ist sie am ORF-1-Serienmontag in der neuen Comedyserie „Wischen ist Macht“ als Chefin eines Putztrupps zu sehen. Welche Erfahrungen hat sie persönlich mit Ordnung und Chaos gemacht? Tut Putzen tatsächlich der Seele gut?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Ursula Strauss

Link:


ORF-Serie: Wischen ist Macht
montags, 21.05 Uhr, ORF 1

Künstlermanager Herbert Fechter

Was die innere Ordnung betrifft, hat Herbert Fechter viel von den Shaolin-Mönchen gelernt. Der Künstlermanager feiert als Produzent der Bühnenshow „Die Mönche des Shaolin Kung-Fu“, die ab Mitte Februar wieder durch Österreich tourt, 25-jähriges Jubiläum. Wie hat das Eintauchen in diese Kultur sein eigenes Leben verändert?
ORF/Günther Pichlkostner
"STÖCKL." am 6.2.2020: Herbert Fechter

Link:


Bühnenshow
Die Mönche des Shaolin Kung Fuab 14.2. auf Österreich-Tour

Boxer und „Dancing Star“ Marcos Nader

Marcos Nader ist Österreichs Aushängeschild im Boxen. Der IBF International Champion im Mittelgewicht verteidigte Ende des vergangenen Jahres erfolgreich seinen Titel. Nun wartet eine ganz andere Herausforderung: Ab 6. März nimmt er an der neuen Staffel des ORF-1-Tanzevents „Dancing Stars“ teil.
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Interview mit dem Standard vom 6.2.2020

Richter über Kurz‘ WKStA-Kritik: „Dann kommt der Rechtsstaat ins Rutschen“

Die Kritik des Kanzlers an der Justiz hat Wellen geschlagen. Dass Kurz eine Aussprache will, ist für den Richter Oliver Scheiber ein Tabubruch

 

Marie-Theres Egyed

 

 

Oliver Scheiber sorgt sich um den Rechtsstaat.
Foto: Der Standard/Cremer
Der von Bundeskanzler Sebastian Kurz einberufene – und von Justizministerin Alma Zadić zur „Aussprache“ herabgestufte – runde Tisch über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sorgt für Kritik. Oliver Scheiber, Gerichtsvorsteher am Bezirksgericht Wien-Meidling, empörte sich in den sozialen Medien. Der Richter ist auch als Autor tätig, mit „Mut zum Recht!“ schrieb er ein „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“. Zuvor beschäftigte er sich mit einer Reform der Sozialdemokratie. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt er, warum er das als dramatische Entwicklung sieht und derartige Tendenzen oft Vorboten autoritärer Regierungsstile seien.

STANDARD: Was stört Sie daran, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz einen runden Tisch einberufen hat, bei dem Verfahrensdauer, Vertrauen in die Justiz und Unabhängigkeit und Objektivität diskutiert werden sollen?
Scheiber: Entweder liegt beim Bundeskanzler ein völliges Missverstehen der Gewaltentrennung und Checks and Balances in einem Rechtsstaat vor – diese Naivität und dieses Unwissen würden mir Angst machen. Oder er will Signale an die Staatsanwaltschaft senden, künftig anders vorzugehen. Das wäre ein unzulässiger Übergriff des Kanzlers auf Organe der Gerichtsbarkeit.
STANDARD: Geht es darum, Kontrolle über die Staatsanwaltschaft zu gewinnen?
Scheiber: In der Verfassung sind die Staatsanwaltschaften der Gerichtsbarkeit zugeordnet und haben eine besondere Stellung. Sie besteht keinesfalls in einer Unterordnung zum Kanzler. Es gibt auch eine klare Qualitätskontrolle für Staatsanwaltschaften und Gerichte. Alles, was etwa die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft macht, unterliegt der Aufsicht von Oberstaatsanwaltschaft, Justizministerium und Weisungsrat. Jeder Grundrechtseingriff wie eine Hausdurchsuchung, Festnahme oder Beschlagnahmung bedarf der Bewilligung durch einen Richter und kann gerichtlich bekämpft werden.
STANDARD: Zunächst wollten sich die Staatsanwälte noch bei Kurz beschweren, dass ihre Unabhängigkeit von ihm infrage gestellt wurde. Jetzt bestellt aber er sie zu sich.
Scheiber: Was Kurz bei diesem Hintergrundgespräch gesagt haben soll, hat Richtervereinigung und Staatsanwälte zu Recht irritiert. Da ist es legitim, dass sie das Gespräch suchen. Es kann aber nicht sein, dass ein Kanzler, während aktueller politischer Strafverfahren, mit den Staatsanwälten über ihre Arbeitsweise reden will. Wer das nicht sieht, hat Demokratie und Rechtsstaat nicht verstanden. Das ist eine dramatische Entwicklung.
STANDARD: Inwiefern?
Scheiber: Das ist ein Tabubruch. Wenn sich Institutionen nicht mehr wechselseitig respektieren und nicht auf Augenhöhe begegnen, kommt der Rechtsstaat ins Rutschen. Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit haben abgegrenzte eigene Bereiche, der Kanzler darf nicht in die Gerichtsbarkeit eingreifen.

STANDARD: Woher kommt die plötzliche Skepsis von Kurz gegenüber der Justiz?
Scheiber: Wir sehen in Ungarn, Polen oder bei Trump, dass Angriffe auf Institutionen, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und die Justiz oft Vorboten autoritärer Regierungsstile sind. Unter Türkis-Blau wurde der ORF massiv kritisiert, die Angriffe auf die Justiz sind möglicherweise die Fortsetzung.
STANDARD: Sie appellieren an Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Was kann er tun?
Scheiber: Der Bundespräsident hat in den vergangenen Monaten immer wieder auf die Verfassung hingewiesen. Es ist wichtig, ein stärkeres Verfassungsbewusstsein zu entwickeln und das Funktionieren des Staatswesens verständlich zu machen. Die Regierung darf nicht bei der Justiz intervenieren. Es wäre gut, jetzt auch diese verfassungsrechtlichen Grundsätze in Erinnerung zu rufen. (Marie-Theres Egyed, 6.2.2020)
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Nikolaus Lehner über „Mut zum Recht“ in der Wiener Zeitung

Appell für notwendige Reformen in der Justiz



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Die Neuerscheinung „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist ein Gesamtkunstwerk und ein Manifest zugleich.

Das Plädoyer ist in zehn Thesen strukturiert, die Oliver Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat.
© adobe.stock/everythingpossible





Dieses Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat „Mut zum Recht!“ von Oliver Scheiber ist für mich ein Gesamtkunstwerk und auch ein Manifest, nämlich ein Appell für die endlich durchzuführenden notwendigen Reformen in der Justiz. Der vormalige Kabinettschef einer Justizministerin hat durch diese Position den Überblick beziehungsweise Durchblick über den gesamten Justizapparat, nunmehr ist er Gerichtsvorsteher eines Wiener Bezirksgerichtes und sieht die Probleme der Justiz im Alltag.
Strukturiert ist dieses Plädoyer in zehn Thesen, die Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat. In der ersten These beweist er, dass die Kunst der Justiz wichtige Impulse liefert. Die Kunst spendet Anregungen und liefert oft Kritik. Er beschreibt aus der berühmten Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Anatole France „Crainquebille“, wie sich oft ein kleiner Irrtum eines Justizorgans im Laufe der Jahre zur Tragödie eines Menschen (hier eines französischen Staatsbürgers) ausgeweitet hat.

Vernetzung mit der Kunst


Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester - © Foto: Gregor Schweinester

Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. Er selbst bezeichnet sich auch gern als Flaneur, Provokateur und politischen Beobachter. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt. Gregor Schweinester – © Foto: Gregor Schweinester
Ich möchte nunmehr einen kleinen Beitrag zu diesem aufsehenerregenden Fall in Frankreich liefern und mache auf den österreichischen Autor Otto Hans Ressler mit seiner großartigen Novelle „Die Verleumdung“, erschienen in der Edition Splitter in Wien, aufmerksam, die historische Hintergrundfolie des vergessenen Antisemitismus vor 1914 in der Habsburgermonarchie. Die Hauptfigur, der Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt den rechtsradikalen Reichsratsabgeordneten Gerwald Holomek wegen Rufschädigung und Ehrenbeleidigung. Vieles aus dem beschriebenen Gerichtsverfahren erinnert an die Jetztzeit, weil Ressler Zitate auch von lebenden Politikern verwendet hat.

"Mut zum Recht!" Das "Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat" des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604

„Mut zum Recht!“ Das „Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat“ des langjährigen Richters Oliver Scheiber ist im November im Falter Verlag erschienen. 232 Seiten, EAN: 9783854396604
Scheiber fordert zu Recht, dass die Justiz die Vernetzung mit der Kunst für die Aus- und Fortbildung der Richter stärker nutzen soll.
In der zweiten These wünscht sich der Autor ein Mehr an Gerechtigkeit, indem die leider noch immer vorhandene Klassenjustiz durch eine neue Kultur innerhalb der Justiz eine stärkere Ressourcenverteilung bewirken soll. Leitbild der Justiz müssen der gleiche einfache Zugang zum Recht für alle und das faire Verfahren sein. Im geltenden Zivilverfahren herrscht durch die hohen Gerichtsgebühren ein Ungleichgewicht, im Strafverfahren werden auffallend oft sogenannte „heikle“ Fälle wegen angeblicher Komplexität eingestellt, oder es wird eben bis zur Verjährung ermittelt. Die Justiz muss innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals verständlich, fair und emphatisch agieren. Das bedeutet mit möglichst wenig Formalismen kommunizieren, einen effizienteren Rechtsschutz und die Gelegenheit für jedermann, ausführlich angehört zu werden.
In der dritten These stellt der Verfasser mit Recht fest, wie wichtig Leitfiguren sind. Derzeit fehlen in der österreichischen Justiz solche Persönlichkeiten, die genügend engagiert sind und im System innovativ wirken. Schon bei der Grundausbildung sollte die Kritikfähigkeit und Selbstreflexion gestärkt werden. Mein Beitrag dazu ist der Umstand, dass jeder Richter genügend Kreativität haben muss, um sich (und den Parteien) den Ärger mit dem Sachverständigen(un)wesen zu ersparen. Die Sachverständigen haben mich oft an reine „Lohnschreibereien“ erinnert, wobei ich nicht unbedingt mangelnde Ethik behaupten möchte, jedenfalls aber mangelnde Qualität und die jeweilige Abhängigkeit vom Auftraggeber – klassischer Fall sind die von den Staatsanwälten bestellten Sachverständigen.
Imponierend ist der Gedanke von Scheiber im Familien-, Jugendstraf- und Erwachsenenschutzrecht runde Tische einzuführen, um eine gemeinsame Lösungssuche aller Beteiligten zu ermöglichen.
In der vierten These behandelt Scheiber die großen Probleme im Zusammenhang mit dem Faschismus und schildert den Fall Gross. Zu meiner Verwunderung als damaliger Verteidiger des Heinrich Gross weist Scheiber nach, dass erst eine Weisung des damaligen Justizministers notwendig war, aufgrund des erdrückenden Beweismaterials Gross anzuklagen. Die Republik hätte schon längst Gross anklagen müssen, und das erkennende Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, ein Beweisverfahren durchzuführen. Tatsächlich war es so, dass ganz im Gegenteil Heinrich Gross jahrzehntelang der Hauptsachverständige der Justiz im Landesgericht für Strafsachen Wien war.

Mängel im Strafrecht

Die These fünf ist ein Narrativ betreffend die Mängel im Strafrecht bezüglich der aktuellen gesetzlichen Bestimmungen. Maßnahmen für eine Reform sind folgende:
Befreiung des Rechtsmittelverfahrens vom Formalismus der Nichtigkeitsgründe; obligatorische anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren, also nicht nur wie bisher in der Untersuchungshaft, sondern auch in der Strafhaft.
Gerade im Verfahren bei der bedingten Entlassung habe ich selbst noch festgestellt, wie oft nicht genügend qualifizierte Sprengel- und Rechtshilferichter den Antrag eines Delinquenten in wenigen Minuten abgeschmettert haben, weil er ohne Anwalt und nach jahrelanger Verbüßung einer Strafe geschwächt und im Hinblick auf die Autorität dieses Richters sprach- und machtlos war. Unter dem Vorwurf der Nicht-Qualifikation erblicke ich die nicht genügend geschärfte Empathie und die totale Überlastung vieler Richter in zahlreichen Gerichten Österreichs. Scheiber fordert die Vernetzung der Gerichte mit den Sozialarbeitern und den Forschungseinrichtungen, und es sollte endlich ein forensischer Lehrstuhl eingerichtet werden.
Für mich nicht überzeugend ist Scheibers Forderung nach der Schaffung dreier statt wie bisher zweier Instanzen, weil durch die bisher unrichtige Einschätzung der Bedeutung der Justiz nicht einmal genügend Mittel für die korrekte Gestaltung zweier Instanzen zur Verfügung stehen.
In der These sechs behauptet Scheiber, dass Europa unser Rechtssystem verbessert. Mir fehlt allerdings ein europäischer Kanon in der Justiz. Seine Forderung, die Justiz sollte in Brüssel verstärkt eigene Gesetzesinitiativen einbringen und so den europäischen Rechtsraum stärker mitbestimmen, finde ich realitätsfremd, weil Österreich allein ohne die vorherige Absprache mit größeren und mächtigeren Staaten nichts bewegen kann.
In der siebenten These beschäftigt sich Scheiber mit der Sprache und Kommunikation der Justiz, also dem Zugang zum Recht. Das Setting ist generell zu modernisieren.
Leider wird der juristische Nachwuchs an den Universitäten zur Unverständlichkeit erzogen. Endlich muss als Kernkompetenz der Rechtsberufe die Fähigkeit, juristische Sachverhalte allgemein verständlich auszudrücken und sich einer einfachen Sprache zu bedienen, erkannt werden. Die Justiz müsste eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit an den Tag legen und Public-Relation-Profis einbinden. Dazu gehören eine mehrsprachige Internetseite und der Ausbau der Servicestellen, ebenso eine Zusammenarbeit der Justiz mit der Sprach- und Kommunikationswissenschaft.
In der achten These fordert Scheiber eine nicht nur räumliche Trennung von Staatsanwaltschaften und Gerichten, also keine Unterbringung im selben Gebäude, sondern auch keine öffentliche Vertrautheit von Richtern und Staatsanwälten.
Scheiber postuliert zu Recht, dass Staatsanwaltschaften über Anträge der Polizei oder Gerichte über Anträge der Staatsanwaltschaften – wie oft nicht üblich – über telefonische Ansuchen möglich sein sollen. Aufgrund der modernen Technik entsteht auf diese Art und Weise keine Zeitverzögerung durch eine schriftliche Erledigung.
Einen großen Fortschritt stellt die audiovisuelle Aufzeichnung aller Einvernahmen und Verhandlungen dar. Für alle Asyl- und Strafverfahren fordert er eine obligatorische unabhängige Rechtsvertretung.
In der neunten These ist das Narrativ eine politische Justiz, gemeint wohl gesellschaftspolitisch und nicht parteipolitisch oder gar ideologisch determiniert. Allerdings ist durch das Weisungsrecht des Justizministers die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet. Trotz der Einführung des sogenannten Weisenrates, übrigens ein Fremdkörper in unserem System, sowie der nunmehr notwendigen Schriftlichkeit der Begründung der Weisung, bleibt weiterhin die mögliche Gefahr eines vorauseilenden Gehorsams bestehen. Ich, Lehner, fordere die Abschaffung der Dienstbesprechungen.

Richter als Spiegel

In der zehnten These ist der Kanon, dass die Justiz ihre Unternehmungs- und Kommunikationskultur stark verdichten muss, da durch die Digitalisierung und Globalisierung alles in Bewegung ist. Scheibers Vorschlag, dass die Richter ein Spiegelbild der Zusammensetzung der Bevölkerung darstellen sollen, gefällt mir sehr.
Der derzeitige Justizminister, Clemens Jabloner, stellte den stillen Tod der Justiz in den Raum. Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Friedrich Forsthuber, ruft zur Rettung des Rechtsstaates auf. Der engagierte Staatsanwalt Bernd Ziska meint, “ der Patient Justiz liegt im Wachkoma“, und ich erblicke „high noon“.
Die Legisten des Justizministeriums sollen sich Oliver Scheiber als Vorbild nehmen, der Text seines Werkes ist für jedermann verständlich und nicht dadaistisch. Mögen seine Vorschläge so rasch wie möglich umgesetzt werden.

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