Umbruch im Rechtsstaat

Beitrag zum Sammelband „Zu Ende gedacht – Österreich nach Türkis-Blau“ hrsg von Nikolaus Dimmel und Tom Schmid (2018); Bestellungen unter: https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=875&action=cover

Umbruch im Rechtsstaat
Rechtspopulistische
und Rechtsaußen-Parteien identifizieren klassischerweise zwei große
Außenfeinde: Medien und Gerichtsbarkeit. Aktuell beobachten wir dies in den
USA, in der Türkei, in Polen und Ungarn. Medien und Justiz bilden das Korrektiv
zur Präsentation falscher Daten und Zusammenhänge, mit denen alle
Rechtspopulisten arbeiten. Es überrascht daher nicht, dass die Neuauflage von
Schwarz-Blau unmittelbar nach Amtsantritt den Anchorman der wichtigsten
Nachrichtensendung des Landes, Armin Wolf, attackierte. Wolf zählt zu den
führenden Journalisten des deutschsprachigen Raums und ist vielfach
ausgezeichnet. Er ist damit das Gesicht des freien Qualitätsjournalismus im
Land. Im nächsten Schritt ist, nachdem bereits erste Gerichtsentscheidungen
zugunsten Wolfs ausgefallen sind, mit Kritik der Regierung an der Justiz zu
rechnen. Nicht anders war es unter Schwarz-Blau I. Der politisch unliebsame
Jugendgerichtshof wurde aufgelöst, die FPÖ führte Kampagnen gegen einzelne
Richter, die für FPÖ-Causen zuständig waren. Jörg Haider verhöhnte den
Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes. Rechtspopulisten und extreme Rechte
greifen nach dem staatlichen Sicherheitsapparat, sie schwächen und
delegitimieren dagegen andere staatliche Institutionen. Spott gegenüber Justiz
und Parlament gehören zum Einmaleins der extremen Rechten. Als „multikriminelle
Gesellschaft“ sieht etwa der Linzer Professor Andreas Hauer Europa, und an
ihrer Entstehung trage der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Mitverantwortung. Die schwarz-blaue Regierung hat als ihre markanteste
justizpolitische Aktion Hauer zum Richter des Verfassungsgerichtshofs nominiert
und damit eine rote Linie überschritten: sie bringt jemanden ans höchste
Gericht, der den Grundkonsens des Nachkriegseuropa, die Absage an Nationalismus
und Hass, nicht mitträgt. Die Nominierung legitimiert Hauers Aussage, die
gleich mehrere Botschaften mittransportiert: sie stellt die Assoziation von
mulitikulturell und kriminell her, unterstellt somit anderen Kulturen generell
Kriminalität. Zugleich wird die Ablehnung supranationaler Gerichte und eine
Absage an Europa mitkommuniziert; eine Haltung, die alle Nationalisten Europas
verbindet. Es spiegelt wohl die Angst vor der neuen Regierung wieder, dass mit
Heinz Mayer ein einziges (emeritiertes) Mitglied der heimischen Rechtswissenschaft
die Stimme gegen diese Personalie erhoben hat. Die Nominierung der Höchstrichter
ist bedeutend; bleiben diese doch bis zum 70. Lebensjahr im Amt. Regierungen
treffen damit weit über ihre eigene Amtszeit hinaus gesellschaftspolitische
Weichenstellungen. Die Umbenennung des Justizministeriums in ein Ministerium
für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz ist unschwer als auch
nominelles Zurückstutzen der Justiz zu lesen. Aber mit welcher Justiz hat es die
Regierung zu tun?

Oscar Bronner,
einer der wichtigsten Journalisten im Nachkriegsösterreich und Gründer des
Nachrichtenmagazins profil und der
Tageszeitung Der Standard, hat in den
1960er-Jahren die personelle Kontinuität der Richterkarrieren nach dem Nazi-Regime
thematisiert und sich einen Schlagabtausch mit Christian Broda geliefert.
Broda, selbst NS-Opfer und auf Grund der von ihm inspirierten Reformen des
Rechtssystems bis heute wichtigster Justizminister der Zweiten Republik, war
nicht bereit, NS-belastete Richter ähnlich wie in Deutschland mittels
Pensionierungen aus dem Dienst zu entfernen. Bis in die 1990er-Jahre sprachen NS-affine
Richter Recht. Danach fand eine merkliche Öffnung der heimischen Justiz statt,
die vor allem durch den EU-Beitritt angetrieben war. Austauschprogramme für
Richterinnen und Richter quer durch die EU haben zu einem offenen, liberalen
Klima beigetragen. Österreichs Richterschaft heute entspricht wohl am ehesten
einem liberal-konservativen Milieu; die Sympathisanten des Rechtspopulismus
sind eine Minderheit, rechtextreme Positionen werden breit abgelehnt. Österreichs
Richterinnen und Richter sind bei ihrer ersten Ernennung sehr jung, im Allgemeinen
führt die Biographie über Schule und Studium direkt ins Richteramt.
Recht als Privileg der Wohlhabenden

Die neue
Regierung wird Tendenzen zu einer Klassenjustiz stärken. Schon jetzt gehören
Österreichs Gerichtsgebühren zu den höchsten Europas und erschweren den Zugang
zum Recht. Der wöchentliche Amtstag der Bezirksgerichte, an dem jede/jeder
kostenlos Rechtsauskunft bei Gericht erhält und auch Anträge direkt beim
Richter/bei der Richterin zu Protokoll geben kann, ist ein österreichisches Spezifikum
und ein wichtiges Element einer bürgernahen Justiz. Man wird besonders darauf
achten müssen, dass der Amtstag nicht unter dem Scheinargument des Sparzwangs
abgeschafft wird. Denn die Verfahrenshilfe wirkt nur für Personen mit einem Einkommen
bis zu 1.000,- EUR. Für eine breite Schicht von Arbeitern und Angestellten sind
Gerichtsverfahren dagegen unerschwinglich geworden.
Kanzler und
einzelne Regierungsmitglieder lassen erkennen, dass wissenschaftliche Daten und
Erkenntnisse für die Justizpolitik künftig wenig Rolle spielen werden. Die schwarz-blaue
Regierung wird gewisse Trends, die schon länger Schwachpunkte eines an sich
guten Justizsystems waren, verstärken: so wird das
Verbandsverantwortlichkeitsgesetz kaum angewandt, was Unternehmen zu Gute kommt
und kleine Mitarbeiter beschädigt. Die Verbandsverantwortlichkeit sieht die
Möglichkeit vor, nicht nur Personen, sondern auch Firmen strafrechtlich zu
belangen. Anklagen wegen Fahrlässigkeit etwa nach Arbeitsunfällen ergehen aber
nach wie vor gegen Arbeiter der unteren Ebene, während die Unternehmen
strafrechtlich ungeschoren bleiben und damit auch bei gehäuften Fehlleistungen
ihre Gewerbeberechtigung behalten.
Obwohl die
Kriminalität in Österreich seit Jahrzehnten massiv rückläufig ist, zeichnet die
Regierung ein Bild der Unsicherheit und Gefahr. Die Justiz ihrerseits setzt
viel an Ressourcen für Kleinkriminalität wie Ladendiebstähle ein, während
Umweltkriminalität kaum und Korruption zu wenig entschieden verfolgt werden. Eine
forcierte Korruptionsbekämpfung ist von einer Regierung, die erklärtermaßen
Anliegen der Wirtschaft und Industrie vertritt, nicht zu erwarten. Zweckmäßiger
als 2000 neue Polizisten wäre freilich eine Aufrüstung der ExpertInnen der
Korruptions- und Umwelteinheiten.

Gesellschaft und
Justiz gehen, nicht nur in Österreich, mit Minderheiten oft harsch um. Ausländische
Staatsbürger werden härter angefasst, schneller in Untersuchungshaft genommen,
strenger bestraft, seltener vorzeitig entlassen. Negative Trends werden sich
unter Schwarz-Blau verstärken. Die Standards der Asylverfahren liegen schon
deutlich unter dem Niveau des sonst in Österreich Üblichen und von der
Menschenrechtskonvention Geforderten; deshalb wird ein extrem hoher Anteil
erstinstanzlicher Entscheidungen aufgehoben. Im von der Regierung verbreiteten
Klima, das Zuwanderung und Migration permanent als problematisch thematisiert,
werden sich diese Fehlentwicklungen verstärken. Dies gilt auch für die
Stigmatisierung von Suchtmittelabhängigen, die traditionell selektiv verfolgt
werden. Polizeiliche Ermittlungen werden sich noch stärker auf die sozial
schwächste Gruppe drogenkranker Menschen konzentrieren, nämlich Wohnungslose
und Schwerkranke, die in U-Bahn-Stationen und bei Bahnhöfen Drogen kaufen. Drogenkranke,
die besseren Schichten angehören und in Clubs oder Wohnungen Kokain
konsumieren, bleiben weitgehend unbehelligt. Der massive Ressourceneinsatz im
Bereich der Ladendiebstähle und des bloßen Drogenkonsums steht im krassen
Missverhältnis etwa zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; die
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, bundesweit zuständig für die
schwersten Wirtschaftsverbrechen, nimmt kaum einmal Verdächtige in
Untersuchungshaft. Das wichtige Mittel gegen Wirtschaftskriminalität, die
rasche Beschlagnahme und Sicherstellung krimineller Gelder, funktioniert in der
Praxis nicht im nötigen Ausmaß.

Die mangelnde
Sensibilität der schwarz-blauen Regierung für Kranke hat sich bereits in der
Diskussion um das Erwachsenenschutzgesetz (Sachwalterschaftsrecht) gezeigt; die
Ambitionen im Strafvollzugs- und Massnahmensektor und der damit verbundenen
psychiatrischen Versorgung werden ähnlich gering sein. Reformen der letzten
Legislaturperiode zeigen, wie mit einfachen Mitteln viel erreicht werden kann:
die Umsiedlung der Haftanstalt Korneuburg in eine architektonisch moderne
Struktur (mehr Glas, breitere Gänge, mehr Raum) haben zu einem Rückgang von zwei
Drittel der von Häftlingen konsumierten Psychopharmaka geführt. Mit der
Einführung von Gesprächsforen für jugendliche Straftäter, an denen Eltern,
Lehrer, Polizei, Jugendamt, Staatsanwaltschaft und Gericht teilnehmen, konnte
die Zahl jugendlicher Untersuchungshäftlinge massiv reduziert, in Wien eine
Zeit lang auf Null gebracht werden. Unter der schwarz-blauen Regierung droht nun
eine weitere Stärkung der Justizwache, also gleichsam eine Militarisierung des
Strafvollzugs zulasten der Planstellen für medizinisches Personal, für
Sozialarbeiter und Psychologen.
Politisch denken, Klassenjustiz verhindern

Recht ist ein
großartiges Gestaltungsmittel. Kreativ eingesetzt ist es ein Instrument des
empowerment. Diese Möglichkeiten gilt es Studierenden der Rechtswissenschaft künftig
näherzubringen. Darüber hinaus ist die Fähigkeit zum politischen Denken zu
fördern. Gerade die Justiz benötigt diese Kompetenz, die nichts mit einer
parteipolitischen Durchdringung zu tun hat, um die Bedeutung ihrer Handlungen
einschätzen zu können. Ein unpolitischer Zugang, der ja immer Haltungslosigkeit
einschließt, wird bei der Justiz zur Gefahr für das Staatswesen.

Die Justiz ist
immer und derzeit besonders gefordert, den Rechtsstaat zu verteidigen und zu
garantieren. Wie weit Österreich auf diesem Weg ist, ist schwer einschätzbar:
der so genannte Fall Aula aus 2015 – die Staatsanwaltschaft Graz hatte aus der
Zeitschrift Aula rechtsextreme Thesen zur Kriminalität von KZ-Insassen
unkritisch übernommen – hat einen Rückschlag bedeutet. Auf der anderen Seite
sehen wir heute eine Justiz, die geflüchteten JuristInnen aus aller Welt
Praktika anbietet und sich um ihre Eingliederung in den österreichischen
Arbeitsmarkt bemüht; junge Richterinnen und Richter arbeiten oft in der
Flüchtlingshilfe oder nehmen Asylwerber bei sich zu Hause auf. Seit zehn Jahren
besuchen künftige Richterinnen und Richter zeitgeschichtliche
Ausbildungsmodule, sie beschäftigen sich mit der NS-Zeit und ihrer
Aufarbeitung, mit vergangenen und aktuellen autoritären Regimen und diskutieren
Strategien, wie die Justiz den Rechtsstaat sicherstellen kann. Die Lage ist
insgesamt genau so widersprüchlich und unübersichtlich, wie sich das für unsere
österreichische, europäische und westliche Gesellschaft insgesamt sagen lässt.

Machtwille und
autoritäre Affinität der schwarz-blauen Regierung sind nicht zu unterschätzen.
Mehrere Protagonisten und viele ihrer Mitarbeiter sind in Burschenschaften
organisiert, die ein undemokratisches System im Kleinen repräsentieren. Die
Aufnahmeverfahren der Burschenschaften sind ein Demütigungsritual, in dem die
neuen Mitglieder gebrochen werden. In Verbindung mit deutschnationalem
Gedankengut ist das die denkbar schlechteste Vorbereitung auf
Verantwortungsübernahme im Rechtsstaat.

Wie damit
umgehen? Die Ursachen für die Irrationalität und die Verwerfungen des
politischen Lebens in Österreich, aber auch global, liegen primär in der aus
den Fugen geratenen Vermögens- und Einkommensverteilung. In Verbindung mit
unzureichender politischer und geschichtlicher Bildung und den Eigenheiten der
social media erleichtert das das Schüren von Neid und Hass; dies kommt dem
sündenbockgetragenen und auf Verschwörungstheorien aufbauenden Rechtspopulismus
entgegen. Diese tieferliegenden Ursachen, die zur Bildung der schwarz-blauen
Regierung geführt haben, lassen sich für die österreichische Opposition und die
Zivilgesellschaft kurzfristig nicht beheben. Es geht im Moment darum, unsere
demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen vor dauerhaften Schäden zu
bewahren. Denn der Regierungseintritt der FPÖ bedeutet keine politische Normalität.
Umfärbungen in Ministerien und staatsnahen Betrieben hat es immer gegeben. Die
Besonderheit des Regierungseintritts der extremen Rechten liegt im Bruch mit
dem europäischen Grundkonsens des „Nie wieder“, auf dem die europäische
Einigung und die europäischen Staaten nach 1945 aufbauen. Um dieses
gesellschaftliche Fundament der Solidarität, des Friedens, der Freiheit und
Antifaschismus gilt es kurzfristig zu kämpfen. Die US-amerikanische Justiz liefert
uns dabei das beste Vorbild. Den autoritären und von Gewaltentrennung wenig
gerührten Bestrebungen von Präsident Trump hat die amerikanische Justiz gleich
in den ersten Wochen von Trumps Amtsperiode einiges entgegengesetzt. In der
Frage der Einwanderungsdekrete hat die Justiz ihre Unabhängigkeit bewiesen;
Urteile auch von kleinen Gerichten der ersten Instanz wurden sehr schnell (oft
binnen weniger Tage) und mit langen, rechtlich exzellenten Begründungen
schriftlich ausgefertigt. Das System der checks
and balances
der staatlichen Macht hat funktioniert. Österreich, wo
Verfassungsbewusstsein und Zivilcourage des öffentlichen Dienstes weniger
ausgeprägt sind und wo vorauseilender Gehorsam verbreitet ist, ist hier
gefordert. Und dennoch darf man optimistisch sein, dass nach 70 Jahren
Demokratie die entscheidenden Player, zu denen die Justiz und die Rechtsberufe
gehören, in ihrem Grundrechtsbewusstsein so gefestigt sind, dass sie einem
breiteren Angriff auf den Rechtsstaat entschlossen Widerstand leisten werden. Das
wird große Konzentration und das Engagement sehr vieler erfordern, wenn die
Regierung weiterhin mit vielen verbalen, inhaltlichen und personellen
Einzelmaßnahmen ein Klima schafft, das der Schaffung autoritärer Strukturen und
Verhältnisse wie in Ungarn oder Polen entgegenkommt.  

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Gerichtsvorsteher
in Wien. Er ist Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Rechts- und
Kriminalsoziologie und Lehrender an der Universität Wien. Er gibt hier seine
persönliche Ansicht wieder.
Bibliographie:
Alain Badiou,
Wider den globalen Kapitalismus, Ullstein (2016).
Oscar Bronner,
Die Richter sind unter uns. Schriften zur Zeit – Forum Sonderheft 1 (1965).
Anatole France,
Crainquebille, Hans Carl Verlag (1951).
Simon Kravagna,
Schwarze Dealer – weiße Behörden. Selektive Strafverfolgung von schwarzen
Dealern in Wien. Dissertation an der Universität Wien (2005).
Walter
Pilgermair, Wandel in der Justiz, Verlag Österreich (2013).
Henry David
Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Diogenes (2010).
Maurizio Torchio,
Das angehaltene Leben, Zsolnay (2017).

Werner Vogt, Die
Wahrheit hinter 16 Lügen, Die Presse online 17.5.2013, https://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1403710/Die-Wahrheit-hinter-16-Luegen
(Stand 24.3.2018).
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