Raus aus der Abschottung, hinein in die moderne Welt!

Text für den falter 3/14
Essay:  Oliver Scheiber
Voller Elan hat der neue
Justizminister Wolfgang Brandstetter in ersten Interviews Visionen gezeigt –
vor allem bei der Reform des Strafrechts. Dem Strafrecht gilt auch traditionell
das öffentliche Interesse. Und es gibt da ja wichtige Aufgaben: etwa die
dringend notwendige Durchsetzung einer effizienten Abschöpfung kriminellen
Vermögens. Ungeachtet des medialen Fokus auf das Strafrecht ist die Justiz aber
ganz überwiegend mit Fragen des Zivil-, Unternehmens-, Wohn- und Familienrechts
beschäftigt. Österreich benötigt auch hier dringend Reformen.
Wo stehen wir heute?
Justizexperten sprechen oft von einem Stillstand der Justizpolitik seit Ende
der Kreisky-Ära. Tatsächlich haben die schwache Stellung parteifreier Justizminister
in den Regierungen von 1986 bis 2000 und die häufigen Ministerwechsel danach
Reformen erschwert. Trotzdem hat sich die Justiz seit Ende der 1970er-Jahre
massiv verändert. Zivil- und Strafrecht wurden leise aber nachhaltig reformiert.
Die Einführung der so genannten Diversion (Täter-Opfer-Ausgleich, gemeinnützige
Arbeiten) zur Jahrtausendwende bedeutete die größte Weiterentwicklung des Strafrechts
seit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1975.
Und doch hinkt die Justiz
anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes nach: Diversity-Konzepte, wie man
sie an Universitäten längst kennt, sind den Gerichten ebenso unbekannt wie ein
Social Media Management. Dem gesellschaftlich so wichtigen Strafvollzug, seinen
Missständen und seinem Reformbedarf hat nicht zuletzt der Falter im abgelaufenen Jahr breiten Raum gewidmet.
Für die Justiz gilt ähnliches
wie für das Gesundheits- oder Bildungssystem: Österreich liegt gut, aber es
bedarf neuer Reformen und Strukturen, um auch in Zukunft zu den Besten zu
gehören. Evaluierungen von Europarat und Europäischer Union bescheinigen
Österreich, über eines der effizientesten Rechtsprechungssysteme in Europa zu
verfügen.
Aber die Qualität eines
Gerichtsverfahrens ist nicht nur an der Verfahrensdauer zu messen. Urteile
unterliegen der Überprüfung im Wege der Rechtsmittel. Daneben fehlt ein
ergänzendes Qualitätssicherungsinstrument, angelehnt an die Vorbilder des
Bildungs- oder Gesundheitswesen. Was spricht etwa gegen Evaluierungen in Form
von Befragungen von Beteiligten, Zeugen und Anwälten? Sie könnten Auskunft
geben, über die sozialen Kompetenzen der Richter und Staatsanwälte, etwa wenn
es um so banale, aber wertvolle Eigenschaften wie Höflichkeit und Pünktlichkeit
geht.
Als zentrales Ziel der Justiz bietet sich der Schutz der Grundrechte durch die Gewährung eines fairen Verfahrens für alle
an. Der gleiche Zugang aller  Bürger zum
Recht
erfordert die Beseitigung finanzieller Hürden, aber
auch eine einfache Sprache und eine hohe Verständlichkeit
in schriftlichen Erledigungen, bei
Informationsmaterial und im Verhandlungssaal.
Hilfe für Benachteiligte vor
Gericht
Die Formulierung eines
solchen Ziels
setzt wichtige Fragen auf die Tagesordnung: soll
nicht eigentlich jeder Verdächtige im Strafverfahren durchgehend anwaltlich
vertreten sein, um gleiche Verteidigungsmöglichkeiten vor Gericht zu garantieren?
Wie sichern wir die Position verletzlicher Personengruppen (Alte, Kinder,
psychisch Kranke, Fremdsprachige etc.) vor Gericht besser ab als heute? Was
spricht noch gegen die Audio/Videoaufzeichnung jeder gerichtlichen Vernehmung
und Verhandlung als bewährtes Qualitätssicherungsinstrument – die Aufzeichnung
schützt Zeugen vor Unfreundlichkeiten des Richters und diesen vor falschen
Unterstellungen?
Eines der wichtigsten
Grundrechte ist freilich die Fairness des Verfahrens und damit die
Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Sie
ist der wichtigste Baustein des Rechtsstaates und
einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Dabei geht es nicht (nur) um die
unabhängige Position und Unversetzbarkeit des einzelnen Richters, sondern vor
allem um die Unabhängigkeit des Rechtsprechungssystems. Unabhängigkeit ist kein
Selbstzweck, sie bedeutet eine Verpflichtung der Justiz und die Garantie eines
fairen und gleichen Verfahrens für alle Menschen. Wie erfüllt man dieses
Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit als Recht der Bevölkerung mit
Leben?
Der einfache Zugang zu
Gerichtsverfahren beginnt bei der baulichen und für den Internetauftritt
notwendigen Barrierefreiheit
und reicht über Vorgaben für die durchgehende, umfassende
Dolmetschung
bis zu vernünftigen Gebühren. Österreich hat den
höchsten Kostendeckungsgrad aller europäischen Justizsysteme – ein Warnsignal,
keine Erfolgsmeldung, denn die Gebühren sind, gerade im Familienrecht, zu hoch.
Auch Kommunikation und
Sprache bei Gericht benötigen einen Paradigmenwechsel, der die Universitäten
einschließt. Juristinnen und Juristen werden nach wie vor zur Unverständlichkeit
erzogen. Auch gut gebildete Menschen können vielfach weder den Verlauf einer
Verhandlung richtig deuten noch den Sinn gerichtlicher Entscheidungen erfassen;
oft ist für den Laien nicht erkennbar, wer denn nun Recht bekommen hat. Das
liegt oft an einfachen Dingen: die Verwendung des Familiennamens macht einen
Text leichter verständlich als die Bezeichnung „Kläger und Gegner der
gefährdeten Partei“. Urteile wie auch Internetseiten und Presseaussendungen von
Höchstgerichten bieten positive Beispiele einer neuen Sprache. Die Texte des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Internetseiten
österreichischer Höchstgerichte etwa zeichnen sich zumeist durch eine hohe
Verständlichkeit
aus.
Menschengerechte
Kommunikation, Verständlichkeit und einfache Sprache sind Ziel
und Personalauswahlkriterium einer modernen
Gerichtsbarkeit. Davon ist Österreichs Justiz noch weit entfernt – viele
Gemeindeämter, Finanzämter oder Bezirkshauptmannschaften sind da einige
Schritte weiter; die Justiz muss daher das Rad nicht neu erfinden. Die Vereinfachung
des Zugangs zum Recht umfasst den Entwurf von verständlichem Informationsmaterial,
die flächendeckende Einrichtung von Servicestellen und eine engagiert gelebte
Informations- und Anleitungskultur im Verhandlungssaal und Gericht.
Der Richter als Mediator
Noch vor zwanzig Jahren
mussten alle Beteiligten und Zeugen im Verhandlungssaal während ihrer
Einvernahme stehen, mitunter stundenlang. Es gab keine adäquate Möglichkeit,
mitgebrachte Unterlagen vor sich abzulegen. Dies hat sich grundlegend geändert.
Befragte Personen sitzen nun an einem Tischchen, auf dem für Unterlagen wie
auch ein Glas Wasser Platz ist. Diese Veränderung ging Hand in Hand mit der
neuen Architektur des Gerichtssaals – helles Holz und Glas haben die frühere
dunkle Möblierung abgelöst, die Richterbank ist nicht oder nur mehr unmerklich
erhöht. All diese Veränderungen signalisieren den Gedanken der Kommunikation
auf Augenhöhe.
Dieser Gedanke bestimmt auch
das moderne Prozessrecht. Die letzten beiden Jahrzehnte haben Institute wie
Mediation
, Tatausgleich, Kronzeugenmodelle und Familiengerichtshilfe gebracht. Diese Neuerungen stellen Richterschaft wie
Anwaltschaft vor neue Herausforderungen. Sehr viel mehr als früher geht es
heute in jedem einzelnen Gerichtsverfahren darum, den gestörten Rechtsfrieden
dauerhaft wiederherzustellen, Probleme bei der Wurzel zu packen und
verletzliche Personengruppen zu schützen.
Die Palette der Maßnahmen,
die Gerichte heute anwenden, ist wesentlich breiter als noch vor zwanzig
Jahren. Der Moderation und Leitung eines gerichtlichen Verfahrens kommt
gestiegene, ja zentrale Bedeutung dafür zu, ob die Verfahrensparteien die
gerichtliche Intervention als positiv oder negativ werten. Vor allem deshalb
hat die Persönlichkeitsbildung der Richter gegenüber den juristisch-technischen
Fähigkeiten so an Bedeutung gewonnen. An großen traditionellen Richterakademien
wie jener Frankreichs oder an den neuen Akademien der jüngeren europäischen
Demokratien trägt man dem Rechnung. Österreich fehlt eine solche, in EU-Staaten
übliche Justizakademie. Ihre Gründung könnte einen Quantensprung in der
Ausbildung bringen.
In der Hauptsache geht es
darum, dass Richter und Staatsanwälte menschengerecht agieren und
kommunizieren; eine ihrer zentralen Fähigkeiten muss jene zum Zuhören sein.
Empathie- und Dialogfähigkeit sind für den Rechtsberuf um nichts weniger
wichtig als die Gesetzeskenntnis.
Wir brauchen aber auch einen neuen Umgang mit Politik und Medien. Das Verhältnis von Justizressort
und Richterschaft zur Politik
ist derzeit von Abgrenzung
geprägt. Sie ist notwendig, wenn es um die Abwehr parteipolitischer
Einflussnahme geht. Sie ist verfehlt, wenn dadurch der Austausch zwischen
Politik und Justiz unterbleibt.
Auch Nationalratsabgeordnete können nur dann kompetent über
justizpolitische Fragen entscheiden, wenn ihnen gute Informationen zur
Verfügung stehen, wenn sie also auch von Justiz und Berufsvertretungen aus
erster Hand und regelmäßig über die Herausforderungen, Sorgen und Bedürfnisse
der Gerichtsbarkeit informiert werden.
Die Justiz muss mit der
Politik diese Begegnung auf Augenhöhe finden. Politische Arbeit, sei es in der
Exekutive oder im Parlament, sollte anerkannt werden. Parlamentarische
Untersuchungsausschüsse als wichtiges politisches Aufklärungselement in der
Demokratie verdienen Unterstützung und Respekt der Justiz.
Einer neuen Orientierung
bedarf auch das Verhältnis von Justiz, Richterschaft und Medien
. Die Rolle der Medien als public watchdog ist für das demokratische Gefüge einer Gesellschaft
unverzichtbar (ebenso wie jene von NGOs). Die letzten Jahrzehnte haben deutlich
gemacht, dass häufig die Medien als öffentliches Kontrollorgan einspringen,
wenn die Strafjustiz aus welchen Gründen auch immer ihrer Rolle nicht so
nachkommt, wie man sich das wünschen mag.
Nicht wenige für die Zweite
Republik wichtige Strafverfahren (vom AKH-Skandal bis zur Hypo-Affäre) kamen
erst durch den Druck der Medien (so richtig) in Gang. D
ie Leistungen einer kompetenten Generation von Aufdeckungsjournalisten
wie Florian Klenk
, Ulla Kramar-Schmid, Kurt Kuch und Michael Nikbakhsh
verdienen volle Anerkennung
.
Umgekehrt waren Phasen eines
schwächelnden Aufdeckungsjournalismus zu beobachten, in denen die Justiz durch
erfolgreiche Aufklärungsarbeit in Erscheinung getreten ist. Medien und
Strafjustiz funktionieren also oft wie kommunizierende Gefäße. Justiz und Medien
sind zwei Spieler im demokratischen Gefüge, die sich gegenseitig ergänzen.
In der lange verschlafenen
Öffentlichkeitsarbeit
hat die Justiz zuletzt viel aufgeholt. Zwischenzeitig
geht es aber um mehr als das Kommentieren und Erläutern anhängiger Verfahren.
Öffentlichkeitsarbeit bedeutet heute einerseits die Nutzung neuester Medien,
andererseits auch ein Hinausgehen der Gerichte in die Zivilgesellschaft
. Es ist wichtig, dass Richter und Staatsanwälte
künftig vermehrt an Schulen vortragen und diskutieren. Die Justiz hat hier,
genauso wie die Polizei, eine Informations- und Präventionsaufgabe zu erfüllen.
Sie muss um Vertrauen für ihre Arbeit werben und benötigt dafür auch
Ressourcen.
Und Europa?
Gedanken an die Zukunft sind
auch im Justizbereich unvollständig ohne Bezugnahme auf das Europäische Projekt.
Der Aufbau des gemeinsamen Europäischen Rechtsraums ist das spannendste
rechtspolitische Unterfangen der Gegenwart; es verändert und bereichert die
Arbeitswirklichkeit der österreichischen Richter und Staatsanwälte wie auch
Rechtsanwälte und Notare. Der Justiz ist für die nächsten Jahre noch mehr an
Internationalisierung und Europäisierung
zu wünschen; zuletzt hat sich Wien in die
Harmonisierungsprozesse auf europäischer Ebene viel zu wenig eingebracht. Die
Entsendung einer größeren Zahl an Experten in die europäischen Einrichtungen,
insbesondere in die Europäische Kommission, böte Österreich die Chance,
europäische Entwicklungen stärker mitzugestalten.
Das Europarecht bestimmt unser Rechtssystem bereits in einem solchen
Ausmaß, dass alle Bewerber für das Richteramt zumindest einige Wochen bei den
Einrichtungen in Brüssel, Luxemburg, Den Haag oder Strassburg verbringen
sollten, um den Gesetzgebungsprozess und die Gerichtsbarkeit auf europäischer
Ebene kennenzulernen.
Die Justiz hat eine lange
Tradition der Abschottung gegenüber der Außenwelt hinter sich. Das Selbstbild
der Justiz ändert sich derzeit radikal; umgekehrt beurteilen Politik, Medien
und Gesellschaft die Justiz viel kritischer als noch vor einigen Jahren. Die
neue Legislaturperiode bietet die Chance, die Justiz auf neue Wege zu führen
und im Spitzenfeld europäischer Rechtsprechungssysteme zu halten.   

Zur Person: Der Autor ist Richter und
Universitätslektor in Wien; er war Mitarbeiter im Büro der früheren
Justizministerin Maria Berger und leitet derzeit das Bezirksgericht Meidling.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
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