Verhetzung und Landfriedensbruch: Reformvorschläge

1) Verhetzung (§ 283 StGB)

Der
Tatbestand der Verhetzung findet sich seit Inkrafttreten des aktuellen
Strafgesetzbuches 1975 im Gesetz. Er stellt die Hetze gegen bestimmte
Bevölkerungsgruppen und den Aufruf zur Gewalt gegen diese Gruppen unter Strafe.
Nach heutigem Verständnis handelt es sich beim Verhetzungstatbestand um ein
Element des Antidiskriminierungsrechts. So sieht das österreichische Recht vor,
dass Job- und Wohnungsinserate neutral formuliert sein müssen und keine
diskriminierenden Kriterien enthalten dürfen. Die gesamte staatliche Verwaltung
ist zur Gleichbehandlung der Bürger ohne Unterschied nach Herkunft, Hautfarbe,
Sprache oder Weltanschauung verpflichtet. Abgerundet werden diese
Antidiskrimierungsbestimmungen durch den strafrechtlichen Tatbestand der
Verhetzung, der aktuell Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren vorsieht.

Der
Tatbestand der Verhetzung steht seit längerer Zeit in der Kritik.
Internationale Evaluierungen wiesen immer wieder auf die im Ländervergleich
geringe Zahl der Verurteilungen hin (aktuelles Datenmaterial laut parlamentarischer Anfragebeantwortung 2014 hier). 
Zuletzt wurde eine Verschärfung des
Straftatbestands zur Bekämpfung radikaler islamistischer Gruppen gefordert.
Noch länger steht die aktuelle Gesetzesbestimmung in der Kritik der
mangelhaften Wirksamkeit gegen rechtsextreme Hetzparolen und gegen rassistische Aktivitäten.

Eine
Reform des Verhetzungsparagrafen erscheint geboten. Die aktuelle Bestimmung
weist mehrere Schwachstellen auf und erfüllt ihren Zweck der Abwehr
gesellschaftlicher Aufwiegelung nur unzureichend. 

Der
aktuelle Text des § 283 StGB lautet:

„§
283 StGB Verhetzung

(1)
Wer öffentlich auf eine Weise, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu
gefährden, oder wer für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar zu Gewalt gegen
eine Kirche oder Religionsgesellschaft oder eine andere nach den Kriterien der
Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der
Staatsangehörigkeit, der Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft,
des Geschlechts, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung
definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe
ausdrücklich wegen dessen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe auffordert oder
aufreizt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

(2)
Ebenso ist zu bestrafen, wer für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar gegen
eine in Abs. 1 bezeichnete Gruppe hetzt oder sie in einer die Menschenwürde verletzenden
Weise beschimpft und dadurch verächtlich zu machen sucht.“

Zunächst
sollten die geschützten Personengruppen erweitert werden. Den bereits jetzt
geschützten Gruppen sollten alle sonstigen Minderheiten gleichgestellt werden.
Zu prüfen wäre, ob der Terminus der „Rasse“ noch zeitgemäß ist. Da
Religionen und Weltanschauungen im Schutzbereich des Tatbestands liegen erübrigt es sich, K
irchen oder und Religionsgemeinschaften zusätzlich anzuführen. 

Zentraler
Schwachpunkt des Absatz 1 ist jedoch die Passage „öffentlich auf eine Weise,
die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu gefährden, oder wer für eine
breite Öffentlichkeit wahrnehmbar…“. Der Aufruf zur Gewalt gegen andere
Bevölkerungsgruppen ist eine schwere Störung der gesellschaftlichen Ordnung,
die strafbar sein soll. Sie gefährdet per se die öffentliche Ordnung. Auch
Diebstahl, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung sind immer
strafbar, ohne dass gesondert geprüft wird, ob die konkrete Tat die öffentliche
Ordnung gefährdet. Eine solche Prüfung ist auch bei der Verhetzung überflüssig;
sie schränkt die Anwendung der Bestimmung zu sehr ein. Dasselbe gilt für das
Kriterium der „breiten Öffentlichkeit“, das von der Rechtsprechung bei einem
Personenkreis ab etwa 150 Personen angenommen wird. Auch Botschaften, die im
kleinen Kreis verbreitet werden, haben ein Gefährdungspotenzial; umso mehr, als
sie heute mittels technischer Mittel (social media wie Facebook und Twitter,
Youtube usw) sehr schnell an einen großen Kreis von Menschen weitergeleitet
werden können. Die „breite Öffentlichkeit“ sollte daher aus dem Tatbestand
gänzlich entfallen.

Absatz
2 des Tatbestands stellt die Hetze unter Strafe. Hier kommt es bei der
Beschimpfung darauf an, ob dadurch eine Verächtlichmachung angestrebt wird und
ob die Beschimpfung in einer „die Menschenwürde verletzenden Weise“ erfolgt.
Auch diese Beschränkungen sind überflüssig: es ist ja keine öffentliche
Beschimpfung von Gehörlosen oder Menschen einer bestimmten Hautfarbe denkbar,
die die Menschenwürde nicht verletzt und nicht mit einer Verächtlichmachung
einhergeht.

Die
Europäische Union hat 2008 alle Mitgliedstaaten verpflichtet, rassistische und
fremdenfeindliche Straftaten unter Strafe zu stellen, und zwar durch den Rahmenbeschluss 2008/913/JI vom 28.11.2008 zur strafrechtlichen
Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt 2008 L 328/55
). In Artikel 1 des Rahmenbeschlusses
heißt es unter anderem:

„…(1)   Jeder
Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass
folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden:
a)
die
öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine nach den Kriterien
der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische
Herkunft definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen
Gruppe;

b)
die
Begehung einer der in Buchstabe a genannten Handlungen durch öffentliche
Verbreitung oder Verteilung von Schriften, Bild- oder sonstigem Material;…“

Der
Rahmenbeschluss ermöglicht es den Staaten, nur solche Handlungen unter
Strafe zu stellen, die in einer Weise begangen werden, die geeignet sind, die
öffentliche Ordnung zu stören, oder die Drohungen, Beschimpfungen oder
Beleidigungen darstellen.

Bei
einer Reform des Verhetzungstatbestands erscheint eine Anhebung der
Strafobergrenze auf drei Jahre sachgemäß. Dies bedeutet eine Angleichung an die
Strafe beim Tatbestand des Widerstands gegen die Staatsgewalt. Bei der
Formulierung ist es nahe liegend, den Begriff des „Hasses“ aufzugreifen, den
auch das Europäische Recht verwendet.

Im Sinne dieser Überlegungen und die modernen technischen Möglichkeiten von
Verhetzungshandlungen bedenkend könnte § 283 StGB folgendermaßen reformiert
werden:

„§
283 StGB Verhetzung

Wer
gegen eine nach den Kriterien der Hautfarbe, der Herkunft, der Sprache, der
Religion oder Weltanschauung, der Staatsangehörigkeit, der Abstammung oder
nationalen oder ethnischen Herkunft, des Geschlechts, einer Behinderung, des
Alters oder der sexuellen Ausrichtung definierte Gruppe von Personen, gegen
eine sonstige Minderheit, oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe bzw
Minderheit hetzt, oder eine dieser Gruppen oder eines ihrer Mitglieder unter
Bezugnahme auf die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe beschimpft, ist mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen. Ebenso ist zu bestrafen, wer
zu Gewalt oder Hass gegen eine dieser Gruppen oder ihre Mitglieder aufruft.
 
Die
Tat ist nur strafbar, wenn sie öffentlich erfolgt. Dabei macht es keinen
Unterschied, ob die Tat direkt vor anderen erfolgt oder im Wege von Schriften,
Bildern oder über elektronische und sonstige Medien, die eine Verbreitung der
Botschaft erwarten lassen.“

Zu überlegen wäre allenfalls eine Entschärfung (Privilegierung) für jene Fälle, in denen Beschimpfungen im Zuge eines Streits in einem kleineren Rahmen erfolgen (Bassenastreitigkeiten).


2) Landfriedensbruch (§ 274 StGB)

Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs fand zuletzt im Zusammenhang mit Demonstrationen und Fussballspielen Anwendung. Dies stieß öffentlich und in Fachkreisen auf Kritik, da eine Ausuferung der Anwendung der Strafbestimmung und eine Einschränkung des Demonstrationsrechts befürchtet wurde. Umgekehrt steht es mit sonstigen Strafdrohungen des Strafgesetzbuches in Widerspruch, dass die Organisation von Menschenansammlungen, die auf einen Mord abzielen, bloß mit drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist.
Aktuell lautet § 274 StGB (Landfriedensbruch):

„(1) Wer wissentlich an einer Zusammenrottung einer Menschenmenge teilnimmt, die darauf abzielt, daß unter ihrem Einfluß ein Mord (§ 75), ein Totschlag (§ 76), eine Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schwere Sachbeschädigung (§ 126) begangen werde, ist, wenn es zu einer solchen Gewalttat gekommen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

(2) Wer an der Zusammenrottung führend teilnimmt oder als Teilnehmer eine der im Abs. 1 angeführten strafbaren Handlungen ausführt oder zu ihrer Ausführung beigetragen hat (§ 12), ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

(3) Nach Abs. 1 ist nicht zu bestrafen, wer sich freiwillig aus der Zusammenrottung zurückzieht oder ernstlich zurückzuziehen sucht, bevor sie zu einer Gewaltanwendung geführt hat, es sei denn, daß er an der Zusammenrottung führend teilgenommen hat.“

Im Lichte der aktuellen Diskussion könnte der Straftatbestand folgendermaßen neu formuliert und auf seine ursprüngliche Zielsetzung zurückgeführt werden:

„(1) Wer eine Menschenansammlung mit dem Vorsatz organisiert, dass unter ihrem Einfluss ein Mord (§ 75), ein Totschlag (§ 76), eine Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schwere Sachbeschädigung (§ 126) begangen werde, ist, wenn es zu einer solchen Tat gekommen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen. Ebenso ist zu bestrafen, wer mit diesem Vorsatz Führungs- und Leitungsaufgaben in der Ansammlung übernimmt oder eine aus anderen Motiven entstandene Versammlung dazu missbraucht aktiv darauf hinzuwirken, dass unter ihrem Einfluss ein Mord (§ 75), ein Totschlag (§ 76), eine Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schwere Sachbeschädigung (§ 126) begangen wird.

(2) Wer an einer solchen Menschenansammlung bloß teilnimmt ist nur dann strafbar, wenn die Teilnahme mit dem Vorsatz erfolgt, die Begehung eines Mordes (§ 75), eines Totschlags (§ 76), einer Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schweren Sachbeschädigung (§ 126) zu befördern und wenn es tatsächlich zu einer solchen Tat kommt. In diesem Fall ist die Teilnahme, wenn sie nicht nach anderen Bestimmungen strenger zu bestrafen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.“

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Die Sprachlosigkeit der Justizverwaltung – Kommentar der Anderen für die Tageszeitung Der Standard am 8.9.2014

Von Oliver Scheiber
 
Richter(schaft) und
Journalisten sind sich in den letzten Wochen wenig schuldig geblieben.
Gegenseitig wurden Personalauswahl und Qualität der Arbeit in Frage gestellt.
Unmittelbarer Anlass war das Strafverfahren gegen den Demonstranten Josef S.
Kritik an der Justiz kam auch von ausländischen Qualitätsmedien wie ARD, ZDF,
Spiegel und Neuer Zürcher Zeitung.
 
Die Rahmenbedingungen von
Rechtsprechung haben sich in den letzten Jahren massiv verändert. Im Strafrecht
ist die Sanktionenpalette breiter, im Familienrecht sind mediative und
sozialarbeiterische Elemente wichtig geworden. Einer mitunter aggressiven Litigation-PR,
also Öffentlichkeitsarbeit von Verdächtigen und Verfahrensparteien, kann die
Justiz auf Grund ihrer Verpflichtung zur Sachlichkeit oft nur beschränkt etwas
entgegensetzen. Früher gab es ab und zu einige Zuhörer im Gerichtssaal. Nun
sind zwar Fernsehübertragungen von Verhandlungen nach wie vor unzulässig, doch
Journalisten und Aktivisten berichten über Twitter und Liveticker im Internet
aus dem Gerichtssaal. Sie erreichen in Sekundenschnelle tausende Leser. Sie
nennen die Namen von Richtern und Staatsanwälten und deren vermeintliche und
tatsächliche Fehler. Dies schafft einerseits verfahrensrechtliche Probleme
(Zeugen sollen zB die Aussagen früher vernommener Personen nicht kennen) und es
erhöht den Druck, unter dem Richter und Staatsanwälte in öffentlichkeitswirksamen
Fällen ohnedies stehen.
 
Viele Richter und Staatsanwälte kommen mit diesem Druck zurecht. Denn die heutige Generation von Richtern und Staatsanwälten ist wesentlich besser ausgebildet, sozial kompetenter und engagierter als vorangehende Generationen.
 
Die Bevölkerung erwartet sich von der Justiz heute eine offene, leicht verständliche, nicht länger abgehobene Erklärung der Arbeit von Gericht und Staatsanwaltschaft; nicht nur im einzelnen Verfahren, auch im Großen. In den letzten Jahren wurden viele Richter und Staatsanwälte in Pressearbeit geschult. Richter besuchen Schulklassen, um Jugendlichen die Rechtsprechung näher zu bringen. Verfassungsgerichtshof und Oberster Gerichtshof verfügen über zeitgemäße Internetauftritte. Auf ein Social Media Management, wie es etwa die Universität Wien eingerichtet hat, verzichtet die Justiz bislang noch. 
 
Richter und Staatsanwälte waren lang in einem Elfenbeinturm tätig. Mittlerweile sind Journalisten regelmäßig Vortragende und Diskutanten in Justizseminaren. Die Entfremdung der letzten Wochen zwischen Medien und Justiz deutet darauf hin, dass diese Begegnungen das Verhältnis zueinander nicht wirklich entkrampft haben. Einerseits lösen Medien nach wie vor Ängste aus; Teile der Justiz sehen die Medien zudem offenkundig nicht als gleichberechtigt und finden auch keinen Draht zur Zivilgesellschaft.
 
Der moderne Rechtsstaat lebt von checks and balances, von der wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten. Bei der Rechtsprechung und damit Bewahrung des Rechtsfriedens steht die Justiz nicht über, sondern neben Gesetzgebung und Verwaltung. Die Rolle der Medien als public watchdog wiederum hat der Oberste Gerichtshof in mehreren Entscheidungen betont. Tatsächlich sind viele prominente Strafverfahren der Zweiten Republik nur auf Druck der Medien eingeleitet oder weitergeführt worden: von AKH-, Noricum- und Lucona-Affäre in den 1970er/80er-Jahren bis zu den jüngeren Causen Eurofighter, BUWOG oder Birnbacher. 
 
Medien sind daher im Rechtsstaat nicht die Gegner, sondern die natürlichen Verbündeten der Strafjustiz. Beispielhaft zeigt die Korruptionsbekämpfung dieses Zusammenspiel. Nicht selten nimmt die Justiz von den Medien aufgeworfene Bälle auf. Umgekehrt gab es auch Perioden eines schwächelnden Aufdeckungsjournalismus, in denen die Justiz durch konsequente Ermittlungen auffiel. Die Arbeit der kompetenten Generation von Aufdeckungsjournalistinnen und –journalisten, über die Österreich heute verfügt, ist für den Rechtsstaat enorm wichtig – und das ist gerade auch aus Sicht der Rechtsprechung anzuerkennen. Medien und Strafjustiz funktionieren wie kommunizierende Gefäße, zwei Spieler im demokratischen Gefüge, die sich gegenseitig ergänzen. Natürlich existiert auch ein wenig fakteninteressierte Boulevardjournalismus; man muss ihn nehmen wie er ist, in den Schranken des Medienrechts.
 
Die letzten Wochen haben eine Sprachlosigkeit der Justizverwaltung offenbart. Das ist schade. Denn die österreichische Justiz liegt in vielen Bereichen (nicht nur bei der – im Vergleich kurzen –  Verfahrensdauer) im europäischen Spitzenfeld. Studien von Europarat und EU bestätigen dies regelmäßig. Defizite in der Medienarbeit, mangelnde Kommunikation führen dazu, dass diese Leistungen zu wenig ins öffentliche Bewusstsein dringen. 
 
Mediale Kritik an der Justiz ist freilich trotzdem legitim. Richter und Staatsanwälte sind von der Verfassung  mit viel Macht ausgestattet, sie greifen täglich in Schicksale ein. Dass sich eine solche Tätigkeit der öffentlichen Kontrolle stellt, ist eine Selbstverständlichkeit – deshalb sind ja Gerichtsverhandlungen öffentlich. Die gedankliche Konstruktion einer Sonderrolle für die Justiz, wie sie mitunter anklingt, wäre eine Anmaßung.
 
Eine kluge Justizverwaltung wird den Weg der Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit weitergehen, PR-Profis in die tägliche Medienarbeit einbinden und sich offensiv in einer der Rechtsprechung angemessenen Form erklären – Medienarbeit ist eine Bringschuld der Justiz gegenüber der Öffentlichkeit. Mediale Kritik ist grundsätzlich bedenkenswert. Im Fall Josef S. hätte wohl eine zeitgerechte, professionell kommunizierte kurze Klarstellung einer höheren Justizstelle zum unbestrittenen Wert der Demonstrationsfreiheit viele Zweifel zerstreut und die mediale Eskalation verhindert.
Richter bzw Staatsanwälte und
Journalisten sollten verbal rasch wieder abrüsten – beide erfüllen wichtige
Aufgaben und verdienen dennoch keinen Sonderstatus. Begegnen sie einander mit
Respekt, wird es nicht nur dem Rechtsstaat, sondern auch dem Ansehen beider
Berufsgruppen in der Bevölkerung gut tun.
Der Autor gibt hier ausschließlich seine persönliche
Ansicht wieder.
 
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Erinnerung an Florian Flicker

Regisseur Florian Flicker stirbt mit 49 Jahren. Florian Flicker ist tot. (Quelle: dpaEPA/STEFAN OLAH)
Quelle: EPA/STEFAN OLAH/dpa

Vor einigen Monaten, im letzten Winter, erreichte mich ein
e-mail von Florian Flicker. Er sei Filmemacher, und für ein neues Projekt
benötige er ein paar Hinweise eines Juristen. Ob ich ihn einmal treffen wolle?

Der geplante Film sollte die Strafverhandlung gegen einen
Polizeibeamten nachzeichnen, der einen Jugendlichen erschossen hatte. Der
14-jährige Florian P. war im August 2009 nächtens mit einem Freund in einen
Supermarkt in Krems eingestiegen. Die Polizei wurde verständigt. Ein vom Polizeibeamten Andreas K. abgegebener Schuss
tötete Florian P.; zu einem Zeitpunkt, als der Jugendliche offenkundig vor der
Polizei flüchten wollte. Die Familie von Florian P. erlebte, wie der Boulevard
mit Häme über den Tod des Jugendlichen berichtete und Politiker kein Wort des
Mitgefühls, geschweige denn der Entschuldigung fanden. In einem Aufsehen
erregenden Strafverfahren wurde der Polizeibeamte schließlich zu einer
bedingten Haftstrafe von acht Monaten verurteilt. Ebendiese Verhandlung wollte
Florian Flicker verfilmen.

Mit dem Fall des Florian P. hatte ich mich früher bei anderer
Gelegenheit befasst. Ich verabredete mich mit Florian Flicker kurzfristig im
Café Bräunerhof. Der Name Florian Flicker war mir ein vager Begriff. Also googeln.
Wikipedia zeigt eine eindrucksvolle Liste von Auszeichnungen. Darunter gleich zwei
Mal der Große Diagonale Preis für den besten österreichischen Kinofilm, für Suzie Washington und Der Überfall. Eine DVD von Der Überfall bringt mir Florian Flicker
ins Café Bräunerhof zu unserem ersten Treffen mit.

Im Café Bräunerhof sitze ich einem hellwachen und zugleich
nachdenklichen Mann in den Vierzigern gegenüber. Florian Flicker hat eine ganze
Liste an juristischen Fragen mit. Vor jeder Frage überlegt er, jede Antwort von
mir bedenkt er. Über sein ernstes Gesicht huscht ab und zu ein verschmitztes,
ein bubenhaftes Lächeln. Den Fall des jugendlichen Einbrechers und den Prozess
gegen den Polizeibeamten, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, kennt Florian
Flicker bis ins Detail. Er hat mit vielen Prozessbeteiligten und den
Angehörigen des Jugendlichen gesprochen. Ein Drehbuch für den Film existiert
bereits. Die juristischen Fragen des Falles leuchtet Florian Flicker in jeden
Winkel aus. Er führt die rechtliche Diskussion über den Fall auf höchstem
Niveau. Wiewohl vom Schicksal des Jugendlichen erschüttert und von dieser
Erschütterung zur Verfilmung motiviert, gelingt es Florian Flicker, sich in
alle anderen Beteiligten des Falles, in Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter,
Politiker, hineinzudenken und ihnen gerecht zu werden. Eine selten authentische
Offenheit und Bemühung um Wahrhaftigkeit ist spürbar, und eine scharfe
Beobachtungsgabe. Die Empathie für den Jugendlichen hindert Florian Flicker 
nicht daran, den Fall ruhig in alle Richtungen durchzudenken. Wenn auch nie
ausgesprochen, so war klar, dass der Film dem posthum auf einen Einbrecher reduzierten und so entwürdigten vierzehnjährigen
Florian P. Respekt erweisen sollte.

Ich habe Florian Flicker zwei Mal im Bräunerhof getroffen. Dazwischen haben wir uns über e-mail und am Telefon ausgetauscht. Er hat mir
Einblick in seine Arbeitsweise gewährt und mir über seine Pläne für die
Rollenbesetzung berichtet. Wir mussten über mögliche Besetzungen schmunzeln, als
wir uns Hollywoodstars in den Rollen realer Personen vorstellten, die wir nun
beide kannten. Und ich habe über Florian Flicker gestaunt: über die Akribie,
mit der er für seine Projekte mitunter jahrelang recherchierte. Und darüber,
dass er als (erfolgreicher) Künstler so völlig uneitel und unaffektiert war und
sich Selbstzweifel erhalten hatte. Wir sind beim Sie geblieben, und dies nicht
aus mangelnder Sympathie.

Wir hörten uns zuletzt kurz bevor das Förderungsansuchen für
den Film in die zuständigen Gremien ging. In den folgenden Wochen und Monaten
hatten wir keinen Kontakt mehr. Die Verbindung war zwar etwas abrupt
abgerissen, doch ich erklärte es mir damit, dass das Projekt möglicherweise
keine Finanzierung erhalten hatte. Ich hatte eine Scheu, aktiv nachzufragen.

Als ich vor wenigen Tagen in der Zeitung die Nachricht vom Tod von
Florian Flicker lese, kann ich es nicht glauben. Die Meldung erscheint mir nicht real. Ich habe Florian Flicker nur
flüchtig gekannt. Der selten tiefe Schmerz macht mir bewusst, wie einnehmend
seine Persönlichkeit war. Die kurze
Begegnung mit Florian Flicker hat genügt um zu erahnen, wie groß der Verlust
für seine Angehörigen und für die österreichische Filmlandschaft sein muss.

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Gastkommentar fuer DIE PRESSE vom 21.7.2014 – Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Anklage gegen einen Demonstranten sollte Anlass sein, Auswahl und Ausbildung der Richter und Staatsanwälte zu überdenken.

 (Die Presse

Der Fall des Studenten
Josef S., der seit Ende Jänner in Untersuchungshaft sitzt, macht
Schlagzeilen. Josef S. hatte Ende Jänner an der Demonstration gegen den
Ball rechter Burschenschafter in Wien teilgenommen, in deren Zuge es zu
Ausschreitungen mit erheblichen Sachschäden gekommen war. Die
Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Landfriedensbruchs erhoben. Bisher
fand ein Verhandlungstermin statt.
Das unabhängige Gericht wird den Fall entscheiden. Bereits in diesem
frühen Stadium muss es zulässig sein, sich mit der Sprache der
Institutionen auseinanderzusetzen. Laut unwidersprochenen Berichten des
„Falter“ ist in den Akten im Fall Josef S. nicht wie üblich von
Tatverdächtigen die Rede, sondern von „Demonstrationssöldnern“, von
„Manifestanten“ und „Chaoten“, die sich „zusammenrotten“, von „Spähern“
und einer „martialischen Phalanx“, von „kohortengleichen Formationen“.
Diese Ausdrucksweise weicht von der üblichen, sachlichen Amtssprache ab.
Es sind Begriffe der Polemik und Dramatisierung, die zur politischen
Agitation eignen.
In Behördenakten haben sie im Rechtsstaat nichts
verloren, signalisieren sie doch Gleichgültigkeit, wenn nicht
Feindseligkeit gegenüber den Grundrechten der Meinungs-, der
Versammlungs- und der Demonstrationsfreiheit. Sie vermitteln (jedenfalls
im Kontext der Strafverfahren Tierschützer und Votivkirche/Schlepperei)
den Schluss, die Behörden hätten eine Abneigung gegen
zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt.
Demonstrationen
verursachen Unannehmlichkeiten: Verkehrsstaus, Mehrarbeit und fallweise
Gefahren für die Behörden, Umsatzeinbußen für Geschäfte. Sie
rechtfertigen nie Ausschreitungen. Das ändert aber umgekehrt nichts
daran, dass die Versammlungsfreiheit zentrales Grund- und Freiheitsrecht
und zugleich verfassungsrechtliche Absicherung zivilgesellschaftlichen
Engagements ist.
Polizei und Justiz haben die Versammlungsfreiheit
nicht nur zu schützen, sondern aktiv zu garantieren. Der Begriff des
„Demonstrationssöldners“ denunziert und verhöhnt das Grundrecht.
Und
noch etwas fällt auf: Im Strafverfahren geht es in der Regel darum,
einer konkreten Person eine konkrete Handlung nachzuweisen. Das
Einschlagen einer Fensterscheibe, die Verletzung eines Menschen, den
Verkauf eines Säckchens Heroin. Im Fall Josef S. weicht die Polizei
dieser mühsamen Ermittlungsarbeit und Beweisführung aus, indem sie mit
Landfriedensbruch einen Tatbestand heranzieht, der die bloße Anwesenheit
an einem Ort bzw. Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestraft.
Ähnlich
war die Polizeitaktik im Tierschützerverfahren, als man wegen des
Delikts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. In beiden
Fällen kommen Tatbestände zur Anwendung, die der Gesetzgeber für
Ausnahmesituationen – zur Bekämpfung von Terror- und Mafianetzwerken
bzw. für Zeiten des Aufruhrs – geschaffen hat. Landfriedensbruch etwa
war lange Jahre totes Recht. Die Anwendung der sogenannten
Organisationsdelikte gerade im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichem
Engagement bewirkt Einschüchterung und ist verfassungs- und
demokratiepolitisch fatal.
Was treibt die Polizei, und warum
gelingt es der Justiz so schwer, sich von der Arbeit der stärker
politisch beeinflussten Polizei abzugrenzen? Liegt es an Personalauswahl
und Ausbildung? Gerade die Richterausbildung hat doch in den letzten
zwei Jahrzehnten eine Öffnung erfahren und einen Qualitätssprung
gemacht. Es gibt interdisziplinäre Seminare, Praktika bei
Wirtschaftsbetrieben, Jugendämtern und Opferhilfestellen. Angehende
Richter besuchen heute NGOs und NS-Gedenkstätten, sie diskutieren mit
Journalisten, Zeitzeugen und Schauspielern. Und dennoch: Es ist bereits
diese junge Generation, die die Protagonisten der angeführten
Strafverfahren der letzten Jahre stellt und Zweifel bei Beobachtern
weckt.
Könnte das fehlende politische Bewusstsein der Richter und
Staatsanwälte ein Erklärungsmuster dafür bieten? Als Reaktion auf die
damalige Verpolitisierung aller Lebensbereiche hat die Richterschaft in
den 1980er-Jahren einen Trennstrich gezogen und sich von der Politik
radikal distanziert. Allerdings hat man Politik mit Parteipolitik
verwechselt.

Schlüssel zum Rechtsstaat

Man kann oder soll sich als Richter von Parteipolitik fernhalten.
Verhängnisvoll ist es jedoch zu meinen, Rechtsprechung sei unpolitisch
oder könne unpolitisch sein. Genau das ist passiert. Nun ist es ein
längerer Prozess, sich wieder bewusst zu machen, dass nicht nur
gesetzliche Regelungen zu Mieten, Lebensgemeinschaften und
Drogentherapien (gesellschafts-)politische Entscheidungen sind, sondern
auch die Rechtsprechungslinien dazu. Für das Strafrecht gilt dies ganz
besonders. Das Bewusstsein, dass es sich bei alldem um politische
Vorgänge handelt, ist Voraussetzung einer ruhig abwägenden richterlichen
Tätigkeit.
Das Gesetz sieht eine Distanz von Polizei, Gericht und
Staatsanwaltschaft vor, um die wechselseitige Kontrolle zu
gewährleisten. Vielleicht benötigt diese Distanz auch räumliche
Trennung, etwa von Staatsanwaltschaft und Gericht? Bei der Wirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist man diesen Weg bereits erfolgreich
gegangen. Die räumliche Eigenständigkeit schärft Profil,
Rollenbewusstsein und Unabhängigkeit.
Im Übrigen liegt der
Schlüssel zu Qualität und rechtsstaatlicher Aufgabenerfüllung vor allem
bei Personalauswahl, Aus- und Fortbildung. Für Richter und Staatsanwälte
gilt dasselbe wie für Ärzte oder Lehrer: Man muss Menschen mögen, um
den Beruf gut ausüben zu können.
Europarat und EU arbeiten seit
einigen Jahren an gemeinsamen Standards für die Ausbildung der Richter
und Staatsanwälte. Erstaunlicherweise gibt es dabei auf dem gesamten
Kontinent eine große Übereinstimmung. War man früher auf die Vermittlung
der Gesetzeskenntnisse konzentriert, erkannte man später die Bedeutung
der sozialen Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten der Richter und
Staatsanwälte. Und aktuell folgt der nächste Schritt: Europaweit sieht
man in der Vermittlung von Werten und Haltungen, in der Arbeit an der
Persönlichkeit des Richters und Staatsanwalts die zentrale
Herausforderung der Berufsausbildung. Es geht darum, die Sensibilität
für die Bedeutung der Grundrechte im täglichen Justizbetrieb zu
entwickeln: für eine verständliche Sprache, für eine aktive anwaltliche
Vertretung oder umfassendes Dolmetschen etwa. Es geht um die Schärfung
des Sinns für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, und es geht unter
vielem anderem darum, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie
zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur zu respektieren, sondern zu
garantieren. Wenn Polizei und Justiz diese Selbstverständlichkeit und
Klarheit nicht gelingen, dann sehen sie sich zu Recht der Frage
ausgesetzt: Wie würde eine Polizei und eine Justiz, die in ruhigen
Zeiten von „Demonstrationssöldnern“ und „Zusammenrottungen“ spricht,
unter einer autoritären Regierung vom Schlag eines Viktor Orban agieren?
Der
Fall Josef S. wäre ein guter Anlass, der Personalauswahl sowie Aus- und
Fortbildung der Richter und Staatsanwälte mehr an Aufmerksamkeit und
Mittel zukommen zu lassen und neue Initiativen zu setzen – als Dienst an
Rechtsstaat und Bevölkerung.
Dr. Oliver Scheiber ist Richter,
Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Mitglied der Allianz gegen
die Gleichgültigkeit, einer Gruppe prominenter Juristen, die
Reformvorschläge für Justiz und Strafvollzug unterbreitet hat. Er gibt
hier ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 21.07.2014)

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Unsere Gefängnisse sind zu billig – Gastkommentar für den FALTER 22/2014

Um Geld zu sparen, kommen psychisch Kranke nicht ins Krankenhaus, sondern in Haft. Das gehört geändert.
Gastkommentar: Oliver Scheiber 
Ein Mann, um die 30, steht vor Gericht. Er kroch in einen
Flaschenrückgabeautomat eines Supermarkts. Detektive nahmen den Mann mit von
Scherben zerschnittenen Armen am Flaschenförderband fest. Er wollte zehn
Flaschen neuerlich durchlaufen lassen und sich mit dem ergaunerten Leergutbon
ein Abendessen kaufen. Die Staatsanwaltschaft hat den potenziellen Schaden auf
zehn Euro geschätzt und beantragt, dass der Mann seine bedingte Strafe vom
letzten Mal –  gewerbsmäßiger Diebstahl
von Leerflaschen  – absitzen soll. Der Mann hätte dann rund ein Jahr
Haft vor sich.
Er ist dann einer von mehr als 8.000 Insassen unserer
Haftanstalten. Die Zahl der Häftlinge steigt seit Jahren, während die
Kriminalität sinkt. In Österreich kommen auf 100.000
Einwohner 104 Häftlinge. In Deutschland sind es 87, in Norwegen, Schweden,
Dänemark und den Niederlanden um die 70 und in Finnland nur 61 Insassen. Die
Quote der unter 18-Jährigen Häftlinge zählt mit 1,6 Prozent aller Gefangenen zu
den höchsten innerhalb der EU. Die Haft soll aber wenig kosten: Schweden (260
Euro), Norwegen (330 Euro) und die Niederlande (215 Euro) wenden pro Tag und
Häftling mehr als das Doppelte auf als Österreich (108 Euro).
Auch die Zahl der psychisch kranken Häftlinge
stieg in den letzten 20 Jahren rasant an. Die Justiz hat Aufgaben des
Gesundheitssystems übernommen und ist darauf nicht vorbereitet.
Justizwachebeamte mit Taserwaffen betreuen nun psychisch Kranke.
Noch vor zwanzig Jahren haben Gerichte
psychisch kranke Menschen meist nur nach schweren Gewaltexzessen in den
Justiz-Maßnahmenvollzug eingewiesen. Heute reichen dafür oft schwere
Sachbeschädigungen. Die Zwangsanhaltung kann dann Jahre andauern. Länder und
Gemeinden ersparen sich psychiatrische Infrastruktur. Die Entlassung aus dem
Maßnahmenvollzug scheitert regelmäßig an den fehlenden
Nachbetreuungseinrichtungen.
Seit den 1980er-Jahren entwickelt sich
der Strafvollzug in die falsche Richtung. Der Anteil der Justizwachebeamten
stieg (nun rd. 80%), Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen, Mediziner wurden
weniger und verloren intern an Einfluss. Die Justizwachegewerkschaft baute ihre
Macht immer weiter aus. An die Stelle des Resozialisierungsgedankens der
1970er-Jahre trat ein Sicherheitsdenken. Die Gerichte handhaben die bedingte
Entlassung oft sehr restriktiv. Das Führungspersonal des Strafvollzugs agiert
aus der Defensive heraus. Die Mienen vieler Verantwortlicher spiegeln
Ängstlichkeit und Resignation.
Die Bilder, die der Falter nun aus dem
Strafvollzug veröffentlicht, sind in ihrer Dramatik schockierend. Der Super-GAU
ist nicht mehr zu leugnen. Justizminister Brandstetter hat recht, wenn er von
strukturellen Missständen spricht und eine Totalreform fordert. Aber wie kann sie
aussehen?
Die Diagnose ist brutal: das
Gesamtsystem ist kollabiert. Grenzüberschreitungen sind zur Normalität
geworden. Quer durch die beteiligte Berufe hat sich Apathie breit gemacht. Wenn
einem Häftling der Fuß abfault, dann ist nicht ein einzelner Justizwachebeamter
schuld; dann gibt es keine funktionierende Sozialarbeit, keine angemessene
medizinische Versorgung, keine Aufsicht. Die oft behauptete Ressourcenknappheit
ist eine billige Ausrede. Das Problem ist die Kultur des Strafvollzugs: Wer dort
Missstände aufzeigt, wird gemobbt – wie etwa im Vorjahr bei den Skandalen in
der Justizanstalt Josefstadt. Die vielen engagierten Beamten werden zu
Außenseitern gemacht.
Notwendig ist zunächst die Halbierung
der Insassenzahlen – sie ist ohne jegliches Sicherheitsdefizit machbar. Durch
eine Beschleunigung der Ermittlungsverfahren ließe sich die Zahl der rund 1800
U-Häftlinge halbieren. Die psychisch kranken Insassen sollten im
Gesundheitssystem versorgt werden, soweit sie überhaupt eine stationäre
Unterbringung benötigen. Die meisten von ihnen kämen mit einer guten
individuellen ambulanten Betreuung aus. Die bedingte Entlassung muss zur Regel
werden, so wie es das Gesetz vorsieht; eine Klassenjustiz, die Menschen wie den
eingangs erwähnten Flaschendieb einsperrt, muss ein Ende finden. Mit diesen
Maßnahmen ließe sich rasch ein Häftlingsstand von knapp unter 6.000 erreichen –
es entspräche der Zahl des Jahres 1989.
Eine Reform hat nur dann eine Chance,
wenn die Regierungsspitze kraftvoll dahintersteht. Die Halbierung der
Haftzahlen und Überführung der Masse der psychisch kranken Häftlinge ins
Gesundheits- und Sozialsystems bedarf einer Ergänzung durch neue
Ausbildungsmodule nicht nur für die Justizwache, sondern auch für Richter und
Staatsanwälte. Massive Planstellenverschiebungen vom bewaffneten Personal hin
zu Sozialarbeit, Psychologie, Medizin sind nötig. Das gesamte System muss neu
aufgesetzt werden. Eine ernsthafte Reform wird Experten einbeziehen, die dem
System vor einigen Jahren zu unbequem geworden sind.
Die ersten Reformankündigungen des
Justizministers machen Hoffnung. Der Zorn des Ministers ist ein Weckruf – an
alle, die mit dem Strafvollzug zu tun haben, an Parlament und Regierung. Eine
Reform des Strafvollzugs wird auf viel Widerstand stoßen; die Reform nicht zu
versuchen wäre unverzeihlich.  
Der Autor ist Strafrichter und Lehrbeauftragter an der Universität
Wien. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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