Friedensnobelpreis für die Europäische Union

Bald 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerät bei den Menschen in Vergessenheit, was am Anfang der Europäischen Idee stand: die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die Sicherung eines dauerhaften Friedens. Umfragen zeigen, dass etwa in Österreich nur mehr wenige Menschen den Friedensgedanken mit der Europäischen Union verbinden. Und doch ist die gelungene Friedenssicherung, der Abbau der Grenzen zwischen Ländern und in den Köpfen, die Schaffung einer gemeinsamen Identität die historische Leistung der Union, ihrer Gründerväter und ihrer Entwickler. 
Die heutige Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist daher ein wichtiges Signal zum richtigen Zeitpunkt. Die Kritiker Europas und der Preisverleihung vergessen, dass die Alternative zur Union die Rückkehr zum Nationalismus und zu Spannungen und Kriegen wäre. Man denke nur an die Balkanstaaten: ihre einzige (Friedens)Perspektive ist der Eintritt in das gemeinsame Europa.
Die Union ist aber nicht nur Friedens-, sondern auch Demokratie- und Zivilisationsprojekt. Ja, die Demokratisierung der Organe der Union muss weitergehen. Bereits jetzt ist das Europäische Parlament jedoch beispielgebend was das Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit seiner Abgeordneten und die Qualität seines Rechtsdienstes betrifft. Die Union geht den Mitgliedstaaten bei der Einbindung der Zivilgesellschaft in die politische Diskussion voran. Die Legislativprozesse der Union erfolgen unter breiter Einbindung beteiligter Interessensgruppen und der Wissenschaft. Die eben beschlossene neue Opferschutzrichtlinie ist da nur ein Beispiel unter vielen Hunderten. Österreich kann durchaus zufrieden sein: mit Franz Fischler, Johannes Voggenhuber, Otmar Karas und Hannes Swoboda hat es in den letzten zwei Jahrzehnten gleich mehrere Personen nach Brüssel entsandt, deren Stimme dort Gewicht hat. 
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„Das Norwegische Nobelkomitee hat entschieden, dass der
Friedensnobelpreis 2012 an die Europäische Union (EU) vergeben wird. Die
Union und ihre Vorgänger haben über sechs Jahrzehnte zur Förderung von
Frieden und Versöhnung beigetragen. Seit 1945 ist diese Versöhnung
Wirklichkeit geworden. Das furchtbare Leiden im Zweiten Weltkrieg zeigte
die Notwendigkeit eines neuen Europa. Über 70 Jahre hatten Deutschland
und Frankreich drei Kriege ausgefochten. Heute ist Krieg zwischen
Deutschland und Frankreich undenkbar. Das zeigt, wie historische Feinde
durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen
Vertrauens enge Partner werden können. 
In den achtziger Jahren sind Griechenland, Spanien und Portugal der EU
beigetreten. Die Einführung der Demokratie war Voraussetzung für ihre
Mitgliedschaft. Der Fall der Berliner Mauer machte den Beitritt möglich
für mehrere zentral- und osteuropäische Staaten. Dadurch wurde eine neue
Ära der europäischen Geschichte eingeleitet. Die Teilung zwischen Ost
und West ist in weiten Teilen beendet. Die Demokratie wurde gestärkt.
Viele ethnisch bedingten Konflikte wurden gelöst.
Die Aufnahme von Kroatien als Mitglied im nächsten Jahr, die
Einleitung von Aufnahmeverhandlungen mit Montenegro und die Erteilung
des Kandidatenstatus an Serbien wird den Prozess der Aussöhnung auf dem
Balkan voranbringen. Im letzten Jahrzehnt hat auch in der Türkei die
Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft Demokratie und Menschenrechte in
diesem Land gefördert.
Die EU erlebt derzeit ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten und
beachtliche soziale Unruhen. Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den
Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU
sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für
Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU
bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des
Friedens.
Die Arbeit der EU repräsentiert ‚Bruderschaft zwischen den Nationen‘
und entspricht einer Form von ‚Friedenskongress‘, wie Alfred Nobel dies
als Kriterium für den Friedenspreis 1895 in seinem Testament umschrieben
hat.“
 
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