Verfassungsgerichtshof: Grundrechtecharta der EU hat in Österreich die Qualität von Verfassungsrecht

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist zwölf Jahre alt. Der moderne Grundrechtskatalog enthält nicht nur klassische Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern formuliert auch neue Rechte wie jene auf Bildung (Artikel 14) und Nichtdiskriminierung (Artikel 21). Die Charta enthält ein Bekenntnis zu einer Vielfalt der Kulturen (Artikel 22), sie garantiert Kindern und älteren Menschen besonderen Schutz (Artikel 24 und 25) und behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Leben (Artikel 26). Die in Artikel 34 ausformulierten Rechte auf soziale Sicherheit sind eine spezifisch europäische Errungenschaft. Mit dem Recht auf eine gute Verwaltung (Artikel 41) wird rechtliches Neuland betreten.

Die Durchsetzung der in der Charta gewährten Rechte wird nun in Österreich durch eine richtungsweisende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) wesentlich erleichtert. Die Entscheidung hält fest,
dass den Bestimmungen der Grundrechtecharta die Qualität von Verfassungsbestimmungen zukommt.Nachdem bereits die Europäische Menschenrechtskonvention in Österreich im Verfassungsrang steht, gilt dies nun auch für die Grundrechtecharta. Alle in der Charta gewährten Rechte sind damit verfassungsrechtlich abgesichert und können vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden – dies erleichtert die Rechtsdurchsetzung ganz wesentlich. Gesetze, die im Widerspruch zur Grundrechtecharta stehen, wird der Verfassungsgerichtshof künftig als verfassungswidrig aufheben, Behörden und auch der nationale Gesetzgeber haben die Charta als Teil des österreichischen Verfassungsrechts zu beachten.
Der Verfassungsgerichtshof dokumentiert mit dieser Entscheidung ein modernes, europaorientiertes Selbstverständnis und trotzt immer wieder aufkeimenden nationalstaatlich-nationalistischen Auslegungstendenzen. Für die Rechtsentwicklung und insbesondere den Grundrechtsschutz ist die Entscheidung zweifellos ein Meilenstein. Der VfGH erläutert die Entscheidung erfreulicherweise in einer auch für Laien leicht verständlichen Sprache auf seiner Website.     

  

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Assoziierungsabkommen EU – Türkei

Ein kürzlich abgeschlossenes Gerichtsverfahren illustriert sehr schön, wie Europarecht funktioniert. Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) als österreichisches Höchstgericht legte während eines laufenden Verfahrens eine europarechtliche Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Beantwortung vor. Auf Basis des Urteils des EuGH vom 15.11.2011 im so genannten Vorabentscheidungsverfahren erging bald darauf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (Zahl 2011/22/0313-8).
Die von Medien und österreichischer Politik kommentierte Entscheidung besagt im wesentlichen, dass gegenüber Türkinnen und Türken, die mit
österreichischen StaatsbürgerInnen verheiratet sind, die seit dem
Jahr 1995 (österreichischer EU-Beitritt) vorgenommenen Verschärfungen des österreichischen Fremdenrechts unwirksam sind. Konkret bedeutet das für diese Menschen, dass diverse vor allem seit
der Jahrtausendwende vollzogene Verschärfungen des Fremdenrechts wie etwa die Deutschprüfungspflicht vor
der Einreise, die Abschiebedrohung für den Fall einer nicht bestandenen  Deutschprüfung oder die Vorgabe, dass
man erst ab dem 21. Lebensjahr (früher 18.) einen Antrag auf
Familienzusammenführung stellen kann, nicht gelten. 
Bild: AP – Osman Orsal

Diese Rechtslage ist durch das so genannte  Assoziierungsabkommen (Abkommen zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der
Türkei) vorgegeben, das die Europäische Gemeinschaft bereits 1963 mit der Türkei abgeschlossen hat. Die Regelungen wurden von Österreich mit dem EU-Beitritt 1995 übernommen, auch wenn die österreichische Behördenpraxis in der Folge vielfach die im Abkommen vorgesehene Privilegierung türkischer Staatsangehöriger gegenüber anderen Nicht-UnionsbürgerInnen ignorierte. 
Durch die jüngsten Urteile könnte das Assoziierungsabkommen endlich stärker ins Bewusstsein von Bevölkerung und Behörden treten. Das Abkommen ist Ausdruck eines seit bereits fünf Jahrzehnten bestehenden rechtlichen und politischen Naheverhältnisses der EU zur Türkei – völlig unangebracht ist daher einsetzendes Jammern über das Urteil und seine angeblich negativen integrationspolitischen Folgen. Das Urteil sollte vielmehr Anlass sein, auf Schikanen im Fremdenrecht zu verzichten und für Integrationsmaßnahmen wie Deutschkurse positive Anreize zu setzen. Rufe nach einer Kündigung des Assoziierungsabkommens sind genau so zu werten wie jüngste Forderungen nach der Wiedereinführung von Grenzkontrollen in der EU: als nationalistisch-populistisch motivierte, rückwärts gewandten Äußerungen eines Politikverständnisses, das letztlich auf ein Ende der europäischen Friedensordnung hinausläuft.

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Herr Zawrel und der Puppenspieler: Nikolaus Habjan

Von Friedrich Zawrel war an dieser Stelle schon die Rede: der gefragte Zeitzeuge und Träger des Goldenen Verdienstzeichens der Stadt Wien spricht in den letzten Monaten immer häufiger von einem jungen Künstler, von Nikolaus Habjan. Und er spricht seit Beginn der Bekanntschaft zumeist vom „Puppenspieler“; erst in jüngster Zeit verwendet Herr Zawrel zunehmend den Vornamen des Künstlers.
Nikolaus Habjan hat Friedrich Zawrel und anderen Opfern des Nationalsozialismus, den Kindern insbesondere, mit dem im Wiener Schuberttheater inszenierten Puppentheaterstück F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig ein Denkmal gesetzt. Sitzt man in der Aufführung und schließt die Augen, so glaubt man, Friedrich Zawrel selbst sprechen zu hören – so genau trifft Habjan Sprache und Tonfall Zawrels. Die Aufführung ist mehr als eine Talentprobe, die großen Berichte in Falter und Augustin sind angemessen. Es braucht nicht viel Weitsicht, um dem als Schauspieler, Puppenbauer, Puppenspieler und Kabarettist vielseitig und durchwegs herausragend begabten Nikolaus Habjan eine große künstlerische Karriere vorherzusagen. Demnächst ist Habjan wieder am Burgtheater zu sehen (vgl die Rezension im Standard).
Nikolaus Habjan (Foto: Sabine Hauswirth)
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Pozileilich verboten

Im Fasching 2011 hatten einige Steirer eine Idee: sie ahmten auf einem
Auto die Farbgebung der Polizeifahrzeuge nach und versahen den Wagen mit dem
Schriftzug „Pozilei“. Der Wagen fuhr in einem Faschingszug mit, Bilder des
Wagens verbreiteten sich rasch im Internet.
Der Gesetzgeber vermag
dem Humor der Pozilisten nicht viel abzugewinnen. Nach einer Schreck- und
Nachdenkpause von rund 15 Monaten schuf er nun eine neue Bestimmung
im Sicherheitspolizeigesetz, die solche und ähnliche Späße unter Strafe
stellt und mit 1. April [!] 2012 in Kraft getreten ist:

„Unbefugtes Verwenden geschützter grafischer
Darstellungen der Sicherheitsbehörden und Polizeikommanden
§ 83b. (1) Wer eine gemäß
Abs. 2 bezeichnete grafische Darstellung der Sicherheitsbehörden oder
Polizeikommanden in einer Weise verwendet, die geeignet ist, eine öffentliche
Berechtigung vorzutäuschen, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit
Geldstrafe bis zu 500 Euro, im Falle der Uneinbringlichkeit mit
Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu bestrafen. Gleiches gilt für die
Verwendung von Wort-Bildkombinationen, die auf Grund ihrer Farbgebung und
Schriftausführung geeignet sind, den Anschein einer gemäß Abs. 2
bezeichneten Darstellung zu erwecken.
(2) Der Bundesminister für Inneres bezeichnet durch Verordnung
die im Sinne des Abs. 1 geschützten grafischen Darstellungen.“
Foto © Peter Bei
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Vom Vertrauen in die Justiz: Man lese Alfred Noll!

Viel ist in Österreich in letzter Zeit von einer Vertrauenskrise der Justiz die Rede. Lösungen werden allerorts gesucht und angeboten, meist ist von Ressourcen, Planstellen und besserer Öffentlichkeitarbeit die Rede. All das geht wohl am Kern des Problems vorbei. Der Rechtswissenschaftler und Rechtsanwalt Alfred Noll legt in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitschrift Falter (Nr. 15/2012) die grundlegendste und treffendste Analyse zur Justiz seit langem vor. Unter dem Titel „Misstraut den Richtern!“ führt er überzeugend aus, dass Recht und Gesetz klassische Herrschaftsmittel sind, und dass daher kein Justizsystem unpolitisch sein kann. Eine vorgebliche Entpolitisierung führe in eine Sackgasse, wie Noll unter Berufung auf die Weimarer Justiz und die österreichische Justiz der Ersten Republik zeigt. Noll formuliert Sätze, die Studierenden der Rechtswissenschaften helfen können, sich ihr Fach zu erschließen: „Wer weiter an der unpolitischen Justiz festhält, reduziert den Staat auf sein autoritäres Wunschbild des allen gesellschaftlichen Impulsen entzogenen Apparats, der allein den immanenten bürokratischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Deshalb ist die Entscheidung für eine unpolitische Justiz eine eminent politische Entscheidung von schwer übersehbarer Tragweite. … Diese Orientierung endet immer gleich: Ordnung vor Freiheit, Rechtsstaat vor Demokratie.“ 
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