Ein Weihnachtsgeschenk im Namen der Republik

Der Verfassungsgerichtshof hat diese Woche mit einer Entscheidung dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten.
Wilfried Embacher und Oliver Scheiber  (DIE PRESSE Printausgabe 20.12.2018)
Der Verfassungsgerichtshof spricht seine Urteile im Namen der Republik. Und so hat er mit seiner Entscheidung vom 17. Dezember E 3717/2018, für die Republik ausgesprochen, wie Behörden in einem rechtsstaatlichen Verfahren Tatsachen festzustellen haben. Konkret hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass das Landesverwaltungsgericht Wien mit einem Erkenntnis einen Wiener in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt hatte.


Der betroffene Wiener ist in der Türkei geboren. Vor 40 Jahren ließ er sich in Österreich nieder. 1996 legte er die türkische Staatsangehörigkeit zurück und besitzt nun seit 22 Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Im Dezember 2017 stellte die Wiener Landesregierung – gestützt auf eine angebliche türkische „Wählerevidenzliste“ – fest, dass der Mann die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen und dadurch die österreichische Staatsbürgerschaft verloren habe; diese Annahme gründet sich allein auf die angebliche Wählerevidenzliste.
Kein taugliches Beweismittel

Das Wiener Landesverwaltungsgericht bestätigte diesen Bescheid der Wiener Landesregierung. Der Verfassungsgerichtshof dagegen kam zum Ergebnis, dass diese „Wählerevidenzliste“ ein fraglicher, nicht authentischer und hinsichtlich seines Ursprunges und des Zeitpunktes seiner Entstehung nicht zuordenbarer Datensatz sei, der kein taugliches Beweismittel für die Feststellung der Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit darstellt.
Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts bedeutet für Tausende Menschen das Ende einer existenzbedrohenden Verunsicherung. Tausende Österreicherinnen und Österreicher mussten befürchten, staatenlos zu werden, neue Aufenthaltstitel und Beschäftigungsbewilligungen zu benötigen und schlimmstenfalls sogar das Land verlassen zu müssen, in dem viele seit ihrer Geburt leben.
Der Verfassungsgerichtshof stellte das bis vor Kurzem Selbstverständliche fest: Man kann eben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft verlieren, nur weil man auf einer Liste steht, die von einer politischen Partei als Wählerevidenzliste bezeichnet wird, deren Herkunft und Richtigkeit aber ungeklärt sind. Auf dieser Grundlage kann keine rechtsstaatlich verbindliche Entscheidung zum Nachteil der Betroffenen getroffen werden. Diese Menschen bleiben also im Namen der Republik deren Bürgerinnen und Bürger.
Der Verfassungsgerichtshof kommt zum einzigen in einem demokratischen Rechtsstaat vertretbaren Ergebnis. Die politische Vorgeschichte zeigt aber, wie schnell wesentliche Einrichtungen der Republik ins Wanken geraten: Im Mai 2017 veröffentlicht die damalige Oppositionspartei FPÖ unter medialem Getöse eine türkische Wählerevidenzliste, auf der sich ihrer Meinung nach österreichische Staatsbürger befanden. Sie forderte die zuständigen Behörden auf, festzustellen, dass diese Menschen durch die Wiederannahme der türkischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hätten.
Die Behörden reagierten zunächst zurückhaltend, veranlassten eine Klärung der türkischen Rechtslage und versuchten, durch technische Überprüfungen die Herkunft der Liste oder Manipulationen daran aufzuklären. Die FPÖ gab an, dass ihr die Liste anonym zugespielt worden sei und sie daher zur Klärung der Herkunft dieser Liste nichts beitragen könne.
Mittlerweile wurde aus der Oppositions- eine Regierungspartei. Medien berichteten immer wieder über den Verdacht illegaler Doppelstaatsbürgerschaften. Weder die Behörden noch gewählte Volksvertreter setzten sich nachdrücklich für 100.000 betroffene Österreicherinnen und Österreicher ein, denen auf einmal der Verlust der Existenzgrundlage drohte.
Niemals bei Rot über die Straße

In dieser Gemengelage erließen Behörden in verschiedenen Bundesländern die ersten Bescheide, mit denen der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festgestellt wurde. Die überraschende Begründung: Die Vermutung, dass die Wählerevidenzliste nur Namen in Österreich lebender türkischer Staatsbürger enthält, konnte nicht widerlegt werden.
Das bedeutet: Die Behörden vertraten die Ansicht, die Bürger müssten beweisen, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Das wäre so, als ob man aufgefordert würde zu belegen, dass man niemals in seinem Leben die Straße bei Rot überquert hat. Menschen, die in Österreich geboren waren, sollten auf einmal den Beweis antreten, dass sie keine türkische Staatsbürgerschaft hatten. Umso überraschender war es, dass Verwaltungsgerichte in verschiedenen Bundesländern die Beweiswürdigung der Behörden für schlüssig hielten und vom Verwaltungsgerichtshof bestätigt wurden.
Kommt bald nächste Hetzjagd?

So blieb es wieder einmal dem Verfassungsgerichtshof vorbehalten, den Rechtsstaat und seine wichtigsten Grundsätze zu schützen. Er stellte sich vor jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auf einmal einer politischen und medialen Hetzjagd ausgesetzt waren, für die sich Behörden einspannen ließen. Der Verfassungsgerichtshof findet in seiner Entscheidung und der sie begleitenden Presseaussendung deutliche Worte für die Mangelhaftigkeit des Verfahrens: Das Höchstgericht führt damit aber auch vor Augen, wie binnen weniger Monate Fundamente des Rechtsstaats unter Beteiligung von Medien, Behörden und Gerichten ins Wanken geraten sind.
Rund 100.000 Österreicherinnen und Österreicher waren auf einmal einer existenzbedrohenden Handlungsweise der Behörden ausgesetzt. Gerade jene politischen Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, eine Law-and-Order-Haltung zu vertreten, pflegen einen so fahrlässigen Umgang mit grundlegenden Werten der Rechtsordnung, dass das Auftauchen neuer Listen mit Namen für die nächste Hetzjagd vorhersehbar ist.
Mit seiner Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof dem fremdenfeindlichen Furor fürs Erste Einhalt geboten. So kann man der Republik fröhliche Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschen, als Geschenk liegt diesmal die Bewahrung des Rechtsstaates unter dem Christbaum. Man muss an das Land und seine Bürgerinnen und Bürger aber auch appellieren, langsam aufzuwachen. Auf Dauer können 14 Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs den Rechtsstaat nicht allein zusammenhalten.

DIE AUTOREN


Mag. Wilfried Embacher (geboren 1965 in Klagenfurt) hat in Graz und Wien Rechtswissenschaften studiert. Seit 1998 in Wien als Rechtsanwalt eingetragen, seit 2005 Mitglied des Menschenrechtsbeirats, seit 2010 Partner bei Embacher Neugschwendtner. Spezialisiert auf Fremden- und Asylrecht sowie auf Verfassungsrecht und Grundrechte. [ Fabry ]
Dr. Oliver Scheiber (geboren 1968 in Wien) wurde 1995 zum Richter ernannt und ist seit 2009 Vorsteher des Bezirksgerichts Wien Meidling. Er ist Lehrbeauftragter an der Uni Wien, Mitglied der Österr. Juristenkommission und Vorstandsmitglied des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie. Im Text gibt er seine persönliche Meinung wieder. [ Fabry ]

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