Ein Weihnachtsgeschenk im Namen der Republik

Der Verfassungsgerichtshof hat diese Woche mit einer Entscheidung dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten.
Wilfried Embacher und Oliver Scheiber  (DIE PRESSE Printausgabe 20.12.2018)
Der Verfassungsgerichtshof spricht seine Urteile im Namen der Republik. Und so hat er mit seiner Entscheidung vom 17. Dezember E 3717/2018, für die Republik ausgesprochen, wie Behörden in einem rechtsstaatlichen Verfahren Tatsachen festzustellen haben. Konkret hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass das Landesverwaltungsgericht Wien mit einem Erkenntnis einen Wiener in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt hatte.


Der betroffene Wiener ist in der Türkei geboren. Vor 40 Jahren ließ er sich in Österreich nieder. 1996 legte er die türkische Staatsangehörigkeit zurück und besitzt nun seit 22 Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Im Dezember 2017 stellte die Wiener Landesregierung – gestützt auf eine angebliche türkische „Wählerevidenzliste“ – fest, dass der Mann die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen und dadurch die österreichische Staatsbürgerschaft verloren habe; diese Annahme gründet sich allein auf die angebliche Wählerevidenzliste.
Kein taugliches Beweismittel

Das Wiener Landesverwaltungsgericht bestätigte diesen Bescheid der Wiener Landesregierung. Der Verfassungsgerichtshof dagegen kam zum Ergebnis, dass diese „Wählerevidenzliste“ ein fraglicher, nicht authentischer und hinsichtlich seines Ursprunges und des Zeitpunktes seiner Entstehung nicht zuordenbarer Datensatz sei, der kein taugliches Beweismittel für die Feststellung der Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit darstellt.
Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts bedeutet für Tausende Menschen das Ende einer existenzbedrohenden Verunsicherung. Tausende Österreicherinnen und Österreicher mussten befürchten, staatenlos zu werden, neue Aufenthaltstitel und Beschäftigungsbewilligungen zu benötigen und schlimmstenfalls sogar das Land verlassen zu müssen, in dem viele seit ihrer Geburt leben.
Der Verfassungsgerichtshof stellte das bis vor Kurzem Selbstverständliche fest: Man kann eben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft verlieren, nur weil man auf einer Liste steht, die von einer politischen Partei als Wählerevidenzliste bezeichnet wird, deren Herkunft und Richtigkeit aber ungeklärt sind. Auf dieser Grundlage kann keine rechtsstaatlich verbindliche Entscheidung zum Nachteil der Betroffenen getroffen werden. Diese Menschen bleiben also im Namen der Republik deren Bürgerinnen und Bürger.
Der Verfassungsgerichtshof kommt zum einzigen in einem demokratischen Rechtsstaat vertretbaren Ergebnis. Die politische Vorgeschichte zeigt aber, wie schnell wesentliche Einrichtungen der Republik ins Wanken geraten: Im Mai 2017 veröffentlicht die damalige Oppositionspartei FPÖ unter medialem Getöse eine türkische Wählerevidenzliste, auf der sich ihrer Meinung nach österreichische Staatsbürger befanden. Sie forderte die zuständigen Behörden auf, festzustellen, dass diese Menschen durch die Wiederannahme der türkischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hätten.
Die Behörden reagierten zunächst zurückhaltend, veranlassten eine Klärung der türkischen Rechtslage und versuchten, durch technische Überprüfungen die Herkunft der Liste oder Manipulationen daran aufzuklären. Die FPÖ gab an, dass ihr die Liste anonym zugespielt worden sei und sie daher zur Klärung der Herkunft dieser Liste nichts beitragen könne.
Mittlerweile wurde aus der Oppositions- eine Regierungspartei. Medien berichteten immer wieder über den Verdacht illegaler Doppelstaatsbürgerschaften. Weder die Behörden noch gewählte Volksvertreter setzten sich nachdrücklich für 100.000 betroffene Österreicherinnen und Österreicher ein, denen auf einmal der Verlust der Existenzgrundlage drohte.
Niemals bei Rot über die Straße

In dieser Gemengelage erließen Behörden in verschiedenen Bundesländern die ersten Bescheide, mit denen der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festgestellt wurde. Die überraschende Begründung: Die Vermutung, dass die Wählerevidenzliste nur Namen in Österreich lebender türkischer Staatsbürger enthält, konnte nicht widerlegt werden.
Das bedeutet: Die Behörden vertraten die Ansicht, die Bürger müssten beweisen, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Das wäre so, als ob man aufgefordert würde zu belegen, dass man niemals in seinem Leben die Straße bei Rot überquert hat. Menschen, die in Österreich geboren waren, sollten auf einmal den Beweis antreten, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft hatten. Umso überraschender war es, dass Verwaltungsgerichte in verschiedenen Bundesländern die Beweiswürdigung der Behörden für schlüssig hielten und vom Verwaltungsgerichtshof bestätigt wurden.
Kommt bald nächste Hetzjagd?

So blieb es wieder einmal dem Verfassungsgerichtshof vorbehalten, den Rechtsstaat und seine wichtigsten Grundsätze zu schützen. Er stellte sich vor jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auf einmal einer politischen und medialen Hetzjagd ausgesetzt waren, für die sich Behörden einspannen ließen. Der Verfassungsgerichtshof findet in seiner Entscheidung und der sie begleitenden Presseaussendung deutliche Worte für die Mangelhaftigkeit des Verfahrens: Das Höchstgericht führt damit aber auch vor Augen, wie binnen weniger Monate Fundamente des Rechtsstaats unter Beteiligung von Medien, Behörden und Gerichten ins Wanken geraten sind.
Rund 100.000 Österreicherinnen und Österreicher waren auf einmal einer existenzbedrohenden Handlungsweise der Behörden ausgesetzt. Gerade jene politischen Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, eine Law-and-Order-Haltung zu vertreten, pflegen einen so fahrlässigen Umgang mit grundlegenden Werten der Rechtsordnung, dass das Auftauchen neuer Listen mit Namen für die nächste Hetzjagd vorhersehbar ist.
Mit seiner Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten. So kann man der Republik fröhliche Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschen, als Geschenk liegt diesmal die Bewahrung des Rechtsstaates unter dem Christbaum. Man muss an das Land und seine Bürgerinnen und Bürger aber auch appellieren, langsam aufzuwachen. Auf Dauer können 14 Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs den Rechtsstaat nicht allein zusammenhalten.

DIE AUTOREN


Mag. Wilfried Embacher (geboren 1965 in Klagenfurt) hat in Graz und Wien Rechtswissenschaften studiert. Seit 1998 in Wien als Rechtsanwalt eingetragen, seit 2005 Mitglied des Menschenrechtsbeirats, seit 2010 Partner bei Embacher Neugschwendtner. Spezialisiert auf Fremden- und Asylrecht sowie auf Verfassungsrecht und Grundrechte. [ Fabry ]
Dr. Oliver Scheiber (geboren 1968 in Wien) wurde 1995 zum Richter ernannt und ist seit 2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Wien Meidling. Er ist Lehrbeauftragter an der Uni Wien, Mitglied der Österr. Juristenkommission und Vorstandsmitglied des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie. Im Text gibt er seine persönliche Meinung wieder. [ Fabry ]

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Umbruch im Rechtsstaat

Beitrag zum Sammelband „Zu Ende gedacht – Österreich nach Türkis-Blau“ hrsg von Nikolaus Dimmel und Tom Schmid (2018); Bestellungen unter: https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=875&action=cover

Umbruch im Rechtsstaat
Rechtspopulistische
und Rechtsaußen-Parteien identifizieren klassischerweise zwei große
Außenfeinde: Medien und Gerichtsbarkeit. Aktuell beobachten wir dies in den
USA, in der Türkei, in Polen und Ungarn. Medien und Justiz bilden das Korrektiv
zur Präsentation falscher Daten und Zusammenhänge, mit denen alle
Rechtspopulisten arbeiten. Es überrascht daher nicht, dass die Neuauflage von
Schwarz-Blau unmittelbar nach Amtsantritt den Anchorman der wichtigsten
Nachrichtensendung des Landes, Armin Wolf, attackierte. Wolf zählt zu den
führenden Journalisten des deutschsprachigen Raums und ist vielfach
ausgezeichnet. Er ist damit das Gesicht des freien Qualitätsjournalismus im
Land. Im nächsten Schritt ist, nachdem bereits erste Gerichtsentscheidungen
zugunsten Wolfs ausgefallen sind, mit Kritik der Regierung an der Justiz zu
rechnen. Nicht anders war es unter Schwarz-Blau I. Der politisch unliebsame
Jugendgerichtshof wurde aufgelöst, die FPÖ führte Kampagnen gegen einzelne
Richter, die für FPÖ-Causen zuständig waren. Jörg Haider verhöhnte den
Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes. Rechtspopulisten und extreme Rechte
greifen nach dem staatlichen Sicherheitsapparat, sie schwächen und
delegitimieren dagegen andere staatliche Institutionen. Spott gegenüber Justiz
und Parlament gehören zum Einmaleins der extremen Rechten. Als „multikriminelle
Gesellschaft“ sieht etwa der Linzer Professor Andreas Hauer Europa, und an
ihrer Entstehung trage der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Mitverantwortung. Die schwarz-blaue Regierung hat als ihre markanteste
justizpolitische Aktion Hauer zum Richter des Verfassungsgerichtshofs nominiert
und damit eine rote Linie überschritten: sie bringt jemanden ans höchste
Gericht, der den Grundkonsens des Nachkriegseuropa, die Absage an Nationalismus
und Hass, nicht mitträgt. Die Nominierung legitimiert Hauers Aussage, die
gleich mehrere Botschaften mittransportiert: sie stellt die Assoziation von
mulitikulturell und kriminell her, unterstellt somit anderen Kulturen generell
Kriminalität. Zugleich wird die Ablehnung supranationaler Gerichte und eine
Absage an Europa mitkommuniziert; eine Haltung, die alle Nationalisten Europas
verbindet. Es spiegelt wohl die Angst vor der neuen Regierung wieder, dass mit
Heinz Mayer ein einziges (emeritiertes) Mitglied der heimischen Rechtswissenschaft
die Stimme gegen diese Personalie erhoben hat. Die Nominierung der Höchstrichter
ist bedeutend; bleiben diese doch bis zum 70. Lebensjahr im Amt. Regierungen
treffen damit weit über ihre eigene Amtszeit hinaus gesellschaftspolitische
Weichenstellungen. Die Umbenennung des Justizministeriums in ein Ministerium
für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz ist unschwer als auch
nominelles Zurückstutzen der Justiz zu lesen. Aber mit welcher Justiz hat es die
Regierung zu tun?

Oscar Bronner,
einer der wichtigsten Journalisten im Nachkriegsösterreich und Gründer des
Nachrichtenmagazins profil und der
Tageszeitung Der Standard, hat in den
1960er-Jahren die personelle Kontinuität der Richterkarrieren nach dem Nazi-Regime
thematisiert und sich einen Schlagabtausch mit Christian Broda geliefert.
Broda, selbst NS-Opfer und auf Grund der von ihm inspirierten Reformen des
Rechtssystems bis heute wichtigster Justizminister der Zweiten Republik, war
nicht bereit, NS-belastete Richter ähnlich wie in Deutschland mittels
Pensionierungen aus dem Dienst zu entfernen. Bis in die 1990er-Jahre sprachen NS-affine
Richter Recht. Danach fand eine merkliche Öffnung der heimischen Justiz statt,
die vor allem durch den EU-Beitritt angetrieben war. Austauschprogramme für
Richterinnen und Richter quer durch die EU haben zu einem offenen, liberalen
Klima beigetragen. Österreichs Richterschaft heute entspricht wohl am ehesten
einem liberal-konservativen Milieu; die Sympathisanten des Rechtspopulismus
sind eine Minderheit, rechtextreme Positionen werden breit abgelehnt. Österreichs
Richterinnen und Richter sind bei ihrer ersten Ernennung sehr jung, im Allgemeinen
führt die Biographie über Schule und Studium direkt ins Richteramt.
Recht als Privileg der Wohlhabenden

Die neue
Regierung wird Tendenzen zu einer Klassenjustiz stärken. Schon jetzt gehören
Österreichs Gerichtsgebühren zu den höchsten Europas und erschweren den Zugang
zum Recht. Der wöchentliche Amtstag der Bezirksgerichte, an dem jede/jeder
kostenlos Rechtsauskunft bei Gericht erhält und auch Anträge direkt beim
Richter/bei der Richterin zu Protokoll geben kann, ist ein österreichisches Spezifikum
und ein wichtiges Element einer bürgernahen Justiz. Man wird besonders darauf
achten müssen, dass der Amtstag nicht unter dem Scheinargument des Sparzwangs
abgeschafft wird. Denn die Verfahrenshilfe wirkt nur für Personen mit einem Einkommen
bis zu 1.000,- EUR. Für eine breite Schicht von Arbeitern und Angestellten sind
Gerichtsverfahren dagegen unerschwinglich geworden.
Kanzler und
einzelne Regierungsmitglieder lassen erkennen, dass wissenschaftliche Daten und
Erkenntnisse für die Justizpolitik künftig wenig Rolle spielen werden. Die schwarz-blaue
Regierung wird gewisse Trends, die schon länger Schwachpunkte eines an sich
guten Justizsystems waren, verstärken: so wird das
Verbandsverantwortlichkeitsgesetz kaum angewandt, was Unternehmen zu Gute kommt
und kleine Mitarbeiter beschädigt. Die Verbandsverantwortlichkeit sieht die
Möglichkeit vor, nicht nur Personen, sondern auch Firmen strafrechtlich zu
belangen. Anklagen wegen Fahrlässigkeit etwa nach Arbeitsunfällen ergehen aber
nach wie vor gegen Arbeiter der unteren Ebene, während die Unternehmen
strafrechtlich ungeschoren bleiben und damit auch bei gehäuften Fehlleistungen
ihre Gewerbeberechtigung behalten.
Obwohl die
Kriminalität in Österreich seit Jahrzehnten massiv rückläufig ist, zeichnet die
Regierung ein Bild der Unsicherheit und Gefahr. Die Justiz ihrerseits setzt
viel an Ressourcen für Kleinkriminalität wie Ladendiebstähle ein, während
Umweltkriminalität kaum und Korruption zu wenig entschieden verfolgt werden. Eine
forcierte Korruptionsbekämpfung ist von einer Regierung, die erklärtermaßen
Anliegen der Wirtschaft und Industrie vertritt, nicht zu erwarten. Zweckmäßiger
als 2000 neue Polizisten wäre freilich eine Aufrüstung der ExpertInnen der
Korruptions- und Umwelteinheiten.

Gesellschaft und
Justiz gehen, nicht nur in Österreich, mit Minderheiten oft harsch um. Ausländische
Staatsbürger werden härter angefasst, schneller in Untersuchungshaft genommen,
strenger bestraft, seltener vorzeitig entlassen. Negative Trends werden sich
unter Schwarz-Blau verstärken. Die Standards der Asylverfahren liegen schon
deutlich unter dem Niveau des sonst in Österreich Üblichen und von der
Menschenrechtskonvention Geforderten; deshalb wird ein extrem hoher Anteil
erstinstanzlicher Entscheidungen aufgehoben. Im von der Regierung verbreiteten
Klima, das Zuwanderung und Migration permanent als problematisch thematisiert,
werden sich diese Fehlentwicklungen verstärken. Dies gilt auch für die
Stigmatisierung von Suchtmittelabhängigen, die traditionell selektiv verfolgt
werden. Polizeiliche Ermittlungen werden sich noch stärker auf die sozial
schwächste Gruppe drogenkranker Menschen konzentrieren, nämlich Wohnungslose
und Schwerkranke, die in U-Bahn-Stationen und bei Bahnhöfen Drogen kaufen. Drogenkranke,
die besseren Schichten angehören und in Clubs oder Wohnungen Kokain
konsumieren, bleiben weitgehend unbehelligt. Der massive Ressourceneinsatz im
Bereich der Ladendiebstähle und des bloßen Drogenkonsums steht im krassen
Missverhältnis etwa zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; die
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, bundesweit zuständig für die
schwersten Wirtschaftsverbrechen, nimmt kaum einmal Verdächtige in
Untersuchungshaft. Das wichtige Mittel gegen Wirtschaftskriminalität, die
rasche Beschlagnahme und Sicherstellung krimineller Gelder, funktioniert in der
Praxis nicht im nötigen Ausmaß.

Die mangelnde
Sensibilität der schwarz-blauen Regierung für Kranke hat sich bereits in der
Diskussion um das Erwachsenenschutzgesetz (Sachwalterschaftsrecht) gezeigt; die
Ambitionen im Strafvollzugs- und Massnahmensektor und der damit verbundenen
psychiatrischen Versorgung werden ähnlich gering sein. Reformen der letzten
Legislaturperiode zeigen, wie mit einfachen Mitteln viel erreicht werden kann:
die Umsiedlung der Haftanstalt Korneuburg in eine architektonisch moderne
Struktur (mehr Glas, breitere Gänge, mehr Raum) haben zu einem Rückgang von zwei
Drittel der von Häftlingen konsumierten Psychopharmaka geführt. Mit der
Einführung von Gesprächsforen für jugendliche Straftäter, an denen Eltern,
Lehrer, Polizei, Jugendamt, Staatsanwaltschaft und Gericht teilnehmen, konnte
die Zahl jugendlicher Untersuchungshäftlinge massiv reduziert, in Wien eine
Zeit lang auf Null gebracht werden. Unter der schwarz-blauen Regierung droht nun
eine weitere Stärkung der Justizwache, also gleichsam eine Militarisierung des
Strafvollzugs zulasten der Planstellen für medizinisches Personal, für
Sozialarbeiter und Psychologen.
Politisch denken, Klassenjustiz verhindern

Recht ist ein
großartiges Gestaltungsmittel. Kreativ eingesetzt ist es ein Instrument des
empowerment. Diese Möglichkeiten gilt es Studierenden der Rechtswissenschaft künftig
näherzubringen. Darüber hinaus ist die Fähigkeit zum politischen Denken zu
fördern. Gerade die Justiz benötigt diese Kompetenz, die nichts mit einer
parteipolitischen Durchdringung zu tun hat, um die Bedeutung ihrer Handlungen
einschätzen zu können. Ein unpolitischer Zugang, der ja immer Haltungslosigkeit
einschließt, wird bei der Justiz zur Gefahr für das Staatswesen.

Die Justiz ist
immer und derzeit besonders gefordert, den Rechtsstaat zu verteidigen und zu
garantieren. Wie weit Österreich auf diesem Weg ist, ist schwer einschätzbar:
der so genannte Fall Aula aus 2015 – die Staatsanwaltschaft Graz hatte aus der
Zeitschrift Aula rechtsextreme Thesen zur Kriminalität von KZ-Insassen
unkritisch übernommen – hat einen Rückschlag bedeutet. Auf der anderen Seite
sehen wir heute eine Justiz, die geflüchteten JuristInnen aus aller Welt
Praktika anbietet und sich um ihre Eingliederung in den österreichischen
Arbeitsmarkt bemüht; junge Richterinnen und Richter arbeiten oft in der
Flüchtlingshilfe oder nehmen Asylwerber bei sich zu Hause auf. Seit zehn Jahren
besuchen künftige Richterinnen und Richter zeitgeschichtliche
Ausbildungsmodule, sie beschäftigen sich mit der NS-Zeit und ihrer
Aufarbeitung, mit vergangenen und aktuellen autoritären Regimen und diskutieren
Strategien, wie die Justiz den Rechtsstaat sicherstellen kann. Die Lage ist
insgesamt genau so widersprüchlich und unübersichtlich, wie sich das für unsere
österreichische, europäische und westliche Gesellschaft insgesamt sagen lässt.

Machtwille und
autoritäre Affinität der schwarz-blauen Regierung sind nicht zu unterschätzen.
Mehrere Protagonisten und viele ihrer Mitarbeiter sind in Burschenschaften
organisiert, die ein undemokratisches System im Kleinen repräsentieren. Die
Aufnahmeverfahren der Burschenschaften sind ein Demütigungsritual, in dem die
neuen Mitglieder gebrochen werden. In Verbindung mit deutschnationalem
Gedankengut ist das die denkbar schlechteste Vorbereitung auf
Verantwortungsübernahme im Rechtsstaat.

Wie damit
umgehen? Die Ursachen für die Irrationalität und die Verwerfungen des
politischen Lebens in Österreich, aber auch global, liegen primär in der aus
den Fugen geratenen Vermögens- und Einkommensverteilung. In Verbindung mit
unzureichender politischer und geschichtlicher Bildung und den Eigenheiten der
social media erleichtert das das Schüren von Neid und Hass; dies kommt dem
sündenbockgetragenen und auf Verschwörungstheorien aufbauenden Rechtspopulismus
entgegen. Diese tieferliegenden Ursachen, die zur Bildung der schwarz-blauen
Regierung geführt haben, lassen sich für die österreichische Opposition und die
Zivilgesellschaft kurzfristig nicht beheben. Es geht im Moment darum, unsere
demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen vor dauerhaften Schäden zu
bewahren. Denn der Regierungseintritt der FPÖ bedeutet keine politische Normalität.
Umfärbungen in Ministerien und staatsnahen Betrieben hat es immer gegeben. Die
Besonderheit des Regierungseintritts der extremen Rechten liegt im Bruch mit
dem europäischen Grundkonsens des „Nie wieder“, auf dem die europäische
Einigung und die europäischen Staaten nach 1945 aufbauen. Um dieses
gesellschaftliche Fundament der Solidarität, des Friedens, der Freiheit und
Antifaschismus gilt es kurzfristig zu kämpfen. Die US-amerikanische Justiz liefert
uns dabei das beste Vorbild. Den autoritären und von Gewaltentrennung wenig
gerührten Bestrebungen von Präsident Trump hat die amerikanische Justiz gleich
in den ersten Wochen von Trumps Amtsperiode einiges entgegengesetzt. In der
Frage der Einwanderungsdekrete hat die Justiz ihre Unabhängigkeit bewiesen;
Urteile auch von kleinen Gerichten der ersten Instanz wurden sehr schnell (oft
binnen weniger Tage) und mit langen, rechtlich exzellenten Begründungen
schriftlich ausgefertigt. Das System der checks
and balances
der staatlichen Macht hat funktioniert. Österreich, wo
Verfassungsbewusstsein und Zivilcourage des öffentlichen Dienstes weniger
ausgeprägt sind und wo vorauseilender Gehorsam verbreitet ist, ist hier
gefordert. Und dennoch darf man optimistisch sein, dass nach 70 Jahren
Demokratie die entscheidenden Player, zu denen die Justiz und die Rechtsberufe
gehören, in ihrem Grundrechtsbewusstsein so gefestigt sind, dass sie einem
breiteren Angriff auf den Rechtsstaat entschlossen Widerstand leisten werden. Das
wird große Konzentration und das Engagement sehr vieler erfordern, wenn die
Regierung weiterhin mit vielen verbalen, inhaltlichen und personellen
Einzelmaßnahmen ein Klima schafft, das der Schaffung autoritärer Strukturen und
Verhältnisse wie in Ungarn oder Polen entgegenkommt.  

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Gerichtsvorsteher
in Wien. Er ist Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Rechts- und
Kriminalsoziologie und Lehrender an der Universität Wien. Er gibt hier seine
persönliche Ansicht wieder.
Bibliographie:
Alain Badiou,
Wider den globalen Kapitalismus, Ullstein (2016).
Oscar Bronner,
Die Richter sind unter uns. Schriften zur Zeit – Forum Sonderheft 1 (1965).
Anatole France,
Crainquebille, Hans Carl Verlag (1951).
Simon Kravagna,
Schwarze Dealer – weiße Behörden. Selektive Strafverfolgung von schwarzen
Dealern in Wien. Dissertation an der Universität Wien (2005).
Walter
Pilgermair, Wandel in der Justiz, Verlag Österreich (2013).
Henry David
Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Diogenes (2010).
Maurizio Torchio,
Das angehaltene Leben, Zsolnay (2017).

Werner Vogt, Die
Wahrheit hinter 16 Lügen, Die Presse online 17.5.2013, https://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1403710/Die-Wahrheit-hinter-16-Luegen
(Stand 24.3.2018).
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Wer denkt da schon an Schikane?

Über die Kreativität der steirischen Behörden, dem Künstler Josef Schützenhöfer über Jahre das Leben schwer zu machen. Ein Lagebericht aus Pöllau in der Steiermark.
Text für DIE PRESSE vom 1.9.2018 (Papierausgabe)
Stellen
Sie sich vor, Sie haben einen PKW, den auch Ihre Frau benutzt. Ihre Frau
fährt mit dem PKW einkaufen, verstößt dabei gegen die Straßenverkehrsordnung
und erhält eine Verwaltungsstrafe. Aber auch Sie erhalten eine
Verwaltungsstrafe – die Behörde bezeichnet Sie als Beitragstäter, da Sie Ihrer
Frau den PKW überlassen hätten, vorsätzlich, zur Begehung einer
Verwaltungsstraftat. Kann nicht sein? Dem Maler Josef Schützenhöfer ist genau
so etwas widerfahren.
Aber der
Reihe nach: Vor etwa vier Jahren habe ich Josef Schützenhöfer angeschrieben.
Ich hatte von seinen Recherchen und künstlerischen Arbeiten zur Befreiung der
Steiermark 1945 gelesen und habe angefragt, ob Schützenhöfer diese Arbeiten
nicht in Wien zeigen wolle. Der Künstler hat mir rasch geantwortet und lud mich
ein, in sein steirisches Atelier zu kommen. Dort traf ich bald darauf einen
feinen, geistreichen und liebenswerten Menschen an. Ich bin in Sachen Josef
Schützenhöfer also wohl befangen. Und gleichzeitig verpflichtet, ihm gegen
Bösartigkeiten beizustehen.
Josef
Schützenhöfer ist ein direkter Mensch. Er verfügt über Hausverstand,
Gerechtigkeitsgefühl und Empathie, man kann daher mit ihm nicht machen, was man
will. Sein scharfer Intellekt ist mit der Gabe der Ironie verbunden, damit kann
nicht jeder umgehen. Aufgewachsen in der Gegend des steirischen Pöllau, kam
Josef Schützenhöfer als junger Mann zum Studium nach Wien und beobachtete, wie
ein Polizist einen Obdachlosen mit den Füßen trat. Schützenhöfer mischte sich
ein und wurde verhaftet. Nach einigen Wochen in Haft stand für ihn fest: in
diesem Land will ich nicht bleiben. Der noch Jugendliche fuhr mit seinen
Ersparnissen in die USA, trat in die Navy ein und absolvierte ein Kunststudium.
Erst rund 20 Jahre später fasste er mit seiner Frau Janice den Entschluss, nach
Österreich zurückzukehren.
Der
Bürgermeister von Pöllau, einer Barockidylle im steirischen Alpenvorland, bot
Schützenhöfer 1997 zu einer geringen Miete ein kleines Atelier im Schloss an.
Schützenhöfer willigte ein und kehrte also in seine Heimat zurück. Weil er
keine faulen Kompromisse macht, gab er es bald auf, sich dem heimischen
Kunstbetrieb zu unterwerfen – wer Einblick in diesen Sektor hat wird
Schützenhöfer verstehen. Wiewohl also einer der interessantesten
österreichischen Künstler der Gegenwart führte Schützenhöfer fortan ein wirtschaftlich
bescheidenes Leben in Pöllau. Mit der dortigen Gastfreundschaft war es bald
vorbei, denn Schützenhöfer, geprägt von seiner Zeit in den USA, recherchierte
zur Befreiung Österreichs 1945. Er rekonstruierte die Schicksale alliierter
Soldaten, die Österreich befreit hatten. Er sprach mit Bauern, die den Abschuss
von Flugzeugen 1945 erlebt hatten, fand Teile der alten Flugzeugwracks,
dokumentierte alles und nahm Kontakt mit noch lebenden US-Veteranen auf. Mit Unterstützung
der Landesregierung konnte er einige von ihnen nach Österreich einladen und zur
Aussöhnung der früheren Kriegsgegner beitragen.
Schützenhöfer
schuf das Liberation Art Project, ein weit beachtetes Projekt zum Gedenken an
die Befreiung 1945. Im Mittelpunkt des Projekts steht eine Skulptur, die an
mehreren Standorten in Pöllau und der Steiermark aufgestellt und immer auf`s
Neue demoliert wurde. Die Polizei konnte nie Täter ausforschen, sie war mit
anderem beschäftigt, dazu kommen wir noch.
Wäre Schützenhöfer
nicht so lange in den USA gewesen, hätte er wissen müssen, dass das mit den
Recherchen zum Jahr 1945 und dem Gedenkprojekt nicht gutgehen kann. Denn in der
Oststeiermark spielt der Kameradschaftsbund bzw dessen Gedankengut eine
gewichtige Rolle. Die NS-Vergangenheit wollen dort viele nicht aufarbeiten,
sondern ruhen lassen, und was Graz oder Wien denken, spielt da wenig Rolle. Die
lokalen Institutionen hatten rasch beschlossen, Schützenhöfer das Leben schwer
zu machen. Schützenhöfer sollte die ganze Abgefeimtheit lokaler
Behördendienststellen kennenlernen. Dummerweise ist Schützenhöfer ein überaus
regeltreuer und verlässlicher Mensch, der jahrelang in der US-Navy Dienst
versah. So verblieb den Behörden vor allem das Instrument der Straßenverkehrsordnung,
um dem Künstler den Alltag zu verleiden. Fuhr Schützenhöfer also mit dem
Fahrrad im menschenleeren Dorf in der falschen Richtung um die Mariensäule
herum, hatte er schon ein Strafmandat, und es gibt wohl wenige Menschen in
Österreich, die im eigenen Dorf so oft einer Verkehrskontrolle unterzogen
wurden. Wenn man zehn Mal ein Auto umrundet, findet man meistens irgendeinen
Grund zur Beanstandung, und für den Künstler Schützenhöfer waren die vielen
Strafmandate nicht nur ärgerlich, sondern wirtschaftlich existenzbedrohend. Während
Schützenhöfers Liberation Art Project von 200 anderen Künstlerinnen und
Künstlern, darunter Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und Schriftsteller
Daniel Kehlmann unterstützt wurde, während der Künstler in Wien eine Werkschau zeigte
und Vorträge hielt, während der damalige Justizminister und Vizekanzler
Brandstetter Schützenhöfers Bild zum Gedenken an die in Parndorf erstickten
Flüchtlinge im Wiener Justizpalast aufstellen ließ, verleideten die lokalen
Behörden dem Künstler weiter den Alltag. Auf die Idee, sein Werk etwa zur
Ankurbelung des Tourismus zu nutzen, kamen sie nicht. Im nicht all zu weit
entfernten Bad Tatzmannsdorf etwa erkannte man Schützenhöfers Kunst, seine
Werke prägen das Anwesen des Hotels Reiters Supreme.
Im Jahr
2015 eskalierte die Situation, als das GrazMuseum Schützenhöfers 
Ausstellung „Liberation
Continued“
 zeigte.
Der Aufruf zur Gedenkkultur war offenbar Anlass dafür, dass Schützenhöfers Auto
und Haus mit Hakenkreuzen und Parolen beschmiert
wurden. Die Täter wurden, so wie bei den Beschädigungen der Skulptur, nie
ausgeforscht, denn wie Täter wurden bei den Befragungen nur Schützenhöfer und
seine Frau behandelt.
All dies zermürbte Josef Schützenhöfer. Den Winter
2017/18 verbrachte er erstmals in Italien, wo er einen Zyklus von Aquarellen
herstellte, der bald in Wien zu sehen sein wird. Sehr viel passiert nicht in steirischen
Dörfern, und die Rückkehr der Schützenhöfers blieb der örtlichen Polizei nicht
verborgen. Die Schützenhöfers besitzen zwei Fahrzeuge, einen alten
VW-Transporter und einen VW-Golf, und sie nutzen die beiden Fahrzeuge mit einem
Wechselkennzeichen. Am 15. Februar dieses Jahres fuhr Frau Schützenhöfer mit
dem VW-Transporter ins nahe Hartberg und übersah, da sie es eilig hatte, dass
das Wechselkennzeichen noch am VW Golf montiert war. Die örtliche Polizei
führte eine Fahrzeugkontrolle durch und konnte einen Erfolg feiern: neben dem
fehlenden Wechselkennzeichen wurde noch das Fehlen von Verbandszeug, einer
Warneinrichtung und Warnkleidung moniert. Man erstattete Anzeige, und der
Sachbearbeiter der Bezirkshauptmannschaft verhängte am 20.2.2018 über Frau
Schützenhöfer eine Strafe von 310,-. Angesichts des Delikts und des Bezugs
einer kleinen Pension ein ansehnlicher Strafbetrag. Der Sachbearbeiter trägt zu
Recht einen österreichischen Allerweltsnamen und ich überlege mir, was er wohl
für ein Mensch ist. Josef Schützenhöfer hat bei diesem Mann schon oft
vorgesprochen. Der Beamte kennt also die bescheidenen wirtschaftlichen
Verhältnisse der Familie, über die er seit Jahren Strafen verhängt. Rechtlich
hat alles ganz sicher seine Ordnung. Würden die Behörden freilich alle Bürger
so behandeln wie Josef Schützenhöfer, dann hätte das Land nie Gemeinden
zusammenlegen müssen, sondern hätte mit den vielen Strafeinnahmen in jeder
Teilortschaft eine eigene Blumentherme errichten können.
Herr und Frau Schützenhöfer ärgerten sich über die
Strafe, aber sie standen vor der Rückreise nach Italien, wollten den Kopf frei
haben von dem leidigen Kleinkrieg, den die lokalen Behörden nicht lassen konnten,
und zahlten den Strafbetrag ein.
Damit nicht genug. Es vergingen einige Wochen, da
setzte sich der Beamte mit dem Allerweltsnamen wieder an seinen Computer und
verfasste eine neue Strafverfügung. Da zwischen den beiden Strafverfügungen
viel Zeit vergangen ist, wird er wohl ausgiebig darüber nachgedacht haben. Diesmal
wurde über Josef Schützenhöfer eine Strafe von 220,- Euro verhängt, und an
dieser Stelle wird unsere Geschichte auch für Juristinnen und Juristen
interessant. Josef Schützenhöfer wird nämlich angelastet, er habe seiner Frau
Janice dadurch Beihilfe zu einer Verwaltungsübertretung geleistet, indem er ihr
das Fahrzeug am 15.2. überlassen habe, damit sie ohne Kennzeichen fahren könne.
Wörtlich heißt es in der Strafverfügung: „… haben Sie vorsätzlich Beihilfe zu
einer Verwaltungsübertretung geleistet.“ In vielen Jahren juristischer Tätigkeit
ist mir dergleichen nicht untergekommen, dass man den Partner mitbestraft, wenn
jemand ein solches Verwaltungsdelikt begeht. Was kommt als nächstes? Wenn Frau
Schützenhöfer künftig falsch parkt, wird man wieder ihren Mann als
Beitragstäter mitstrafen? Fährt Josef Schützenhöfer mit dem Fahrrad seiner Frau
künftig in der falschen Richtung um die Mariensäule, ist dann seine Frau als
Besitzerin des Fahrrads wegen vorsätzlicher Beitragstäterschaft ebenfalls strafbar?
Da der Beamte der steirischen Bezirkshauptmannschaft aber offenbar viel Zeit ins
Überlegen der Rechtslage investiert hat, käme uns an dieser Stelle nie der
Begriff der Schikane in den Sinn und selbstverständlich wäre es auch absurd,
die Vorgesetzten des Beamten und die Mitarbeiter der lokalen Polizeiinspektion
als vorsätzliche Beitragstäter bei der Erstellung der Strafverfügung zu
bezeichnen. Vielleicht hat ja Josef Schützenhöfer dem Spektakel die beste
Antwort gegeben mit einem Schreiben, das er dem Sachbearbeiter der
Bezirkshauptmannschaft sandte:
„Gestern noch war ich an des Wassers Rand,
stand im Sand,
habe gesehen wie eine Welle in sich zusammengefallen
ist
Seit heute bin ich wieder in Österreich und
Habe mich in ihre Straße verirrt,
war lange weg
und die vielen Brief-Manuskripte in der Postablage
sorgen für gedrängte Verhältnisse.
Ich hole nach und lese,
aber die Gedanken verdunkeln sich.
Ist Ihr Manuskript jetzt wohl incomplete und obsolete?
Könnten Sie ein neues formulieren und an mich
adressieren?
Ich bin jetzt ab dem morgigen, gestrigen Tag wieder in
ihrer Straße und
bleibe wohl bis der September um die Ecke biegt.
J.S.“

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Gedanken zur Bekämpfung von Hate Crime

Die Beleidigung, Bloßstellung und
Verächtlichmachung von Menschen über social media ist ein zentrales
gesellschaftliches Problem. Trotz jahrelanger Diskussion gelingt es nicht, den
Opfern hier angemessen Unterstützung anzubieten. Das könnte daran liegen, dass sich
der Fokus der Politik und der Diskussion in der Regel auf den gesetzlichen
Rahmen richtet, während der Herangehens- und Arbeitsweise der Behörden wenig
Augenmerk geschenkt wird.

Neue Straftatbestände können helfen,
sicher. Zentral ist bei der Bekämpfung von Hate Crime (ob über social media oder in anderer Form) aber ein einfacher Zugang
zum Recht, der es Opfern von Hassangriffen erspart, sich am Ende als
Privatangeklagte vor Gericht verteidigen zu müssen. Dabei könnten Lösungen
recht einfach sein: so wie es jeder Handybetreiber macht, müsste der Staat
zentrale Anlaufstellen einrichten, ein Gassenlokal in jeder Landeshauptstadt,
am Schwedenplatz in Wien, am Hauptplatz in Graz und Linz, in der
Marie-Theresien-Straße in Innsbruck usw. Mit dem Schild
„Hassdelikte-Meldestelle“, mit einer einheitlich leicht zugänglichen Website
für Onlineeingaben und einer gemeinsamen kurzen Notrufnummer. Dazu eine
Infokampagne, damit die Meldestellen binnen Wochen einer breiten Öffentlichkeit
bekannt werden. Man weiß dann: wenn mir so etwas passiert, gehe ich zum
Schwedenplatz/Hauptplatz usw. In diesen Anlaufstellen sollten Polizeibeamte und
StaatsanwältInnen gemeinsam Dienst versehen, Informationen erteilen, rasch
Anträge/Anzeigen aufnehmen und für die Opfer kostenlose Prozessbegleitungen
(die muss man gesetzlich schaffen) für Zivil- und Strafverfahren organisieren.
Dolmetscher sollten, wenn nötig, über Video zugeschaltet werden, das bedeutet
heute technisch keinen großen Aufwand. Natürlich erfordert das ein Umdenken:
Staatsanwälte müssen ihre Büros verlassen und gemeinsam mit Polizeibeamten
diesen Dienst versehen – dafür ist wohl nicht einmal eine Gesetzesänderung
notwendig. Mit überschaubarem Ressourceneinsatz wäre rasch ein besserer Rechtsschutz herstellbar. Der einfache Rechtszugang ließe erwarten, dass
potenzielle Täter abgeschreckt werden und dass sich die Zahl der Delikte von
vornherein reduziert. Verbinden ließe sich das ganze mit bundesweit tätigen Spezialeinheiten in Polizei und Justiz, die den Überblick über diesen Bereich der kriminellen Szene in Österreich gewinnen und entsprechend geschult und sensibilisiert sind, insbesondere auch im Umgang mit Opfern.
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Zwei Beispiele für die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas

Zwei Beispiele zeigen, wie weit die vom
Rechtspopulismus betriebene Vergiftung des politischen und gesellschaftlichen
Klima in Europa fortgeschritten ist. In Niederösterreich wurden gestern zwei Asylwerber, einer aus Afghanistan,
der andere aus Somalia stammend, vom Vorwurf freisprochen, ein 15-jähriges
Mädchen vergewaltigt zu haben. In (sozialen) Medien ergoss sich darauf ein
Shitstorm über die Justiz. Der Freispruch sei unvertretbar und skandalös; eine ähnliche
Wortwahl fand der Vizekanzler. Aus der Landespolitik verlautete, den beiden
Männern werde die Grundversorgung gestrichen. Ich habe gestern mit einigen
sonst durchaus reflektierten Menschen über das Urteil gesprochen; der Gedanke,
dass junge männliche Asylwerber vom Vorwurf der Vergewaltigung eines
einheimischen Mädchens freigesprochen werden, oder dass sie gar unschuldig sein
könnten, scheint keine ernsthafte Möglichkeit mehr zu sein. Und es werden viele
Aspekte völlig unsachlich und undifferenziert durcheinander geworfen. Natürlich
sollte der Opferschutz in Österreich verbessert werden: es geht dabei nicht um
die Strafen, sondern um die Rahmenbedingungen im Verfahren. Es soll nicht drei,
vier, fünf Einvernahmen eines Opfers geben, sondern eine einzige, umsichtig und
professionell durchgeführte und mit Video dokumentierte; das Opfers soll auf ganz
einfache Weise Anzeige erstatten können, bestmöglich begleitet und geschützt
werden. Hier soll und muss im Interesse der Opfer viel verbessert werden. Und
umgekehrt dürfen wir die Rechte der Verdächtigen nicht über Bord werfen. Die
Unschuldsvermutung ist ein zentrales zivilisatorisches Element des
Strafverfahrens. Und es gibt gemeinsame Interessen von Verdächtigen und Opfern:
etwa die rasche Durchführung des Verfahrens, um die emotionale Belastung so
gering wie möglich zu halten. Bei der Diskussion über das Urteil wird auf
vieles vergessen: auf den zentralen Grundsatz, dass im Zweifel freizusprechen
ist. Der Freispruch bedeutet nicht, dass das Opfer nicht vergewaltigt wurde. Es
bedeutet nur, dass die Richter nicht völlig sicher waren. Dieser
Zweifelsgrundsatz gilt bei einer Vergewaltigung genau so wie bei einem Diebstahl
oder Betrugsverfahren. Wir können diesen Grundsatz nicht aufgeben. Es war im
Übrigen ein gemischter Senat aus Berufs- und Laienrichtern: es ist also auch
müßig, aus diesem Anlassfall heraus ein Berufs- oder Laienrichterbashing zu
betreiben. Und noch eines sollte man bedenken: keine Gruppe hat derzeit wohl
vor österreichischen Behörden einen schwereren Stand als junge männliche
Asylwerber. Diese Menschen sind stigmatisiert, sie haben es bei Wohnungs- und
Jobsuche schwerer als andere, und genau so bei Behördenverfahren. Dass sie in
einem Gerichtsverfahren unsachlich milde behandelt würden, ist absurd und lebensfremd.
Studien belegen, dass ausländische Verdächtige von der Justiz strenger
behandelt werden als österreichische Verdächtige.
Ähnlich instrumentalisiert wie das Strafverfahren in
Niederösterreich wurde der Mord an einer jüdischen Holocaust-Überlebenden in
Paris. Er wird zu einer weiteren Eskalation in der Hetze gegen Menschen
muslimischen Glaubens genutzt. Und natürlich gibt es einen wahren Kern: einen Antisemitismus, der von islamischen Staaten, Politikern,
Religionsführern genährt und betrieben wird; das ist genau so unerträglich wie
antisemistische Haltungen, die seit Jahrhunderten in Europa bestehen.
Jedenfalls: die Mehrheit der Menschen muslimischen Glaubens lebt friedlich in
Europa. Der Antisemitismus, der in Europa zur Ermordung von Millionen Juden
geführt hat, war genuin europäisch. Wir müssen jede Form von Antisemitismus und
Gewalttat und all ihre Ursachen ganz entschieden bekämpfen, ohne daraus so
plumpen Schlüssen wie der Ablehnung von ethnischen Gruppen, Religionen oder
Migration an sich nachzugeben.
Derzeit ist offenbar jeder Anlass gut, um Minderheiten
gegeneinander auszuspielen und auf schwache Gruppen einzuprügeln. Zu viele
Politiker und Medien lassen sich darauf ein. Wir wissen aus der Geschichte,
dass das ganz schnell ins Unheil für alle führt.
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