Hinter dem Papier

Text für das SPECTRUM der Tageszeitung DIE PRESSE
erschienen am 28.12.2013

Ich arbeite seit 22 Jahren für die
österreichische Justiz. Seit 18 Jahren bin ich Richter. Wenn ich gesund bleibe,
befinde ich mich nun in der Mitte meines Erwerbslebens. Die Zahl der bisher von
mir geführten Verfahren hochgerechnet, werden bei meiner Pensionierung rund
15.000 Angeklagte auf mich als Richter getroffen sein. Die Mitte des
Berufslebens ist eine gute Gelegenheit die eigene Tätigkeit zu reflektieren. Und
der Jahreswechsel steht ja auch vor der Tür.
Ich konnte mir als junger Mensch
viele Berufe vorstellen, ohne mir einen davon fix in den Kopf gesetzt zu haben.
Ich habe Jus studiert, um die Berufsentscheidung aufzuschieben. „Mit Jus hast du
alle Möglichkeiten“, sagen viele. Vor allem die Juristen.
Das Studium war langweilig. Es
bestand überwiegend im Auswendiglernen. Die praktische Anwendung des
Vorgetragenen konnte ich mir nicht vorstellen. Das konnten wohl auch viele
Universitätslehrer nicht, denn – wie der Rückblick zeigt – sie erörterten allzu
oft Irrelevantes ausführlich und vergaßen auf das im Rechtsleben Relevante. Zwar
erfuhr man im ersten Semester, die Rechtswissenschaft gehöre zu den
Sozialwissenschaften. Im weiteren Studium spielten Mensch und Gesellschaft aber
nur eine kleine Rolle. 20 Jahre in der Rechtsprechung machen klar, dass die
Rechtswissenschaft selbstverständlich zu den Sozialwissenschaften zählt. Bei der
Gestaltung und Anwendung des Rechts geht es laufend um Phänomene des
gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Ich habe den Richterberuf nicht
angestrebt. Er ist mir zugefallen. Ich bin dafür dankbar. Ich habe nach dem
Studium das Gerichtsjahr begonnen, um die endgültige Berufswahl weiter
hinauszuzögern. Die Arbeit bei Gericht hat mich sofort fasziniert: der Einblick
in menschliche Schicksale. Die Möglichkeit, ausgestattet mit der richterlichen
Unabhängigkeit, gestaltend einzugreifen. Die österreichischen Gesetze räumen den
Richtern großen Spielraum ein. Das Gericht kann einen Ladendieb zu mehreren
Jahren Gefängnis verurteilen oder zu einer Psychotherapie während einjähriger
Probezeit verhalten. Eine breite Palette an Sanktionen steht im Strafrecht zur
Verfügung. Der Gesetzgeber war so vorausschauend, maßgeschneiderte Lösungen für
den Einzelfall zuzulassen.
An meinem Verhältnis zum Staat hat
sich seit meinem Eintritt in die Justiz wenig geändert. Als Arbeitgeber hat mich
der Staat gut behandelt. Er hat mich solide ausgebildet. Er stellt mir eine
hervorragende Infrastruktur zur Verfügung. Er erlaubt mir internationale
Einsätze und den Wechsel in verschiedene Arbeitsfelder. Dennoch bleibt jeder
vernünftige Mensch gegenüber dem Staat misstrauisch. Staatliche Einrichtungen
tendieren dazu, die Bürger zu kontrollieren. Sicherheitsapparate streben nach
immer mehr Eingriffsmöglichkeiten. Traditionell lehnt die Bürokratie Transparenz
ab. Manchmal verletzt der Staat seine eigenen Regeln. Und in der Folge neigt er
dazu, diese Verstöße zu vertuschen. So wie jeder Betrüger und Dieb auch seine
Tat verbergen will. Konkret: Es gibt im Rechtsstaat nichts Schlimmeres, als wenn
ein Mensch durch Organe des Staates zu Tode kommt. Etwa durch Schüsse der
Polizei, wie das in Österreich schon mehrmals geschehen ist. Und wenn dann auch
noch die Aufklärung zögerlich oder nicht erfolgt.
Ich habe das Glück, in meinem
engsten beruflichen Umfeld seit Jahren mit durchwegs hoch motivierten Menschen
zusammenzuarbeiten. Der Einsatz von Familienrichtern, die mit viel Geduld lange
Gespräche mit Eltern führen, um eine Einigung im Sinn der Kinder herbeizuführen,
nötigt mir Respekt ab. So wie die professionelle Abwicklung von Anlegerprozessen
durch Zivilrichter, die im Verhandlungssaal zwei Streitparteien in Stärke einer
Fußballmannschaft gegenübersitzen, während sie den Prozessstoff allein
bewältigen müssen. Und umgekehrt schmerzt es alle, Staatsangestellte genauso wie
Bürger, wenn Wirtschaftsstrafverfahren über Jahre zu keinem Ende kommen, wenn
Richter Formalismus vor Inhalt stellen oder schlicht unfreundlich auftreten. Es
ist unerträglich, wenn Polizeibeamte einen Asylwerber foltern oder einem
jugendlichen Einbrecher in den Rücken schießen, ohne dass solche Vorfälle
schnelle und ernsthafte Konsequenzen haben. Und die heutige Republik muss sich
eingestehen, dass die Nachkriegsjustiz viele mutmaßliche Kriegsverbrecher in die
Demenz statt in den Gerichtssaal begleitet hat. Man wünscht sich, dass
staatliche Behörden und Organe lernen, sich bei Opfern ihrer Fehler zu
entschuldigen.
Meine lang hinausgeschobene
Berufsentscheidung habe ich nie bereut. Die Mitwirkung an einer Verbesserung der
gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen bildet einen starken Antrieb. Die
staatlichen Strukturen lassen sich von innen und außen modernisieren. Mich
begeistert die Mitwirkung am Entstehen des europäischen Rechtsraums. Es war
spannend, eine Korruptionsstaatsanwaltschaft und Justizombudsstellen zu
entwickeln. Die eigentliche richterliche Tätigkeit wiederum ist befriedigend,
weil sie gestaltend ist. Während die Arbeit vieler Beamter mangels politischen
Umsetzungswillens in der Schublade landet, sieht der Richter täglich die Früchte
seiner Arbeit. Jeder gelungene Vergleich, jedes erfolgreiche
Mediationsverfahren, jede gut angenommene, weil gut begründete Entscheidung
motiviert. In den von mir geführten Verfahren habe ich jedes Jahr mit rund 1000
Menschen zu tun. Diesen Personen in für sie schwierigen Lebenssituationen
menschlich zu begegnen, sie zu konstruktiven Lösungen zu führen ist
Herausforderung und Aufgabe.
Unser Justizsystem verdient ein im
internationalen Vergleich gutes Zeugnis. Die offenen Wunden dürfen über diese
positive Bilanz nicht vergessen werden. Die Frage der Klassenjustiz bleibt
aktuell. Sie lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Argument, dass man mit
Geld in unserem Gesellschaftssystem immer besser dran sei: Man bekommt die
bessere Ausbildung, die besseren Ärzte und die besseren Rechtsanwälte. Es gibt
eine Empathie- und Mitleidlosigkeit, mit der unsere Strafrechtspraxis Schwachen
begegnet, der mit aller Kraft entgegenzuwirken ist. Woher kommt die oft
verstörende Bösartigkeit staatlichen Handelns in der Anwendung von Gesetzen?
Schlägt man da nicht auf die ein, die sich nicht wehren können, weil man gegen
andere nicht ankommt? Prügelt man die kleinen Gauner, weil man die großen nicht
kriegt? Die kleinen Gauner melden keine Berufungen an. Sie drohen nicht. Sie
kommen nicht mit Rechtsanwälten, die unzählige Anträge stellen, sodass man das
Wochenende mit der Familie verliert. Die kleinen Gauner schicken einem keine
Privatdetektive nach und machen einem generell selten das Leben schwer.
Setzt man sich in den
Verhandlungssaal eines Wiener Bezirksgerichts und hört sich einen halben Tag
lang Strafverhandlungen an, so wird man Angeklagte sehen, die zu einem guten
Teil psychisch krank oder sozial verwahrlost sind. Die Delikte liegen zum
Großteil im Bagatellbereich. Es geht um den Diebstahl von Parfumtestern aus
Drogeriemärkten, um die Beschädigung von Glücksspielautomaten, nachdem man in
ein paar Minuten einige Hundert Euro verloren hat, und Ähnliches. Wirft man
einen näheren Blick auf die Biografien, so wiederholen sich die Bilder: früher
Verlust eines Elternteils, Tod eines Kindes oder Partners, Gewalterfahrungen.
Das ist kein Plädoyer für die Straflosigkeit kleiner Vermögensdelikte, aber sehr
wohl für angemessene Reaktionen darauf.
Allein das Wort „Strafverfolgung“
ist für viele der betroffenen Menschen unpassend. Das amerikanische
Wissenschaftsprojekt „We are all criminals“ dokumentiert, dass die laut
Strafregister ihr Leben lang unbescholtenen Bürger jede Menge Straftaten
begangen haben. Unsere Praxis, sehr viel an Energie in die Aufklärung und
Verfolgung kleinster Regelverstöße zu stecken, erscheint angesichts dieser
Realität doppelt unsinnig. Unsere Gesellschaft, unser Staatssystem, unser
Wohlstand sind von Vorgängen wie jenen rund um die Hypo Alpe Adria real bedroht;
von einer Schwankung der Ladendiebstahlsstatistik um ein oder zwei Prozent
bestimmt nicht.
Mehrere Jahre Haft für einen
Wirtschaftskriminellen sind unangemessen, heißt es oft. Es sei doch niemand
verletzt worden, wo bleibe denn die Verhältnismäßigkeit zu
Körperverletzungsdelikten. Ich antworte dann zumeist mit Geschichten aus meinem
Gerichtsalltag, denn das erste Ziel muss es sein, vergleichbare Delikte gleich
zu behandeln.
Zwei Fälle haben mich in den
vergangenen Monaten besonders  beschäftigt. Da ist zunächst die junge Frau, die
in Tschechien aufwächst und nach der Matura drogensüchtig wird, wir nennen sie
Lena. Lena konsumiert jahrelang täglich ein Gramm Kokain oder Heroin. Trotz
einer medikamentösen Entzugsbehandlung gibt es immer wieder Rückfälle. Die
Drogensucht finanziert Lena durch kleine Diebstähle. Dafür wird sie in
Tschechien 19-mal vorbestraft. Meistens werden Geldstrafen oder bedingte kürzere
Freiheitsstrafen verhängt. 2008 fährt die damals 27-Jährige Lena mit einer
Freundin nach Österreich und begeht weitere Ladendiebstähle. Wieder sollen mit
dem Gewinn Drogen für den Eigenkonsum angeschafft werden. Als die beiden
Freundinnen erwischt werden, beträgt der Schaden an gestohlenen Kosmetika
insgesamt 2900 Euro. Die Strafe dafür: drei Jahre und neun Monate Gefängnis.
Lena hat den Eindruck, dass der
Pflichtverteidigerin der Fall egal ist. Die Verteidigerin verzichtet auf eine
Berufung gegen das enorme Strafausmaß. Lena verbringt die folgenden Jahre in
österreichischen Haftanstalten. Sie, offenkundig hoch begabt, spricht nach
Selbststudium heute ein nahezu perfektes Deutsch. Auch in der Haft pflegt sie
sich, liest, versucht den Anschluss an das Leben draußen nicht zu verlieren.
Ihre Familie lebt  bei Prag. Einmal im Monat kommt ein Angehöriger nach Wien, um
Lena zu besuchen. Lena ist sozial angepasst und selbstreflexiv. Durch die Haft
ist sie auch gebrochen. Das Urteil spricht davon, dass in diesem Fall nur eine 
drakonische Strafe  helfe. Unter dem Strich: knapp vier Jahre Gefängnis für
einen Schadensbetrag von weniger als 3000 Euro für eine junge Frau, die so ihre
Drogenkrankheit finanziert.
Oder eine Verhandlungssituation kurz
vor Weihnachten. Zwei Angeklagte kommen in den Gerichtssaal: ein junger Bursch,
nennen wir ihn Marko, und seine ebenfalls angeklagte Tante. Marko ist 16 Jahre
alt, er besucht ein Gymnasium in Wien. Der Bericht der Wiener
Jugendgerichtshilfe spricht davon, dass Marko mutmaßlich mehrere Jahre lang
sexuell missbraucht wurde. Das Gericht möge das Thema nicht ansprechen, sondern
eher eine Weisung zur Psychotherapie erteilen.
Im Bericht der Jugendgerichtshilfe
heißt es: „Marko ist ein sensibler, reflektierter junger Mann. Die Kontrolle
verliert er, wenn überhaupt, nur dann, wenn seine Familie angegriffen wird.“ Die
Mutter ist 40 Jahre alt. Sie hat Krebs mit einer schlechten Prognose. Die
nächsten sechs Monate wird sie überwiegend stationär im Krankenhaus verbringen.
Die gesamte Familie ist in Psychotherapie, um die Krankheit durchzustehen.
„Marko hat fast lauter Einser, trotzdem“, sagt die Tante im Gerichtssaal. Marko
weint, als sie es sagt.
Marko und seine Tante sind wegen
Körperverletzung angeklagt: Markos kleiner Bruder hat im Park gespielt, die
Kinder sind laut. Ein 18-jähriges Mädchen, das sich mit zwei Freundinnen im Park
aufhält, ohrfeigt den Kleinen. Der Kleine blutet an der Lippe: Er ist Bluter,
Marko und seine Tante geraten in Zorn und Panik, sie laufen in den Park. Es
kommt zu einer Rangelei. Die Mädchen rufen immer wieder: „Zigeuner, Zigeuner“,
denn Marko und seine Tante haben eine dunkle Hautfarbe. „Das war nicht in
Ordnung“, sagt die Tante und: „Aber ich bin eh stolz darauf.“ Schließlich
rangeln rund 15 Personen im Park miteinander. Das Mädchen, das die erste
Ohrfeige ausgeteilt hat, hat danach Kratzspuren am Hals und ein paar Haarbüschel
weniger.
Marko und seiner Tante bringt das
eine Anklage ein. Im Gerichtssaal kichern und lachen die Mädchen pubertär,
während Marko noch immer weint. Eine harmlose Parkstreitigkeit, wie sie sich in
Wien jeden Tag zigmal abspielt; wie sie von kompetenten Polizeibeamten in den
meisten Fällen vor Ort beruhigt und ohne Anzeige geschlichtet wird oder von
sensiblen Anklägern mit alternativen Maßnahmen geregelt wird, ohne sie vor
Gericht zu bringen. Wer von uns weiß, wie sich die wochenlange Ungewissheit
einer bevorstehenden Gerichtsverhandlung auf einen sensiblen 16-Jährigen
auswirkt, der für die Familie sorgt und mit der lebensbedrohlichen Erkrankung
seiner noch jungen Mutter umgehen muss?
Vor Gericht selbst lässt sich die
Sache nach einer Entschuldigung und einer Schmerzensgeldzahlung von 50 Euro
schnell mit einer Verfahrenseinstellung regeln. Die Mädchen, auch erschrocken,
wollen am Ende das Geld gar nicht recht annehmen.
Der oft sorglose Umgang mit Menschen
und Schicksalen wird unseren Strafgesetzen nicht gerecht. Sie sind von
aufgeklärtem Geist getragen und haben den Menschen im Fokus, egal ob es um Täter
oder Opfer geht. Man braucht bloß auf die Strafzumessungsgründe zu sehen: das
Strafgesetzbuch nennt viel mehr Milderungs- als Erschwerungsgründe. Die
Herausforderung liegt also in der sorgsamen Anwendung der Gesetze. Im Verzicht
auf Floskeln und Formalismen, die die Menschen hinter dem Papier vergessen.

Wenn wir in die Zukunft blicken,
dann ist das die große Herausforderung für die Justiz: eine durchgehende
Modernisierung, das heißt Humanisierung von Kommunikation und Abläufen. Wer sich
darauf einlässt, Menschen zuzuhören, allen die gleiche Zeit und Chance zu
schenken, sich kurz in Schicksale hineinzudenken und möglichst viel davon in
seine Entscheidungen einfließen zu lassen, der wird in den Rechtsberufen
Erfüllung finden. Und zugleich einen kleinen Beitrag zu einem besseren
Zusammenleben leisten. Und feststellen, dass Lebenswege faszinieren: in ihrer
Buntheit, Skurrilität, aber auch in ihrer Traurigkeit.
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