„Förderung der Zivilcourage gerichtlicher Organe auf allen Ebenen“ – Zeitgeschichte und Richterausbildung

Beitrag erschienen in der Festschrift für Winfried R. Garscha
(Zeithistoriker – Archivar – Aufklärer. Festschrift für Winfried R. Garscha, hrsg. v. Claudia
Kuretsidis-Haider und Christine Schindler im Auftrag des Dokumentationsarchivs des österreichischen
Widerstandes und der Zentralen österreichischen Foschungsstelle Nachkriegsjustiz, Wien 2017; bestellen)
Förderung der Zivilcourage gerichtlicher Organe auf allen Ebenen“ – Zeitgeschichte und Richterausbildung

Oliver Scheiber

Dieser Beitrag soll, dem Charakter einer
Festschrift entsprechend, die Leistungen Winfried R. Garschas würdigen. Bei der
thematischen Ausrichtung des Beitrags war die Überlegung ausschlaggebend, wofür
die Justiz Winfried Garscha am meisten Dank schuldet. Die Auswahl war nicht
einfach, denn Winfried Garscha stützt mehrere für die Justiz wichtige Projekte.
Da ist einmal die 1998 gegründete Zentrale österreichische Forschungsstelle
Nachkriegsjustiz zu nennen. Die Forschungsstelle steht für das Bekenntnis und
Bemühen der Justiz, die Vergangenheit aufzuarbeiten und sich ihr zu stellen.
Dasselbe gilt für die Mitwirkung Winfried Garschas an einer großen Zahl
zeitgeschichtlicher Veranstaltungen im Justizrahmen, viele davon innerhalb der
Reihe „Justiz und Zeitgeschichte“.
[1] Auch
die Nachstellung von historischen Gerichtsverfahren zählt dazu. Ein weiterer
wichtiger Bereich ist die Unterstützung Winfried Garschas bei der Suche nach
den letzten lebenden NS-Kriegsverbrechern. Hier muss die Justiz mit dem Vorwurf
leben, das Engagement und die Kompetenz von Winfried Garscha und seiner
KollegInnen nicht genutzt, ja gebremst zu haben. Der vierte große Bereich, in
dem Winfried Garscha für die Justiz Wichtiges geleistet hat, ist die
Grundausbildung der Richterinnen und Richter bzw. Staatsanwältinnen und
Staatsanwälte. Da es sich hier um das am stärksten in die Zukunft weisende Feld
handelt, soll sich der nachfolgende Text damit beschäftigen. Denn es entspricht
dem Charakter des Jubilars, dass all seine Aktivitäten darauf hinauslaufen,
Zustände und Lebensverhältnisse zum Besseren zu verändern. Die Durchsicht der
Publikationen und Lehraufträge Winfried Garschas zeigt die fachliche Kompetenz und
Einbettung W. Garschas in die Wissenschaft. Zentrales Anliegen war dem Jubilar
wohl immer die Mitwirkung an möglichst vielen Projekten, die die Gesellschaft sensibilisieren,
informieren und verändern. Ich durfte mit Winfried Garscha in den letzten
Jahren vor allem im Bereich der Justizausbildung zusammenarbeiten, aber auch
bei Veranstaltungen und bei der Suche nach noch lebenden Kriegsverbrechern. Das
war auf der persönlichen wie fachlichen Ebene gleichermaßen gewinnbringend und
ich habe großen Respekt vor dem Qualitätsanspruch, den sich Winfried Garscha
bei allen Aktivitäten setzt und einhält. Dass er menschlich so geradlinig und
geerdet ist, dass er mit zunehmendem Alter nichts an Kreativität und
innovativer Energie einbüßt, unterscheidet Winfried Garscha von Anderen ebenso
wie sein feiner Humor.

1. Von der Auseinandersetzung
Bronner-Broda bis zum Fall Aula

Wie Deutschland stand auch Österreich
1945 vor dem Problem, das Funktionieren der öffentlichen Verwaltung
sicherzustellen und gleichzeitig die aus der Zeit des Nationalsozialismus
schwer belasteten Personen von staatlichen Funktionen fernzuhalten. Dieses
Bemühen ist, wie sich heute sagen lässt, unzureichend gelungen. Erst vor
wenigen Jahren trat etwa ins Bewusstsein, dass der frühere Justizminister Otto
Tschadek
[2] sich
in der NS-Zeit einen Namen als Blutrichter gemacht hatte. Erst der derzeitige
Justizminister Brandstetter setzte dem Portrait Tschadeks in der Ahnengalerie
des Justizministeriums einen erklärenden Text bei
[3] – mehr
als 50 Jahre hatte das Bild dort unkommentiert seinen Ehrenplatz.
Bereits
in den 1960er-Jahren deckte der junge Journalist und spätere profil- und
Standard-Gründer Oscar Bronner auf, dass zahlreiche schwer belastete NS-Richter
nach wie vor Dienst in der Justiz der Zweiten Republik taten.
[4] Es
waren in erster Linie Strafrichter, die in den 1960er-Jahren weiterhin ihren
Dienst auf allen Ebenen der Justiz taten, aber auch leitende Beamte des
Justizministeriums. Bronner stellte einige dieser Personen in der Zeitschrift
forum namentlich vor, er führte ihre Verbrechen in der NS-Zeit und ihre
aktuelle Stellung in der Justiz an und forderte die Außerdienststellung der
Betroffenen. Der damalige Justizminister Broda replizierte in derselben Zeitschrift
und hielt an seiner generellen Haltung, man müsse bezüglich der NS-Vergangenheit
einen Schlussstrich ziehen, fest.
[5]
Während Deutschland in den 1960er-Jahren eine Lösung dahingehend fand,
belastete Richter frühzeitig zu pensionieren, verblieben belastete Richter in
Österreich im Dienst.
[6] Sie
prägten mit ihrer autoritären und menschenverachtenden Haltung die Strafjustiz
sehr lange, die Nachwirkungen dieses Weltbilds waren vor allem an den
Strafgerichten bis in die 1990er-Jahre spürbar. Nazi-Rülpser von Richtern waren
keine Seltenheit. Einer der maßgeblichen NS-Verbrecher Österreichs, Heinrich
Gross, konnte bis in die 1990er-Jahre als meistbeschäftigter Gerichtspsychiater
Österreichs im Wiener Straflandesgericht ein- und ausgehen.
Die Biographie des Heinrich Gross
war damals schon bekannt. Gross hatte im Nationalsozialismus am vielfachen Mord
an Kindern am Spiegelgrund in Wien mitgewirkt.
[7] Den vom ihm getöteten Kindern
entnahm er die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine Karriere in
der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied von BSA und
SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Goldene Verdienstzeichen der Republik,
wurde meistbeschäftigter Gerichtspsychiater des Landes und brachte in den
1970er-Jahren Friedrich Zawrel für Jahre mittels eines böswilligen Tricks ins
Gefängnis. Denselben Zawrel hatte der NS-Arzt Gross als Kind unter den Nazis
gefoltert.
Es ist nur mit einer autoritären Sozialisierung zu
erklären, dass eine jüngere Richtergeneration diesem unwürdigen Spektakel nicht
schon in den 1980er-Jahren ein Ende machte. Es bedurfte der ausdrücklichen
Weisung des damaligen Justizministers Michalek Ende der 1990er-Jahre, damit es
endlich zu einer Anklage gegen Gross kam – ein Zivilgericht hatte rund 15 Jahre
davor festgestellt, dass Gross ein Mörder war. Kurz gesagt, die Justiz war ein
Spiegelbild der österreichischen Nachkriegsgesellschaft. Der Einfluss der
früheren Nationalsozialisten wirkte weiter, die NS-Zeit war lange tabu. So
erwähnt die Österreichische Richtervereinigung in ihren Statuten die Zeit des
Nationalsozialismus (bis heute) mit keinem Wort. Erst die im Jahr 2005
gegründete Fachgruppe Grundrechte der Vereinigung, also eine Untersektion,  setzt sich in ihren Statuten mit dem
Nationalsozialismus auseinander. Dort
[8] heißt
es ua:
Die Arbeit der Fachgruppe erfolgt
wesentlich aus der Verantwortung, die sich für die österreichische Justiz aus
den Erfahrungen des Nationalsozialismus ergibt, insbesondere aus der
Erkenntnis, dass der Justizapparat die Verbrechen des Nationalsozialismus
gedeckt, ermöglicht und befördert hat. Ziel der Fachgruppe ist die
Verhinderung des Entstehens jedweder autoritärer Staatsform sowie das
Aufzeigen von autoritären Entwicklungen und Gefahren für den demokratischen
Rechtsstaat, sei es innerhalb oder außerhalb der Justiz. Dieses Ziel erfordert
insbesondere die Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit und die
Förderung der Zivilcourage gerichtlicher Organe auf allen Ebenen.

In den letzten zwanzig Jahren hat
sich Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus verändert. Später als
andere Institutionen hat sich die Justiz der notwendigen Auseinandersetzung mit
dem Thema gestellt. Vor allem die Justizminister Broda, Michalek, Berger und
Brandstetter organisierten Symposien und Seminare unter dem Titel „Justiz und
Zeitgeschichte“. Der schon erwähnte Friedrich Zawrel trat vor rund fünfzehn
Jahren erstmals als Vortragender für die Justiz auf; er hat diese Funktion bis
zu seinem Tod im Jahr 2015 ausgeübt
[9] – unter anderem in einem seit 2009 bestehenden
zeitgeschichtlichen Ausbildungsmodul der Justiz, dem Curriculum
Justizgeschichte.
[10] Es geschah also vieles, um
innerhalb der Justiz eine Sensibilität und ein Bewusstsein für die Geschichte
zu entwickeln und darüber hinaus einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht
und in Haftanstalten zu entwickeln.
Diese Initiativen haben die Justiz
positiv verändert. Auch für KennerInnen der Justiz war es daher gleichermaßen
schocki
erend wie überraschend, als Anfang 2016 der so
genannte Fall Aula bekannt wurde. In einem Text der Zeitschrift
„Aula“ waren
KZ-Häftlinge als „Massenmörder“ und „Landplage“ bezeichnet worden. Die Grazer
Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren mit der Begründung ein, es sei
„nachvollziehbar“, dass die 1945 befreiten Häftlinge aus dem KZ Mauthausen eine
„Belästigung“ für die Bevölkerung darstellten. Außerdem hätten sich unter den
KZ-Häftlingen „Rechtsbrecher“ befunden.

2. Herausforderungen für die
Richterausbildung
Der Fall Aula zeigt, dass die
vielfältigen Bemühungen des Ausbildungssystems der Justiz noch lange nicht am
Ziel sind; und er machte deutlich, dass zeitgeschichtliche Seminare in der
Grundausbildung der Justiz notwendig sind – das Wissen um die NS-Verbrechensmaschinerie
ist nach Schule und Universität nicht im erforderlichen Ausmaß vorhanden. Die
Reaktion des Justizministeriums auf das Aula-Verfahren zeigte freilich auch die
positiven Veränderungen auf: der zuständige Sektionschef im Justizministerium
bezeichnete die Einstellungsbegründung als „grobe Fehlleistung“ und sprach von
einer „unsäglichen Diktion.“ Die Begründung sei „unfassbar und in sich
menschenverachtend.“
[11] Diese klare, öffentliche Schelte war für die
Justiz ein Novum. Nur wenige Wochen nach dem Bekanntwerden des Falls ordnete
Justizminister Brandstetter ein verpflichtendes zeitgeschichtliches Training
für alle künftigen RichterInnen und StaatsanwältInnen an. Es wurde eine
interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus JuristInnen und führenden HistorikerInnen
eingesetzt, die nach kurzen Beratungen zum Ergebnis kam, das bereits seit 2009 bestehende
Curriculum zu adaptieren und als obligatorischen Teil der Grundausbildung der
Justiz ab 2017 zu implemetieren. Vor der näheren Darstellung der Umsetzung
scheint ein Blick auf das Ausbildungssystem der Justiz zweckmäßig.
[12]
In
Österreich gibt es eine gemeinsame Ausbildung für Richterinnen und Richter und
Staatsanwältinnen und Staatsanwälten.
[13] Der
Wechsel zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht ist im Laufe des Berufslebens jederzeit
möglich. Die Grundausbildung dauert, einschließlich der so genannten
Gerichtspraxis, vier Jahre. Die RichteramtsanwärterInnen werden in dieser Zeit
verschiedenen Ausbildungsstationen (Gerichten, Staatsanwaltschaften, RechtsanwältInnen,
Justizanstalten, Opferschutzeinrichtungen) zugeteilt. Ergänzend zu diesem
training on the job gibt es laufende und in Blockform organisierte Kurse. Diese
Kurse haben überwiegend juristische Kernfächer zum Thema, es gibt aber auch
einzelne Seminare zu Themen wie „Recht und Sprache“ oder
Antirassismustrainings. Die vierjährige Ausbildung schließt mit der
Richteramtsprüfung ab.
Organisatorisch
geschieht die Aus- und Fortbildung der Richterinnen und Richter bzw
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in einem Zusammenspiel von
Justizministerium, Richtervereinigung und den vier Oberlandesgerichten in Wien,
Linz, Graz und Innsbruck. Bis in die 1990er-Jahre wurde die gesamte Aus- und
Fortbildung nahezu ausschließlich von Richterinnen und Richtern gestaltet. Erst
in den 1990er-Jahren erfolgte auf Betreiben der damals zuständigen Abteilungsleiterin
des Justizministeriums Constanze Kren die Öffnung zu externen Vortragenden.
Heute ist die Einbindung externer ExpertInnen zum selbstverständlichen Standard
geworden. Was das quantitative und qualitative Fortbildungsangebot betrifft, so
ist Österreichs System im internationalen Vergleich herzeigbar. Ein klares
Defizit und Erschwernis zur Herausbildung insbesondere didaktischer Standards
liegt im Fehlen einer zentralen Ausbildungsakademie, wie sie nahezu alle
EU-Staaten kennen. Dieses Manko erschwert die Bündelung von Kompetenzen und die
Entwicklung didaktischer Standards,
interdisziplinärer
Ausbildungsmodule und
einheitlicher Strategien in der Aus- und Fortbildung.
An einer zentralen Akademie liessen sich Kurse in Zusammenarbeit
mit Hochschulen, Polizeiakademien und anderen staatlichen und nichtstaatlichen
Einrichtungen sowie der Austausch mit anderen Disziplinen (Medizin, Soziologie,
Sprachwissenschaft, Kommunikationswissenschaft) einfacher umsetzen.
[14]
Die
Aus- und Fortbildung der Justiz ist in den vergangenen zehn Jahren zu einem
wichtigen Bereich der europäischen Justizpolitik geworden. Sowohl der Europarat
als auch die Europäische Union beschäftigen sich in enger Zusammenarbeit mit
der Ausbildung der Richterschaft.
[15] Dabei
ist es auf europäischer Ebene Konsens, dass die juristisch-technische
Ausbildung an den Universitäten stattfindet, sodass die Grundausbildung der
Justiz einen Schwerpunkt auf die Persönlichkeitsbildung und den Erwerb
wichtigen Wissens aus Nachbardisziplinen zu legen hat. Grundkenntnisse aus
Medizin, Psychologie oder Soziologie sind für RichterInnen unabdingbar. Auf
europäischer Ebene wird danach gestrebt,
dass RichterInnen und StaatsanwältInnen menschengerecht
agieren; eine ihrer zentralen Fähigkeiten muss jene zum Zuhören sein.
Die
traditionsreiche französische
Richterakademie Ecole Nationale de la Magistrature (ENM)[16] etwa
bekennt sich zu einem
neuen Humanismus, dem die moderne Justiz verpflichtet sei.
Justiza
kademien
jüngerer Demokratien wie etwa jene Rumäniens folgen einem ähnlichen Ansatz.[17] Zudem gibt es einen Trend dahin, RichterInnen und StaatsanwältInnen zu
Fortbildungen zu verpflichten. In der Richterschaft wurde dies auf Grund eines
falschen Verständnisses richterlicher Unabhängigkeit lange abgelehnt.
3. Das
Curriculum Justizgeschichte
Über Auftrag des Justizministerium erarbeitete
2009 ein interdisziplinäres Team
[18] ein Ausbildungsmodul zur Zeitgeschichte für die
Grundausbildung der Justiz. Diese „Curriculum Justizgeschichte“ genannte
Ausbildung besteht aus zwei Teilen zu je drei Tagen. Inhaltlich setzen sich die
Ausbildungseinheiten mit der Justizgeschichte ab dem 19.
Јаhrhundert auseinander. Die Zeit
des Nationalsozialismus und die Ahndung der Verbrechen dieser Zeit bilden zwar
einen Schwerpunkt der Seminare, die Inhalte umfassen aber etwa auch die
Geschichte der Laienbeteiligung, die Wandlung des Familienrechts, die reformintensiven
1970er-Jahre oder die Geschichte der RichterInnenausbildung und des
Weisungsrechts. Didaktisch setzen die
Seminare sowohl auf Vortragsformen als auch auf Diskussionen, Gruppenarbeiten
und Exkursionen. Zentral sind der interdisziplinäre Ansatz sowie die Einbindung
von Zeitzeugen und der Besuch von Gedenkstätten, etwa Am Spiegelgrund in Wien
oder in Mauthausen. Das Curriculum Justizgeschichte wurde seit 2009 insgesamt
vier Mal angeboten. Auf freiwilliger Basis haben bisher rund 120
RichteramtsanwärterInnen teilgenommen.
[19]
Ab dem Jahr 2017 sollen nun alle
künftigen RichterInnen und StaatsanwältInnen dieses Ausbildungsmodul
verpflichtend besuchen.
[20] Die
vorgenommenen Änderungen am Curriculum sind vor allem organisatorischer Natur
und betreffen die künftig größere Teilnehmerzahl.
[21] Der
breite Ansatz, der etwa Filme und Theaterbesuche in das Seminar integriert,
soll beibehalten werden. Zudem wurde Raum für mehr Flexibilität vorgesehen, der
das Eingehen auf aktuelle Geschehnisse ermöglicht. Es erscheint etwa sinnvoll,
aktuelle Vorgänge wie Fluchtbewegungen und alle damit verbundenen
Herausforderungen in einen geschichtlichen Kontext zu stellen. Wie war das mit
den diversen Flüchtlingsströmen in Europa im 20. Jahrhundert – was kann eine
Gesellschaft, ein Justizsystem aus den historischen Erfahrungen lernen?
Es liegt in der Natur der Sache, dass
sich der Erfolg einer solchen Ausbildung nicht messen lässt. Für das Curriculum
Justizgeschichte gilt dasselbe wie für die ebenfalls vor mehr als zehn Jahren
eingeführten Managementlehrgänge in der Justiz: es ist zu erwarten, dass sie
der Justiz mittelfristig neue Zugänge ermöglichen, Wissen schaffen, für ihr
Thema sensibilisieren und so zu spürbaren Qualitätssteigerungen im Alltag der
Gerichte und Staatsanwaltschaften führen. Schon heute gebührt Winfried Garscha
und der Herausgeberin dieses Bandes Claudia Kuretsidis-Haider von Seiten der
Justiz großer Dank dafür, dass sie dieses Curriculum so wie andere Projekte im
Justizbereich gemeinsam tragen und vorantreiben.



[1]    Garscha, Winfried, Zeit- und Rechtsgeschichte – neue Trends eines
Dialogs mit Tradition, in: Walter Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz,
Wien 2013.
[2]    Tschadek war von 1949-1952 und von 1956-1960
österreichischer Justizminister. Zu Tschadeks Biographie vgl Thomas Geldmacher,
Der gute Mensch von Kiel? Marinerichter Otto Tschadek (1904-1969), in:
Thomas Geldmacher, Hannes Metzler, Magnus Koch, Peter
Pirker, Lisa Rettl (Hg.), »Da machen
wir nicht mehr mit …«
Österreichische Soldaten und Zivilisten vor
Gerichten der Wehrmacht, Mandelbaum Verlag (2010); auch online verfügbar:

http://deserteursdenkmal.at/wordpress/wp-content/uploads/2014/09/Thomas-Geldmacher-Der-gute-Mensch-von-Kiel.pdf
(Stand: 16.10.2016).
[3] Brandstetter fordert Erinnerungskultur der Justiz, Online- Standard
vom 20.1.2016, http://derstandard.at/2000029370409/Brandstetter-fordert-Erinnerungskultur-der-Justiz-ein
(Stand: 16.10.2016).
[4]    Bronner, Oscar: Die Richter sind unter uns. –
Wien: Forum, 1. Sonderheft Herbst 1965; Bronner, Oscar: Die Richter bleiben
unter uns. Forum, November 1965, S. 491ff.
[5]   Broda, Christian: Die
Republik hat einen Schlußstrich gezogen. Was1945 recht war, muss 1965 billig
sein. Forum 1965, 570ff.
[6]    Eine 2016 vom deutschen Bundesjustizminister
präsentierte Studie zeigt aber auch für Deutschland ein schreckliches Bild:
1957 waren 77% der leitenden Beamten des deutschen Bundesjustizministeriums
frühere NSDAP-Mitglieder. Vgl Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die
Akte Rosenburg Das
Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit (2016), C.H.Beck; auch online
verfügbar: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Akte_Rosenburg.pdf?__blob=publicationFile&v=7
(Stand: 16.10.2016).
[7]   Oliver
Lehmann, Traudl Schmidt: In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben
des
Friedrich Zawrel.
Czernin, Wien 2001.
[9]    Zu Friedrich Zawrels Biographie, insbesondere
auch seiner Rehabilitierung vgl: Werner Vogt, Die Wahrheit hinter 16 Lügen, Die
Presse Printausgabe vom 18.5.2013 (http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1403710/Die-Wahrheit-hinter-16-Lugen,
Stand: 16.10.2013), und Werner Vogt, Wer die Täter enttarnt, Die Presse
Printausgabe vom 18.4.2015 (http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/4711222/Wer-die-Taeter-enttarnt,
Stand: 16.10.2016).
[10] Friedrich Zawrel ist am
20.2.2015 verstorben. Justizminister Brandstetter hat Zawrel bei der
Trauerfeier gewürdigt. Dem Justizkritiker Werner Vogt hat Brandstetter im
September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der Republik überreicht. Die
Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks von Nikolaus Habjan über
die Lebenswege von Zawrel und Gross im Justizministerium hatte Zawrel gerade
noch erlebt.
[11] Verfahren gegen „Aula“: Einstellung laut Ministerium „unfassbar“,
Online-Standard vom 8.2.2016,
http://derstandard.at/2000030576146/Aula-Verfahren-Ministerium-haelt-Einstellung-fuer-unfassbar-und-verharmlosend, Stand: 16.10.2016. Vgl auch die
Beantwortung der parlamentarischen Anfrage 7910/J-NR/2016 betreffend die
Einstellungsbegründung durch die Staatsanwaltschaft Graz durch Justizminister
Brandstetter: 7633/AB, XXV. GP,
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/AB/AB_07633/imfname_520561.pdf (Stand
16.10.2016).
[12] Vgl auch Mayr, Peter G.:
Richterausbildung in der Zweiten Republik, in: Kohl/Reiter-Zatloukal (Hrsg.),
RichterInnen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Auswahl, Ausbildung
Fortbildung und Berufslaufbahn, Wien 2014, 211f.
[13] Diese Ausführungen beziehen sich nur auf die
Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, die organisatorisch dem Justizministerium
untersteht. Die Auswahl der RichterInnen der noch jungen Verwaltungsgerichte
folgt anderen Regelungen, eine Richterausbildung im engeren Sinn ist bei den
Verwaltungsgerichten nicht vorgesehen.
[14] Oliver Scheiber, Braucht Österreich eine
Richterakademie?, juridkum Heft 4/2002, Seite 186ff.
[15] Einen Einblick in die Arbeiten zur Abstimmung der Ausbildung der
Rechtsberufe bieten die Internetseiten des EJTN (European Judicial Training
Network), das sich im EU-Rahmen dem Thema widmet (http://www.ejtn.eu, Stand: 16.10.2016),
sowie jene von HELP, einem Programm des Europarats zur Grundrechteschulung der
Rechtsberufe
[16] http://www.enm.justice.fr/?q=Presentation-ENM
(Stand: 16.10.2016).
[17] Das Institutul National al
Magistraturii (INM) verfügt über ein inhaltlich und didaktisch beachtliches
Konzept der RichterInnenausbildung (http://www.inm-lex.ro/index.php, Stand
16.10.2016).
[18] Winfried R. Garscha, Claudia
Kuretsidis-Haider, Oliver Scheiber.
[19] Vertiefend zum Curriculum vgl. Grünstäudl,
Georg: Reforming Training for Austrian Judges. Is a compulsory Teaching unit in
Legal History an “extravagant luxury”? fhi – forum historiae iuris, o7/2016,
http://www.forhistiur.de/en/2016-07-grunstaudl/
(Stand: 9.10.2016) sowie
Grünstäudl Georg, Was sollen
RichterInnen aus welcher Geschichte lernen? Das Curriculum Justizgeschichte in
der österreichischen Richterausbildung (erscheint im Frühjahr 2017).
[20]  Fall
„Aula“: Richter und Staatsanwälte müssen „Justizgeschichte“ lernen,
Online-Standard vom 11.3.2016,
http://derstandard.at/2000032745846/Causa-Aula-Brandstetter-zieht-Konsequenzen-bei-Ausbildung
(Stand: 16.10.2016).
[21] Die Zahl der Personen, die sich als RichteramtsanwärterInnen in der
Grundausbildung zum Richterberuf befinden, schwankte zuletzt zwischen 150 und
200 österreichweit.
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Tiroler Justizwerkstätte 2016 – Bericht

Verständlichkeit,
Menschen mit Sehbehinderung im Richteramt und Schiedsgerichte: die großen
Themen der Tiroler Justizwerkstätte 2016
Oliver Scheiber – Beitrag für Österreichische Richterzeitung 6/2017 (s. 124-127)
______
Ich widme diesen Beitrag Florian Menz, der zu dieser Tagung im Herbst 2016 einen so wertvollen Beitrag geleistet hat. Florian Menz ist im Sommer 2017 verstorben.
______




Auf
einen Blick:
Ein Justizseminar in
Innsbruck liefert einige konkrete Anregungen für die gerichtliche Praxis: so
können sich Richterinnen und Richter eigene Schiedsverfahren innerhalb der
Justiz vorstellen. Auch handelsgerichtliche Verfahren in englischer Sprache
wurden angedacht. Um die Justiz bürgernäher zu machen, sollte mehr an mündlicher
Erklärung und Information geboten werden – zu viele Menschen kommen mit
schriftlichen Ausfertigungen und Informationen nicht zu Recht. Schließlich
konnten Bedenken gegen den Einsatz sehbehinderter Menschen ausgeräumt werden –
am Bundesverwaltungsgericht sind bereits zwei blinde Richter tätig.  
Der Präsident des OLG Innsbruck hatte
für Anfang Oktober 2016 erstmals zur Tiroler Justizwerkstätte nach Innsbruck
eingeladen.[1]
Das Seminar schließt an die früheren „Kirchberger Gespräche“ an und will
justiz- und gesellschaftspolitische Fragen in einer offenen Form erörtern. Rund
25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Österreich waren im frisch
renovierten Seehof zusammengekommen, um drei aktuelle Schwerpunktthemen im ansprechenden
Ambiente der Hungerburg oberhalb von Innsbruck
zu diskutieren: Sprache und Verständlichkeit, Menschen mit Sehbehinderung im
Richteramt und Schiedsgerichte. Die Diskussionsfreude der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer und die hochwertigen Vortragenden bescherten drei kurzweilige,
lebhafte Seminartage – allen Beteiligten sei dafür sehr herzlich gedankt.[2] Im Sinne der
Nachhaltigkeit des Seminars soll im Folgenden versucht werden, einige
Schlussfolgerungen zu den drei großen Themenbereichen festzuhalten.
Den Fachthemen voran ging ein
abendlicher Eröffnungsvortrag von Angelika Hager, Leiterin des
Gesellschaftsressorts der Zeitschrift profil, Kolumnistin (Polly Adler) und Festivalintendantin. Hager beschäftigte sich
hauptsächlich mit Fragen der Familiengerichtsbarkeit, häuslicher Gewalt und der
Beiziehung von Sachverständigen. Sie wies u.a. darauf hin, dass nach ihrer
Erfahrung der Gewaltschutz nur dann gut funktioniere, wenn auch der
weggewiesene Partner, also in der Regel der Mann, sowohl eine Wohnmöglichkeit
als auch eine Therapieauflage erhält.
Sprache
und Verständlichkeit in der Rechtsprechung
Das erste Schwerpunktthema der Tagung
lautete „Sprache und Verständlichkeit in der Rechtsprechung“. Es wurde aus der
Sicht der Medien und der Öffentlichkeit von Peter Resetarits, selbst Jurist und
langjähriger Gestalter von Fernsehmagazinen mit Justizbezug (Schauplatz
Gericht) sowie von Bürgerforen, vom Sprachwissenschaftler Florian Menz sowie
vom Hofrat des Verwaltungsgerichtshofs Hans-Peter Lehofer beleuchtet.
Resetarits fokussierte einerseits auf die Medienarbeit der Justiz. Diese sei in
den letzten Jahren deutlich professioneller geworden. Man müsse sich aus seiner
Sicht aber ständig bewusst sein, dass juristische Themen für eine breite
Öffentlichkeit auf eine Alltagssprache heruntergebrochen werden müssen. Zum
anderen beschäftigte sich Resetarits mit der Sprache im Gerichtssaal. Er
berichtete von einer Exkursion mit Studierenden zu einer Zivilverhandlung über
einen Erbschaftsstreit. Die Verhandlungssprache sei derart von Fachtermini
dominiert gewesen, dass aus der über 20-köpfigen Gruppe von Studierenden keine
einzige Person am Ende erklären konnte, worum es in der Verhandlung gegangen
sei. Resetarits appellierte daran, in Verhandlungen öfter allgemein
verständliche Einführungen oder Zusammenfassungen einzubauen.
Der Sprachwissenschaftler Florian Menz betonte,
dass nach Forschungsergebnissen die Sprache der Justiz auf bestimmte männliche
Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sei. Großen Bevölkerungsgruppen, darunter stärker
vertreten Frauen, Menschen mit niedriger Bildung, MigrantInnen und älteren
Menschen sei die Sprache der Justiz dagegen in unterschiedlich hohem Ausmaß
fremd. Die Untersuchung von Urteilen etwa zeige, dass  diese sich vor allem an die
Rechtsmittelinstanz, also an die Institution Justiz selbst, richteten. Aus der
Logik des Systems sei das damit erklärbar, dass der das Urteil schreibende
Richter primär das Bestehen des Urteils vor der Rechtsmittelinstanz im Auge habe.
Der nicht juristisch gebildete Durchschnittsbürger sei möglicherweise die
gewünschte, jedoch nicht die tatsächliche Zielgruppe gerichtlicher
Schriftstücke, wenn man die Textgestaltung analysiere.[3]
Schließlich wies Menz darauf hin, dass
rund 40% der Bevölkerung in Österreich als funktionale Analphabeten zu
qualifizieren sind, das heißt, die schriftlichen Texte der Justiz sind dieser
großen Gruppe von Menschen grundsätzlich nicht zugänglich. Auch wenn sich die
Verständlichkeit vieler juristischer Texte deutlich verbessern lasse, so kommt
diese Verbesserung der Verständlichkeit wiederum nur einer kleineren Gruppe von
ohnedies vergleichsweise gut gebildeten Menschen zugute. Von der großen Gruppe
nicht so gut gebildeter Menschen kann man dagegen auch mit einfacher
abgefassten Texten nicht allzu viele erreichen.
Daher müssten vermehrt andere Formen und Medien der Informationsvermittlung eingesetzt werden.
Hans Peter Lehofer erwähnte in seinem
Referat zunächst Verständlichkeitsindizes[4] und wies dann darauf hin,
dass die Gesetzeslage die Richterinnen und Richter sehr nachhaltig zur
Verständlichkeit verpflichte. § 53 Abs 2 Geo verlange, „dass das Verkündete von
den Beteiligten verstanden wird. Die Ausdrucksweise des Gerichts sei kurz und
klar“. § 53 Abs 3 Geo sehe für schriftliche Erledigungen vor: „Die Erledigung
muss verständlich sein“.
Ähnliche Bestimmungen enthalte das – von den Verwaltungsgerichten zu beachtende –
AVG in seinem § 60 („In der Begründung sind die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung
maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage
klar und übersichtlich zusammenzufassen“).
Als positive Beispiele bzw.
Orientierungshilfen erwähnte Lehofer den Leitfaden des Innsbrucker Magistrats „Innsbruck
spricht auf Augenhöhe“.[5] Er regte an, in
schriftlichen Erledigungen Zusammenfassungen in verständlichen Worten
vorzusehen.
Für die Justiz ergeben sich aus der
Überschneidung der drei Referate folgende Gedanken:
1)  Es bestehen bereits
jetzt gesetzliche Verpflichtungen der Gerichte, sowohl in Verhandlungen als   auch in schriftlichen Erledigungen eine
verständliche Sprache zu verwenden.
2) Nahezu
die Hälfte der Bevölkerung verfügt über so erhebliche Leseschwächen, dass sie
mit Erledigungen der Gerichte, auch wenn diese in einfacher Sprache abgefasst
sind, nicht viel anfangen kann.
3) Es
empfiehlt sich, sowohl in mündlichen Verhandlungen als auch in schriftlichen Erledigungen (Urteilen),
Zusammenfassungen in leicht verständlicher Sprache einzufügen.
4) Schreibwerkstätten sind ein
sinnvolles Fortbildungstool.
5) In Bemühungen um eine einfachere
juristische Sprache müssten die juridischen Fakultäten eingebunden werden.
5) Ziel
der Justiz muss es sein, dass ihre Arbeit von den Menschen verstanden wird. Die
Probleme mit der Verständlichkeit schriftlicher Erledigungen legen nahe, in
wichtigen Angelegenheiten den Verfahrensparteien die wesentlichen Aufträge,
Verfahrensschritte und Entscheidungen in mündlicher Form zu erklären.

Menschen
mit Sehbehinderung im Richteramt
Zweites Schwerpunktthema der Tagung war
die Beschäftigung von Menschen mit Sehbehinderung im Richteramt. Reinhard
Klaushofer (Universität Salzburg) stellte eingangs die Vorgaben der
UN-Behindertenrechtskonvention vor, die eine Verpflichtung enthält, Menschen
mit Behinderung durch Zurverfügungstellung von Assistenz und technischen
Hilfsmitteln weitgehende Berufszugänge zu eröffnen. Die deutsche Anwältin
Pamela Pabst, von Geburt an blind, schilderte ihre Berufslaufbahn und die Art
und Weise, wie sie den Beruf ausübt.[6] Sie arbeitet ebenso wie
der weitere sehbehinderte Referent, der Richter des Bundesverwaltungsgerichts
Mag. Gerhard Höllerer, mit persönlichen Assistenten. Höllerer erläuterte auch
heutige modernste technische Hilfsmittel. Über einen PC mit Hörausgabe etwa
lassen sich Textdokumente, e-mails etc. rasch aufnehmen. Höllerer berichtete,
dass er am Bundesverwaltungsgericht zu den Richtern mit der höchsten
Arbeitsbelastung und der höchsten Zahl ausgefertigter Entscheidungen zähle.
Deutschland kennt seit Jahrzehnten
blinde Personen im Richteramt. Derzeit gibt es in Deutschland rund 50 bis 60
blinde Richterinnen und Richter im Aktiv- und Ruhestand. Eingesetzt sind sie in
allen Sparten der Gerichtsbarkeit mit Ausnahme des Strafrechts. Eine ältere
Entscheidung des BGH lehnt den Einsatz blinder RichterInnen in
strafgerichtlichen Hauptverhandlungen ab. Laut Pamela Pabst wird in
Juristenkreisen in Deutschland die Ansicht vertreten, dass man heute nicht mehr
so entscheiden würde, zumal sich ja Zivil- und Strafverfahren bezüglich
Beweiswürdigung und richterlicher Verhandlungsführung nicht wesentlich
unterscheiden. Allerdings bedürfe es eines Anlassfalls, um eine neue
Leitentscheidung und Korrektur der BGH-Rechtsprechung herbeizuführen. In
Österreich wurde die früher vorherrschende Ablehnung blinder RichterInnen durch
eine Enquete in Wien 2013 und die folgende Ernennung blinder Richter zum
Bundesverwaltungsgericht aufgebrochen. Bei der Tagung in Innsbruck schien es
so, dass Bedenken gegen blinde Richterinnen und Richter weitgehend ausgeräumt
sind. Die zunehmende Digitalisierung des Gerichtsverfahrens kommt blinden Personen
entgegen, bei der Umstellung auf den elektronischen Akt kann die
Barrierefreiheit mitgeplant werden.
Die Ergebnisse des Seminartags lassen
sich so formulieren:
1) Blinde
Juristinnen und Juristen sind in anderen Ländern, etwa Frankreich und Deutschland,
    seit langem im Justizdienst tätig.
Aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl von blinden Absolventinnen an
juridischen Fakultäten ist, zieht man das deutsche Beispiel heran, für
Österreich ohnedies mit einer sehr geringen Anzahl an blinden Bewerberinnen und
Bewerbern für das Richteramt zu rechnen.
2) Seit
der Arbeitsaufnahme des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2014 sind dort zwei blinde Richter tätig.
3) Blinde
Richterinnen und Richter haben einen Anspruch auf persönliche Assistenz. Die
persönlichen Assistenten sowie besondere technische Ausstattung werden aus
Geldern des Sozialministeriums bezahlt, belasten das Justizbudget also nicht.
Schiedsgerichtsbarkeit
Der letzte Seminartag war dem
Schwerpunktthema Schiedsverfahren gewidmet. Durch die aktuellen politischen
Diskussionen um die Schiedsgerichte im CETA-Abkommen hatte das Thema besondere
Aktualität. Der Publizist Christian Felber referierte über die
Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen von TTIP und CETA. Er stellte im Rahmen
seines Vortrags auch die von ihm entwickelte Gemeinwohl-Ökonomie. Felber argumentierte,
dass sich eine Bevorzugung der internationalen Konzerne gegenüber allen anderen
Rechtsobjekten und Staaten dadurch ergeben habe, dass man
Unternehmensstreitigkeiten im Zusammenhang mit internationalen Konzernen aus
dem UN-Rechtsrahmen herausgelöst habe. Sündenfall sei laut Felber gewesen, dass
das internationale Freihandelsabkommen GATT und die WTO außerhalb des
UN-Rahmens angesiedelt worden seien. Damit wären die internationalen Konzerne
von den Verpflichtungen zu Menschenrechten, Klimaschutz usw. entbunden worden.
Der Freihandel sei nun ohne Rücksichtnahme auf Menschenrechte, Umwelt- und
Klimaschutz rechtlich gewährleistet. Noch 1964 seien die Rahmenbedingungen
sinnvoll gewesen, die 1964 gegründete UNCTAD habe 133 Staaten umfasst und der
Freihandel sei damals unter den Rahmenbedingungen der nachhaltigen Entwicklung
als bloßes Mittel zum Zweck definiert gewesen.[7]
Das internationale Schiedsgericht,
ICSID, bestehe seit 1966 als Gericht für Konzernklagen gegen Staaten, seine
Fallzahlen seien aber erst in den 1990er-Jahren stark angestiegen. Rund 80%
aller Klagen würden von Investoren gegen Staaten erhoben und dies auf der
Grundlage von insgesamt 3.000 bilateralen Abkommen. 85% der Klagen vor dem
ICSID würden von Klägern aus Industriestaaten erhoben, auf Beklagtenseite
würden zu 75% Entwicklungsstaaten stehen.
Die Verfahren vor dem ICSID sind nicht
öffentlich. Auseinandersetzungen zwischen Staaten und Konzernen, die ganz
grundsätzliche Fragen betreffen, würden oft nur durch Indiskretionen bekannt
werden. So habe etwa ein Konzern den Staat Südafrika wegen der black
empowerment-Gesetze geklagt. Verschärft werde das Problem dadurch, dass Klagen
vor dem ICSID von monopolisierten Prozessfinanzierern für die Staaten geführt
würden. Die bekanntesten Prozessfinazierer sind Burford und Melvyn Seidel. Nun
sei auch noch geplant, Derivate, also Wettgeschäfte betreffend diese vor dem
ICSID geführten Prozesse, einzuführen.
Der Innsbrucker Rechtsanwalt und
Universitätsprofessor Hubertus Schumacher referierte zur Praxis nationaler
Schiedsgerichte und wies auf die zunehmende Bedeutung der
Schiedsgerichtsbarkeit hin, die Bedürfnissen der Wirtschaft entgegenkomme. Aus
Sicht der Wirtschaft seien die Regelungen des gerichtlichen Zivilverfahrens zu
starr. Unternehmen würden sich oft mit einer einzigen Entscheidungsinstanz
zufrieden geben – die Schnelligkeit des Verfahrens und eine unkomplizierte
Protokollierung stünden für sie im Vordergrund. Die Wirtschaft schätze zudem
die Nichtöffentlichkeit des Schiedsverfahrens, begründet mit der Wahrung von
Geschäftsgeheimnissen, aber auch mit privaten und familiären Problemen, die
nicht öffentlich werden sollen.
Schumacher hob hervor, dass es üblich
sei, dass der Schiedsrichter vor dem ersten persönlichen Verhandlungstermin
bereits Telefonkonferenzen mit den Beteiligten abhalte. Diese
Telefonkonferenzen würden die Atmosphäre sehr entkrampfen und das erste
persönliche Zusammentreffen vor dem Schiedsgericht laufe häufig entspannter und
konsensorientierter ab als vor Gericht. Eine große Stärke der
Schiedsgerichtsbarkeit sei die Protokollführung, die üblicherweise mittels
court reporter erfolge. Der Richter muss also nicht diktieren, ein
Privatunternehmen protokolliere mittels modernster Technik, das Protokoll werde
am selben Tag geliefert. Die Kosten des privaten Protokolldienstes lägen bei
EUR 5.000,-/Tag. Schließlich würden die Verfahren oft in englischer Sprache
abgewickelt.
Anhand dreier Fallbeispiele führte Schumacher
aus, dass die Schiedsverfahren häufig billiger wären als Gerichtsverfahren. Bei
einem Streitwert von 50 Millionen Euro bewege sich die Pauschalgebühr bei
Gericht für drei Instanzen um die EUR 2,7 Millionen; ein Schiedsverfahren koste
nur rund EUR 700.000,-.
Abschließend erwähnte Schumacher das so genannte
„Zürcher Modell“ in Handelssachen. Bei sehr großen Unternehmensstreitigkeiten
wurde im Zürcher Gerichtssprengel ein neues Verhandlungsmodell geschaffen.
Dabei gibt es zu jedem Verfahren einen Vortermin, zu dem zwei Richter,
fallweise auch ein Sachverständiger und die beiden CEOs zu einem
Vergleichsgespräch zusammenkommen, für das man sich den ganzen Tag frei hält. Bei
großen Unternehmensstreitigkeiten erreicht dieser Vortermin mittlerweile eine
Vergleichsquote von 60 %.
Aus Vorträgen und Diskussion ergaben
sich folgende konkrete Überlegungen zur Schiedsgerichtsbarkeit:
1) Die
Justiz könnte einzelne Elemente, die Schiedsverfahren attraktiv machen, für
sich    übernehmen: So etwa die Beiziehung
privater Schreibdienste, die die Protokollerstellung am selben Tag gewährleisten. Viele Unternehmen wären wohl
bereit, die Kosten dafür zu tragen.
2) Die
Justiz könnte eine eigene Schiedsgerichtsbarkeit anzubieten – die Parteien
würden etwa aus einer Liste geeigneter RichterInnen die SchiedsrichterInnen
auswählen.
3) In
der Wirtschaft besteht ein Bedarf nach englischsprachigen Schiedsgerichten auch
am Standort Österreich. Auch hier ist für die Justiz zu überlegen, ob man nicht
Verfahren in englischer Sprache, sei es im ordentlichen handelsgerichtlichen
Verfahren oder im Wege eines Schiedsverfahrens, anbieten möchte. Es könnten zB
englischsprachige Spruchkörper innerhalb aller Instanzen eíngerichtet werden.
4) Die Pauschalgebühr sollte nach oben
gedeckelt werden.
5) Die Einrichtung so genannter fast-track-Verfahren
ist anzudenken.
6) Bedenken bestehen dagegen, justizielle
Verfahren nicht öffentlich abzuhandeln. Die Öffentlichkeit wurde von den
SeminarteilnehmerInnen mehrheitlich als zentrales Element jedes
staatlich-gerichtlichen Verfahrens gesehen.



[1] Tiroler
Justizwerkstätte 2016: Justiz ohne Grenzen – Grenzen der Justiz –
Grenzbereiche: Fortbildungsveranstaltung des Präsidenten des OLG Innsbruck vom
2.-5.10.2016.
[2] Darüber
hinaus
möchte ich dem Präsidenten des OLG Innsbruck Klaus
Schröder, dem Vizepräsidenten des OLG Innsbruck Wigbert Zimmermann und dem
Leiter der Fortbildung des OLG Innsbruck Klaus-Dieter Gosch für die Einladung
zur Mitgestaltung des Seminars und die freundschaftliche und anregende
Zusammenarbeit herzlich danken.
[3] Vgl. ua. Menz, Florian / Strouhal, Ernst (1985):
Sprechen Sie Amtsdeutsch? Zur Reform bürokratischer Sprache durch
Schulungskonzepte für Beamte. Wiener Linguistische Gazette 35 36: 57 73; Wodak,
Ruth/Menz, Florian/Lalouschek, Johanna (1989): Sprachbarrieren. Die
Verständigungskrise der Gesellschaft. Wien: Edition Atelier; Wodak, Ruth:

Bürgernahe Gesetzestexte in Niederösterreich. Wien, Niederösterreichische
Landesregierung, 1983 (mit H.Blüml, E.Huk, V.Krammer, V.Liehr, H.Ott,
O.Pfeiffer, H.Salaun und L.Staudigl); Wodak, Ruth: Bürgernahe Gesetzestexte.
In: H. Neisser/C.Frieser (Hsg.): Hilflos im Paragraphendschungel, Wien: Verlag
Medien und Recht, 1992, 69-78.
[4]
Zu Verständlichkeit/Lesbarkeitsindizes:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lesbarkeitsindex
und zu SMOG (Single Measure of Gobbledygook)
https://en.wikipedia.org/wiki/SMOG
(Stand 3.11.2016).
[5]
„Innsbruck spricht auf Augenhöhe“ (Leitfaden) –
https://www.ibkinfo.at/ibk-spricht
(Stand 3.11.2016).
[6]
Biographie: Pamela Pabst – Ich sehe das, was ihr nicht
seht, Hanser Berlin (2014)
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ich-sehe-das-was-ihr-nicht-seht/978-3-446-24505-1/ (Stand: 3.11.2016).
[7]
Felber spannte einen Bogen zu Aristoteles, der die Dichotomie zwischen Ökonomie
und Chrematistik herausgearbeitet habe. Ökonomie habe im Modell des Aristoteles
das „gute Leben für alle“ bedeutet, während die Chrematistik das Gegenmodell
bezeichnet, in dem die Ökonomie pervertiert und Geld Selbstzweck und nicht
Mittel zum Zweck ist. In Felbers System ist der heutige Kapitalismus zum
Synonym für die Chrematistik geworden.
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Ein Blick zurück auf 2006 – die Kritik an Armin Wolf meint in Wirklichkeit den unabhängigen, kritischen Journalismus

Manchmal ist es aufschlussreich, in alten Texten zu blättern. Man vergisst ja schnell, wie zB der ORF vor 12, 13 Jahren ausgesehen hat. Heute ist der ORF-Informationsbereich weitgehend frei von Gerüchten über politische Interventionen. Die Informationssendungen präsentieren sich frisch und zeitgemäß, Sendungen wie die Zib2 oder das Ö1-Mittagsjournal werden nicht zu Unrecht zu den führenden Formaten des deutschen Sprachraums gezählt.

In den Jahren bis 2006 – parallel zur schwarz-blauen Regierungszeit – war das anders. Die Namen Mück und Lindner standen für eine bleierne Zeit der ORF-Information, der politische Druck und die ständigen Zurufe der Politik waren den Sendungen regelrecht anzusehen.  Der Sturz dieses Systems kam dann eher plötzlich und überraschend. Die Dankesrede Armin Wolfs bei der Verleihung des Robert-Hochner-Preises rüttelte doch einige entscheidende Personen wach, sodass ein Machtwechsel im ORF zustande kam. Wie immer man zu Alexander Wrabetz steht, seit er den ORF führt, konnte die ORF-Information weit freier agieren als davor. Und neben Armin Wolf traten immer weitere Namen, die heute für professionellen, couragierten Fernseh- und Radiojournalismus stehen und kritische Berichte und Interviews garantieren. Die Rede Armin Wolfs bei der Hochner-Preis-Verleihung war wohl für viele eine Ermutigung.

Armin Wolf hat zwischenzeitlich über Österreich hinaus so viel an Anerkennung und Würdigung durch Fachpreise erfahren, dass es lachhaft ist, ihm journalistische Qualität abzusprechen. Die eher plump vorgetragenen Angriffen auf Wolf zielen, genau so wie die vorangehenden Anwürfe gegen den falter in Folge der Berichterstattung über die Pröll-Privatstiftung, auf den unabhängigen Journalismus an sich. Eine Allianz restaurativer Kräfte aus verschiedenen Ecken  will das Angstklima und die Provinzialität wiederherstellen, die vor 2006 herrschten. Dass die Kritik an Wolf jetzt gerade aus St. Pölten und dem rot-blauen Eisenstadt kommt zeigt, woher der Wind weht. 


Österreichs Zivilgesellschaft hat sich seit 2006 weiter entwickelt, das Land ist moderner und lebhafter geworden. Man muss diese Angriffe auf den unabhängigen Journalismus ernst nehmen, dann wird es auch ein Leichtes sein, sie zu demaskieren und abzuwehren. Mein nachstehender Text für die Zeitschrift juridikum aus dem Jahr 2006 bleibt dann hoffentlich ein Dokument einer vergangenen Zeit.

____


juridikum Heft 3/2006

Wider die Diktatur der Mittelmäßigen

Armin Wolfs couragierte Rede zur Lage des ORF war
nicht umsonst
  
Rund vier Monate ist es her, dass ORF-Chefreporter
Armin Wolf in der Hofburg den Robert-Hochner-Preis 2006 verliehen bekam. In
seiner Dankesrede machte sich Wolf Gedanken über die Struktur des ORF und die
politische Einflussnahme auf das Unternehmen; er zitierte im wesentlichen
früher geäußerte Kritik von Robert Hochner und Heinrich Neisser und forderte
innere Pluralität im ORF ein. Dass diese Pluralität derzeit am Küniglberg nicht
zu Hause ist, kann der aufmerksame Gebührenzahler täglich beobachten – lauwarm
ist eine für die politische Berichterstattung noch milde Bezeichnung, wenn man
sich an so manche Report- oder Offen gesagt-Sendung erinnert. Die
schmeichelweiche Interviewführung hat im Laufe der Jahre zum Quotenabsturz der
ORF-Sommergespräche geführt. Im Jahr 2005 hat die ORF-Führung Armin Wolf ins
Abenteuer „Sommergespräche“ geschickt und siehe da – Wolf ging akribisch
vorbereitet in die Interviews, fragte kritisch, entlarvte Politikerlügen und
ließ seine Gegenüber mitunter traurig aussehen. Ohne die Leistung Wolfs zu
schmälern – das allgemeine Erstaunen und das öffentliche Lob für seine
Interviewführung machten zugleich deutlich, dass man es in Österreich schlicht
nicht mehr gewohnt ist, dass ein Journalist kritische Fragen stellt. Es gibt
kaum einen Diskurs im Land, weder im Fernsehen, noch in Printmedien – es
bestehen ja auch kaum mehr Printmedien, die sich zur Diskursführung anbieten
würden. Gratis-U-Bahn-Zeitungen sind das Symbol eines dumpfen Provinzialismus.

In den letzten Jahren wird Kritik an Politikern und
öffentlichen Stellen regelmäßig als Nestbeschmutzung ausgelegt; wer eine
effiziente Bewachung wertvoller Werke im Kunsthistorischen Museum einfordert
oder gar, dass auch der Finanzminister Steuern zahlen und Bauordnungen achten
möge, wagt sich schon weit hinaus. Wer selbstbewusst wesentliche Fragen
anspricht, löst Verstörung im Land aus. Bezeichnend zuletzt der Wirbel um Tony
Palmers Dokumentarfilm „The Salzburg Festival“ – ein kritischer Film wird zum
Schrecken der an Hofberichterstattung gewöhnten Provinzgrößen. 

Armin Wolf hat in seiner Rede darauf hingewiesen, dass
gerade ein – im Fernsehinfobereich immer noch – Monopolist wie der ORF auf
innere Pluralität angewiesen ist, wenn er seine Rolle in der Gesellschaft,
Information und kritische Beleuchtung der Geschehnisse, erfüllen soll. Das gilt
in einem kleinen Land in besonderem Ausmaß – nicht nur für den ORF, sondern für
alle geschlossenen Systeme: für staatspolizeiliche Dienste genau so wie für
Justiz, öffentliches Gesundheits- und Bildungswesen usw. Diese Systeme bedürfen
nicht nur der permanenten Kontrolle von außen, sondern auch von innen. Fehlt es
an der inneren Kontrolle, an einer gewissen Selbstreinigungskraft, dann kommt
es zu Fehlentwicklungen der Systeme wie zuletzt in Deutschland, wo der
Bundesnachrichtendienst Journalisten anheuerte, um andere Journalisten
bespitzeln zu lassen.

Journalisten, Ärzte, Polizisten,
Universitätsprofessoren und andere, die ihre Arbeitsbedingungen im einen oder
anderen Aspekt als unbefriedigend empfinden, ziehen es in Österreich zu oft
vor, hinter vorgehaltener Hand zu jammern. Ängstlichkeit und Apathie herrschen
dort, wo ein klein wenig Zivilcourage helfen könnte, das eigene Umfeld, den
eigenen Alltag spannender und attraktiver zu machen. Der hineingefressene Frust
macht den Einzelnen krank; für die Gesellschaft insgesamt ist die seltsame
Passivität verhängnisvoll. Die Rückmeldungen der Ärzteschaft und des
Pflegepersonals über Entwicklungen auf dem Gesundheitssektor sind für den
gesellschaftlichen Fortschritt ebenso wichtig wie Berichte der Professoren über
den Zustand der Universitäten. Nur im Dialog und Diskurs der Experten können
die öffentlichen Einrichtungen weiterentwickelt werden. Das Schweigen aller zu
allem führt dagegen – siehe ORF – zur Diktatur der Mittelmäßigen. Die Zustände
im ÖGB sind ein weiteres gutes Beispiel dafür – in welchem anderen Land würde
die Masse der zum Kollektivvertrag arbeitenden, so genannten kleinen Leute
zusehen, wie eine Hand voll gieriger und unfähiger Funktionäre den über
Jahrzehnte angesparten Streikfonds verjuxt?

Armin Wolf hat in seiner Rede auf eine neue Intensität
politischer Einflussnahme  auf den ORF
hingewiesen. Er hat sich für einen unabhängigen, kritischen, engagierten
Journalismus ausgesprochen und damit Selbstverständliches formuliert – dass
eine solche Äußerung Mut erfordert, ist ein Indiz für die Berlusconisierung des
Landes. Gleichzeitig muss man aber mit der Mär aufräumen, dass jede kritische
Äußerung gefährlich, ja existenzbedrohend sei. Beispiele von Werner Vogt über
Robert Hochner bis zu Franz Küberl belegen, dass die Verbindung von kritischem
Geist und aufrechter Haltung Karrieren vielleicht verlangsamen, aber nicht
stoppen kann. Armin Wolfs Mut hat sich gelohnt – er führte dazu, dass viele
Journalistinnen und Journalisten im ORF den lange in sich getragenen Unmut
artikulierten; er führte zu einem Bericht über Chefredakteur Mück, der weniger
von sich selbst eingenommene Personen wie Mück und Lindner zum freiwilligen
Rückzug bewegt hätte. Wolf hat den Stein ins Rollen gebracht, der zu einer
neuen Geschäftsführu
ng für den ORF geführt hat und Hoffnung auf ein
offeneres Klima im ORF gibt. Für Österreich muss man sich viele Nachahmer Wolfs
für alle gesellschaftlichen Bereiche wünschen!
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Filippo Cogliandro: Botschafter der schutzgeldfreien Gastronomie

In seiner italienischen Heimat ist Filippo Cogliandro ein Star der Zivilgesellschaft. Der Spitzenkoch, Inhaber des Lokals L`Accademia nahe Reggio Calabria, setzte sich gegen die verbreiteten Schutzgelderpressungen in der Gastronomie zur Wehr. 2008 erstattete er Anzeige gegen die Schutzgelderpresser in seinem Heimatort. Mit der Initiative „Cene della legalità“ („Speisen für die Legalität“) tourt er nun seit Jahren durch Italien und Europa.
Heute Abend war Filippo Cogliandro auf Einladung des neuen Leiters des Italienischen Kulturinstituts, Dr. Fabrizio Iurlano, zu Gast in Wien. Nach einer Theateraufführung im Kulturinstitut präsentierte er seine Initiative und eröffnete ein vielfältiges Buffet. Es geht ihm heute, wie er ausführte, vor allem darum, mit dem Klischee Kalabriens zu brechen. Die Mafia mache ihre Geschäfte in Reggio ebenso wie in Mailand, Wien und Berlin. Ihm sei wichtig, die Stärken und Vorzüge seiner Heimat zu präsentieren. Dazu zähle eine starke Zivilgesellschaft, die offen gegen die organisierte Kriminalität vorgehe. Er lade alle dazu ein, sich vor Ort davon in Reggio zu überzeugen und die Schönheit der Region kennenzulernen.
Filippo Cogliandro (li)

V.l.: der Direktor des Kulturinstituts Dr. Fabrizio Iurlano,
Filippo Cogliandro und Mitarbeiter, der Botschafter
der Republik Italien in Österreich Giorgio Marrapodi

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Text für Mosaik: Wie Sobotka an der Orbanisierung Österreichs arbeitet

Text für Mosaik vom 7.2.2017
Der Innenminister hat angekündigt, das Demonstrationsrecht deutlich einschränken zu wollen. Mittlerweile ist er zwar in einigen Punkten zurückgerudert. Seine Vorschläge sind trotzdem klar verfassungswidrig und greifen in ein Grundrecht ein, ohne das Demokratie aufhört, eine solche zu sein: Der Vorstoß trägt eine autoritäre Handschrift.
Was genau hat der Innenminister letzte Woche vorgeschlagen? Im Kern stehen drei „Neuerungen“, mit denen Wolfgang Sobotka das Versammlungsrecht, wie wir es heute kennen, tiefgreifend umwälzen möchte: Zum ersten seien Demonstrationen zu verbieten, wenn Geschäftsinteressen bedroht sind. Zum zweiten sollen künftig „VersammlungsleiterInnen“ für zivilrechtliche Schäden, die während der Demonstration entstehen, haftbar sein. Und zum dritten soll die Anmeldefrist für Demonstrationen von 24 auf 72 Stunden verlängert werden.
Die Sicherheitssprecher der Regierungsparteien zeigten sich am Abend des Vorschlages gesprächsbereit. Die nötige heftige Kritik setzte am folgenden Tag ein – die Justizsprecher von SPÖ und Grünen sowie mehrere Verfassungsexperten und NGOs wiesen das Ansinnen des Innenministers zurück und bezeichneten es als das, was es ist: ein Anschlag auf ein zentrales Grundrecht.

Wie ist das Vorgehen des Innenministers zu bewerten?

Das Demonstrationsrecht wurde historisch hart erkämpft – unter kräftiger Mitwirkung des Bürgertums. Umso bemerkenswerter ist es, wenn nun konservative Kreise seine Einschränkung fordern. Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht ist eine der zentralen Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, Haltungen, Meinungen und Kritik außerhalb der Wahlzelle zu artikulieren. Es ist somit ein wichtiges Mittel der politischen Beteiligung.
Es kann Regierende nach umstrittenen oder falschen Entscheidungen zum Umdenken veranlassen. Es bietet Minderheiten die Möglichkeit, auf die sie betreffenden Problemlagen und Interessen hinzuweisen. Es gibt Mehrheiten die Gelegenheit, sichtbar zu werden – wie etwa im Fall des Lichtermeers. In Österreich nutzten soziale Bewegungen nach 1945 das Demonstrationsrecht nicht zuletzt, um für Umweltanliegen zu kämpfen – so etwa bei Protesten gegen den Bau von Kraftwerken.
An der im Jahr 2000 angelobten schwarz-blauen Regierung kann viel kritisiert werden. Auch wenn dies unter Druck einer europäischen Öffentlichkeit geschah, muss der damaligen Regierung und ihrem Innenminister jedoch ihr souveräner Umgang mit den monatelangen Demonstrationen zugutegehalten werden. Dies gilt umso mehr, als sich die Demonstrationen gegen die Regierung richteten. Damals setzten Innenministerium und Polizei positive Standards in Sachen Deeskalation und Gewährleistung des Demonstrationsrechts.
Die Vorschläge Sobotkas laufen auf keine Einschränkung, sondern die de-facto-Abschaffung des Demonstrationsrechts hinaus. Kein denkender Mensch übernimmt die Haftung für eine Versammlung, an der tausende ihm nicht bekannte Menschen teilnehmen. Jeder und jede einzelne böswillige TeilnehmerIn kann mit ein paar eingeschlagenen Scheiben oder Autos den oder die VersammlungsleiterIn finanziell ruinieren.
Die Abwägung mit Geschäftsinteressen bei starker Beachtung der Geschäftsinteressen ist genauso absurd wie die Beschränkung der Orte für Demonstrationen. Es gehört zum Kern des Versammlungsrechts, dass Protestveranstaltungen an symbolhaften Orten stattfinden können. Wenn ich gegen die Regierung demonstrieren möchte, muss das in der Nähe des Regierungssitzes möglich sein. Eine Kundgebung gegen die Politik eines anderen Landes muss in der Nähe von dessen Botschaft stattfinden können. Müssen Demonstrationen abseits symbolischer Orte stattfinden, verlieren sie ihren Sinn und werden wirkungslos.
Die Vorschläge des Innenministers zur Einschränkung des Demonstrationsrechts sind einzeln und in ihrer Gesamtbetrachtung klar verfassungswidrig – und zwar in einer Intensität, dass man die Pläne nur als absurd bewerten kann. Dass der Minister seine Vorschläge am Vorabend einer Demonstration unterbreitet, bei der Menschen gegen die extreme Rechte protestieren, wird kein Zufall sein. Der Minister muss sich daher den Vorwurf des Einschüchterungsversuchs und der Sympathiebekundung für die tanzenden Rechten gefallen lassen.

Vorhandene Spielräume sensibler nutzen

Bereits jetzt haben die Behörden die gesetzliche Möglichkeit, anlässlich von Versammlungen Platzverbote auszusprechen und Versammlungen und Demonstrationen nur unter verschiedensten Auflagen zu bewilligen. Die Höchstgerichte haben in den letzten Jahren wiederholt festgestellt, dass die Polizei bei diesen Auflagen zu weit gegangen ist und die Garantien der Verfassung für die Versammlungsfreiheit verletzt hat.
Wir benötigen also keine neuen Beschränkungen, sondern im Gegenteil mehr Respekt der Polizei und eine umsichtigere Vorgangsweise bei der Ausübung des derzeit bestehenden Ermessens. Über einen weiteren Vorschlag – die Verlängerung der Anmeldefrist – kann man zwar diskutieren, rechtlich ist er jedoch weitgehend irrelevant. Denn die Verfassung erlaubt jederzeit spontane Versammlungen und Demonstrationen.
Die Vorschläge des Ministers bewirken also lediglich eine Vergiftung des Klimas. Österreich hat eine Konsenskultur mit einigen Vorteilen. Dazu gehört, dass Polizei und Demonstrations-OrganisatorInnen die Details einer Demo im Interesse aller vorab besprechen können. So können etwa Wegrouten abgestimmt werden, was auch vielfach geschieht.

Eine autoritäre Grenzüberschreitung?

Politisch hat der Innenminister mit seinen Vorschlägen gleich mehrere Grenzen überschritten. Das Amt des Innenministers erfordert eine Sensibilität für Verfassung und Grundrechte. Inhalt und Ton von Sobotkas Vorgehen lassen seit seinem Amtsantritt diese Sensibilität vermissen und zeugen von einem grundsätzlichen Unverständnis für verfassungsrechtliche Standards.
Dazu kommen symbolische Gesten, die nicht gerade von Respekt für demokratische Werte zeugen, etwa wenn er als Wahlleiter der Präsidentschaftswahl am Wahltag zu einer Talk Show nach Deutschland reist. Der Minister erzeugt laufend Unsicherheit und Verunsicherung in der Bevölkerung, indem er Probleme aufbauscht oder überhaupt erst herbeiredet. Die von ihm selbst erzeugte Verunsicherung nützt der Minister, um immer neue Beschränkungen der Grundrechte vorzuschlagen.
Dadurch verschiebt sich auch die verfassungsrechtliche Mitte. Immer abwegigere Vorschläge werden auf einmal auch von anerkannten ExpertInnen ernsthaft diskutiert. Man muss es in dieser Klarheit sagen: Die jüngsten Vorschläge Sobotkas laufen auf Maßnahmen hinaus, die im Falle der Türkei, Ungarns und Polens breit kritisiert werden. Sobotkas Politikzugang trägt dieselbe Handschrift wie jener Trumps oder Erdogans: Was sie stört, wird verboten. Punkt.
Oliver Scheiber ist Jurist und in diversen zivilgesellschaftlichen Initiativen tätig. Er publiziert regelmäßig in Fach- und Tagesmedien zu Justiz- und Grundrechtsfragen.

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