«In dieser Umgebung verschlossen ihm Ehrfurcht und Angst den Mund.»

«In dieser Umgebung verschlossen ihm Ehrfurcht und Angst den Mund.»

Sprache und Recht

(Anm.: dieser Text erschien in der Literaturzeitschrift wespennest Nr. 179 im November 2020. Die Ausgabe hat das Schwerpunktthema „Sprache“. Mehr zu wespennest hier: http://www.wespennest.at/w_zeitschrift.php.)

 

Sprache war gesellschaftspolitisch immer ein Machtfaktor. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, ob Juristinnen und Juristen, Spekulanten, Jugendgangs oder die gerade politisch Mächtigen entwickeln eigene sprachliche Codes, die zusammenschweißen und identitätsstiftend wirken. Sie grenzen sich in ihrer Sprache ab, um unter sich zu bleiben. Das Beherrschen der sprachlichen Feinheiten ist Voraussetzung zum Eintritt in eine Gruppe. Das gilt auch für Berufsgruppen. Wir können eine Gärtnerei aufsuchen, eine Schlosserei, einen Schlachthof, eine Spitalsambulanz oder ein Gericht: Überall stoßen wir auf uns fremde Worte, Phrasen und Codes. Unangenehm wird das dort, wo wir von einer Berufsgruppe im besonderen Maße abhängig sind und dringend verstehen wollen, was vor sich geht: Erläutert uns die Ärztin unsere Erkrankung und Behandlungsalternativen in unverständlicher Fachsprache, erklärt uns die Richterin im Prozess um die Wohnungskündigung das Urteil in uns unbekannten Fachworten, so ist das nicht nur demütigend, sondern kann dramatische Folgen haben, wenn wir keine Unterstützung finden.

Sprache ist also ein Machtfaktor, denn ihr Nichtbeherrschen erzeugt Ohnmacht. Ohne Sprache kann man nicht protestieren, nicht nachfragen, keinen Antrag stellen, sich nicht informieren.

Das Recht an sich ist ebenfalls ein zentraler gesellschaftlicher Machtfaktor, und das Recht arbeitet ganz wesentlich mit Sprache. Sie stellt ein unverzichtbares Werkzeug der Juristinnen und Juristen dar. In der Verbindung von Recht und Sprache liegt ein enormes Machtpotenzial. Dieses Machtpotenzial lässt sich zum Besten aller einsetzen, aber auch zu Abgrenzung und Ausgrenzung. Die Kraft dieser Verbindung von Recht und Sprache zeigt sich in einem gelungenen Plädoyer von Staatsanwältin oder Verteidiger in einem Geschworenenverfahren.

Bevor wir näher in die Materie eintauchen, stellt sich für das Rechtsleben sowie für andere Sektoren und Berufsfelder die Frage: Wie wichtig ist die Fachsprache? Und wem dient sie?

Kommunikation und Sprache vor Gericht unterscheiden sich grundlegend von Kommunikation und Sprache im Alltag. Aber gibt es dafür fachliche Notwendigkeiten? Die hier vertretene These: in der großen Mehrzahl der Fälle nicht. In der Regel ließe sich das meiste rechtlich Relevante in einfachen Worten, auch in Alltagssprache ausdrücken. Das Pflegen der Fachsprache ist eine undemokratische Überheblichkeit, die der Gruppe der Juristinnen und Juristen eine abgehobene Stellung verschafft, Abhängigkeiten, Ohnmacht und soziale Abstufungen erzeugt und zementiert. Die rechtliche Welt könnte, so wie die gesamte Welt, ganz anders aussehen. Um diese These näher auszuführen, lenken wir unseren Blick auf die unterschiedlichen Bereiche, in denen Recht und Sprache aufeinander angewiesen sind: zunächst zu den Gesetzen, im Weiteren zur Rechtsanwendung, also zum Alltag der Gerichte, Behörden, der Anwalts- und Notariatskanzleien. Denn die Bürgernähe des Rechts kann auf verschiedenen Ebenen gewonnen und verloren werden: Nur wenn sowohl Gesetze als auch Urteile und Bescheide leicht verständlich sind, wird der Rechtsstaat transparent. Sind Gesetze oder Entscheidungen schwer verständlich, dann beeinträchtigt das den Zugang zum Recht und erschwert die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Staat und Rechtssystem.

Allen rechtlichen Feldern ist gemeinsam, dass viel mit Sprache und Texten gearbeitet wird. Wenige Berufe sind etwa so auf die Sprache und auf Ausdrucksfähigkeit angewiesen wie das Richteramt – nicht umsonst stecken in der Tätigkeitsbeschreibung der Gerichte, der Rechtsprechung, beide Worte: Recht und Sprache. Jede einzelne Richterin, jeder einzelne Richter produziert jährlich hunderte bis tausende Seiten zum Teil recht individueller Texte. In Zivilsachen tätige Bezirksrichterinnen und -richter haben in Österreich rund hundert Urteile pro Jahr auszufertigen, die im Schnitt zwischen zehn und fünfzehn Seiten lang sind. Zahlreiche Vertreter der Rechtsberufe beherrschen nur die in den Urteilen verwendete Fachsprache beziehungsweise Schreibtechnik. Die enge Verbindung von Sprache und Recht manifestiert sich aber darin, dass viele große Dichter (es sind in den vergangenen Epochen vor allem Männer) eine juristische Ausbildung absolviert haben: Goethe, Kleist, Grillparzer, Storm, Kafka oder Tucholsky. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Wiener Rechtsanwalt Walther Rode ein wortgewaltiger öffentlicher Redner und Autor, und zeitgenössische Juristen schließen an diese Tradition an: der Richter Janko Ferk etwa oder der Anwalt und Universitätsprofessor Alfred Noll. Juli Zehs Biografie kennt den Schritt von der Rechtswissenschaft zur freien Schriftstellerin und weiter zur Verfassungsrichterin.

Die Sprache der Gesetze

Irmgard Griss, ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und später Parlamentsabgeordnete, hat erst kürzlich wieder an die Gesetzgebungspraxis unter Maria Theresia erinnert. Die Kaiserin ordnete an, jedes neue Gesetz einem «buta ember», einem einfachen Mann, vorzulesen. Erlassen werden durfte das Gesetz nur, wenn er es verstand. Diesem Geist folgt auch das 1811 erlassene Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch. Wir finden darin einen berühmten Paragrafen, der seit mehr als zweihundert Jahren die Grundlage des Persönlichkeitsschutzes in Österreich bildet. Er lautet: «§ 16. Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.» Im selben Gesetzbuch hat man zentrale Begriffe und Struktur des Schadenersatzrechts in einfachen Worten so definiert: «§ 1293. Schade heißt jeder Nachtheil, welcher jemanden an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefüget worden ist. Davon unterscheidet sich der Entgang des Gewinnes, den jemand nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zu erwarten hat.»

Im 20. Jahrhundert hat sich die Sprache der Gesetze verändert. Der rasche technische und wirtschaftliche Fortschritt hat zur Erlassung einer ungeheuren Menge an Rechtsvorschriften geführt. Gesetze wurden und werden immer häufiger novelliert. Die Tagespolitik will mit Anlassgesetzgebung punkten, sodass Gesetzgebungsprozesse immer schneller ablaufen. Die Sprache des Gesetzgebers leidet. Schwerfällige Gesetzestexte werden mit der Komplexität der modernen Welt erklärt, die auf die Rechtssprache durchschlage. Das stimme so nicht ganz, meint Griss: «Seit Maria Theresia haben sich die Zeiten ja geändert, und niemand kann bestreiten, dass wir heute in einer gänzlich anderen Welt leben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Was sich nämlich nicht geändert hat, sind die Menschen und ihre Aufnahmefähigkeit. Nicht geändert hat sich auch die Möglichkeit, selbst komplexe Sachverhalte einfach und klar zu beschreiben. Man muss sich nur die Mühe und auch die Zeit dafür nehmen.» Das ist wohl ein wesentlicher Punkt: Es ist immer fordernder, einfach und kurz zu formulieren als ausschweifend und unter Einsatz von Fachvokabeln. Die Universitäten tragen bis heute die Verantwortung dafür, den juristischen Nachwuchs zur Unverständlichkeit zu erziehen, anstatt auf den hohen demokratischen Wert der Verständlichkeit hinzuweisen. Das Recht verlangt Präzision. In der Alltagssprache synonyme oder verwandte Begriffe wie Besitz und Eigentum oder Mord und Totschlag tragen im Rechtlichen oft große Bedeutungsunterschiede in sich. Die rechtliche Präzision macht daher vielfach Wortwiederholungen notwendig – sie verlangt, erklärt und entschuldigt aber keine Schachtelsätze und sonstige Fehlleistungen.

Moderne Gesetzgeber besinnen sich heute auf Maria Theresia und entwickeln die Ansätze der Kaiserin weiter. Seit den 1970er-Jahren finden wir verschiedene Modelle, die die Verständlichkeit der Gesetze sicherstellen sollen. Dazu gehören eigene Abteilungen in Ministerien oder Parlamenten, die Gesetzesvorschläge gegenlesen – besetzt mit juristischen Laien und oft in Zusammenarbeit mit Linguistinnen und Linguisten. In Österreich hat die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak vor vielen Jahren Grundlagenarbeit auf diesem Gebiet geleistet. Aus der Vielfalt der Arbeitssprachen heraus hat die Europäische Union Sensibilität, Know-how und diverse Techniken im Umgang mit Text und Sprache entwickelt. Der Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union läuft in allen Amtssprachen der Union ab. Es kommt also schon in der Gesetzeswerdung zu vielen Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen. Sind die finalen Gesetzestexte beschlossen und in alle Sprachen übersetzt, dann treten die Sprachjuristinnen und Sprachjuristen zusammen. Eine Besonderheit Eigenheit der europäischen Gesetzgebung – Juristinnen und Juristen mit besonderen Sprachkompetenzen feilen gemeinsam an der endgültigen Textfassung für alle Amtssprachen. Sprache und Recht sind in keiner anderen Berufstätigkeit so verknüpft wie unter den Sprachjuristinnen und Sprachjuristen. Ihre Sitzungen sind lebendige, faszinierende Prozesse und ein schönes Sinnbild der Kraft, die Europa aus seiner Vielfalt schöpft.

Die Sprache der Gerichte und Behörden

Im öffentlichen Leben Österreichs gibt es wenige Persönlichkeiten, die das Recht einer breiten Öffentlichkeit leicht verständlich näherbringen. Befragungen der Bevölkerung, Diskussionsveranstaltungen und Erzählungen im Bekanntenkreis ergeben immer dasselbe Bild: Die Menschen verstehen die Justiz nicht, und dies beschädigt Akzeptanz und Vertrauen in die Justiz. Die mangelnde Verständlichkeit betrifft die Schriftstücke des Gerichts, die allzu oft aus Fachausdrücken, altertümlichen Begriffen und zu langen Sätzen bestehen. Sie betrifft ebenso mündliche Ausführungen von Richterinnen und Richtern: Wer soll schon in einer Stresssituation verstehen, wann die Berufungsfrist endet, wenn ihm das Gerichtsorgan etwa sagt: «Die Frist zur Rechtsmittelerhebung endet am dritten Werktag ab Urteilsverkündung.» Ganz anders wäre es, würde derselbe Inhalt so vermittelt werden: «Eine Berufung müssen Sie spätestens am kommenden Montag abgeben.» Nicht selten geschieht es, dass Menschen nach einer mündlichen Urteilsverkündung oder nach Erhalt einer schriftlichen Urteilsausfertigung nicht erkennen, wer denn nun den Prozess gewonnen hat.

Der verstorbene Sprachwissenschaftler Florian Menz kam in seiner Forschung zum Ergebnis, dass die Sprache der Justiz auf bestimmte männliche Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sei. Großen Bevölkerungsgruppen, darunter stärker vertreten Frauen, Menschen mit niedriger Bildung, mit Migrationshintergrund und älteren Menschen, sei die Sprache der Justiz dagegen in unterschiedlich hohem Ausmaß fremd. Tatsächlich zeigen Untersuchungen von Urteilen, dass diese sich vor allem an die Berufungsgerichte, also an die Institution Justiz selbst, richten. Dies liegt in der Logik des Systems, denn für die Karrieren der Richterinnen und Richter ist mitentscheidend, ob ihre Urteile vor der Bewertung der Berufungsgerichte Bestand haben. Und so wenden sich Richterinnen und Richter wohl unbewusst vor allem an ihre Kolleginnen und Kollegen in den höheren Instanzen. Die wissenschaftliche Textanalyse weist darauf hin, dass nicht juristisch gebildete Verfahrensbeteiligte möglicherweise die angestrebte, jedoch nicht die tatsächliche Zielgruppe gerichtlicher Schriftstücke sind. Florian Menz wies in seinen Vorträgen auch auf eine hohe Rate von funktionalem Analphabetismus hin – selbst Bemühungen um die Verbesserung der Verständlichkeit schriftlicher Texte kämen nach Menz nur jener kleineren Gruppe von Menschen zugute, die ohnehin einen höheren Bildungsgrad haben. Von der großen Gruppe nicht fundiert gebildeter Menschen kann man dagegen auch mit einfacher abgefassten Texten nicht allzu viele erreichen.

Im Ergebnis ist der Gerichtsalltag damit wohl weniger demokratisch als der Gesetzgeber sich das seit Jahrzehnten wünscht. Denn die Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz verlangt, «dass das Verkündete von den Beteiligten verstanden wird. Die Ausdrucksweise des Gerichts sei kurz und klar». Und: «Die Erledigung muss verständlich sein.»

Eine Demokratisierung des Rechtslebens ist wohl nur über ein Mehr an mündlich erteilter Information zu erreichen. Eine wichtige Rolle kann dabei der Amtstag der Gerichte spielen, eine Besonderheit des österreichischen Justizsystems. Der bei allen österreichischen Bezirksgerichten wöchentlich abgehaltene Amtstag bietet für die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, Rechtsauskünfte einzuholen und mündliche Klagen, Anträge und Erklärungen zu Protokoll zu geben. Gerade für Personen, die sich keinen Rechtsanwalt leisten können, ist der Amtstag die zentrale Möglichkeit, sich kompetent beraten und bei der Rechtsverfolgung unterstützen zu lassen. Der Amtstag ist ein wesentliches Element zu einem gleichwertigen Zugang zu den Gerichten für alle Bürgerinnen und Bürger und damit zur gesellschaftlichen Fairness.

Die Einschränkungen während der Zeit der Corona-Pandemie weisen den Rechtsberufen den Weg zu einer neuen Kommunikation: Als im vergangenen Frühjahr Verhandlungen und Amtstagstermine entfallen mussten, taten viele Richterinnen und Richter, was sonst wenig verbreitet ist. Sie griffen zum Telefonhörer und kontaktierten Anwältinnen und Anwälte, Antragstellerinnen, Kläger und Beklagte. Auf einmal wurde am Telefon unkompliziert über einen möglichen Prozessfahrplan gesprochen, über Konflikte, die dem Gerichtsverfahren zugrunde liegen. Es zeigte sich: Auf diese Weise konnten viele Verfahren rasch zu Ende gebracht werden, die veränderte Kommunikation führte in vielen Fällen zu raschen Lösungen. Durch den Wechsel vom juristischen Schriftverkehr zu Telefonaten wird das Machtgefälle zwischen den Beteiligten abgebaut, die Kommunikation demokratisiert.

Zum Ziel des gleichen Zugangs zum Recht führen viele Wege. Die gesetzlichen Regelungen der Europäischen Union zeichnen sich – entgegen den Klischees – oft durch gute Verständlichkeit aus. Die Überlegungen des Gesetzgebers werden in sogenannten Erwägungsgründen im Gesetzestext (die Gesetze heißen nicht Gesetze, sondern Richtlinien oder Verordnungen) erklärt. Viele Höchstgerichte prüfen ihre Urteile entweder auf Verständlichkeit oder stellen begleitend erläuternde Mitteilungen auf ihre Websites beziehungsweise geben gut lesbare Presseaussendungen heraus. Gerichtsentscheidungen sind für Laien leicht lesbar, wenn darin die Beteiligten durchgehend mit ihren Namen benannt sind, wenn also von «Herrn Müller» und «Frau Mayer» die Rede ist, nicht vom «Antragsteller und gefährdeter Partei» und «Antragsgegnerin und Gegnerin der gefährdeten Partei» oder von «Verpflichtetem» und «Betreibender Partei». Auch lässt sich die Übersichtlichkeit längerer juristischer Texte durch eine Strukturierung erreichen, wie sie auch sonst üblich ist – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa nummeriert die Absätze seiner Entscheidungen.

In Zukunft gilt es, im Gerichtsalltag sowohl in mündlichen Verhandlungen als auch in schriftlichen Urteilen Zusammenfassungen in leicht verständlicher Sprache einzufügen. Der Chancengleichheit kommt man näher, wenn alle wichtigen Aufträge, Verfahrensschritte und Entscheidungen den Verfahrensbeteiligten auch mündlich erklärt werden. Ein einfacher Zugang zum Recht umfasst eine gute barrierefreie Internetseite, gut verständliches mehrsprachiges Informationsmaterial im Netz und auf Papier und flächendeckende Servicestellen. Justiz bzw. die Rechtsberufe gemeinsam mit den Universitäten könnten einen breiten Paradigmenwechsel vollziehen: Die Fähigkeit, juristische Sachverhalte gut verständlich auszudrücken und sich einer einfachen Sprache zu bedienen, würde darin als Kernkompetenz der Rechtsberufe Anerkennung finden.

Sprache und faires Verfahren

Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert allen Menschen ein faires Verfahren vor den Zivil- und Strafgerichten. Das faire Verfahren ist ein wichtiger Baustein der Verfahrensgerechtigkeit – Gerechtigkeit soll dadurch entstehen, dass ein gerichtliches Verfahren sachlich abläuft und allen gleichermaßen Beteiligungsrechte bietet. Es umfasst unter anderem das Recht auf Dolmetschung für fremdsprachige Verfahrensbeteiligte und noch allgemeiner das Recht auf Gehör. Wer an einem rechtlichen Verfahren teilnimmt, soll alles sagen können, was ihm wichtig erscheint – in seiner Sprache, also in einfachsten Worten, wenn jemand wenig gebildet ist, beziehungsweise in seiner jeweiligen Muttersprache. Und jeder Beteiligte soll auch alles verstehen können: Die deutsche Fachsprache muss daher ebenso übersetzt werden wie die Aussage eines Fremdsprachigen.

Je mobiler und vernetzter die Welt wird, umso mehr Sprachen sind an nationalen Gerichtsverfahren beteiligt. Egal ob Familienrechtsverfahren, Geschäftsstreitigkeiten oder ein Verkehrsunfall: Oft sind an Gerichtsverfahren fremdsprachige Personen beteiligt, Dolmetschende werden beigezogen. Die unterschiedlichen Sprachen werden zur Barriere für den, der die Amtssprache nicht ausreichend beherrscht. Er muss auf die Qualität der Dolmetschung vertrauen, denn sie bestimmt Qualität und Ergebnis des Verfahrens wesentlich mit. Oft wird eine Verhandlung für einen fremdsprachigen Angeklagten nur zusammenfassend und nur in Teilen gedolmetscht – eine Praxis, die vielerlei Rechte der Beteiligten gefährdet. Denn selbst bei der besten und anspruchsvollsten Dolmetschung lassen sich für einen Fremdsprachigen nur schwer gleiche Bedingungen wie für den Muttersprachler herstellen.

Besonders anschaulich zeigt sich die Macht der Sprache an der Institution des Protokolls: Wer schon einmal einen Diebstahl auf einer Polizeiinspektion zu Protokoll gegeben hat oder bei Polizei oder Gericht befragt wurde, weiß darum. Die Formulierungen des Protokolls bestimmen den weiteren Verfahrenslauf und das spätere Ergebnis mit. Fehlerhafte Protokollierungen lassen sich später schwer korrigieren. Jede sprachliche Nuance spielt eine Rolle, und bewusst oder unbewusst erfahren viele Aussagen eine Verfälschung oder Verfremdung im amtlichen Protokoll. Die große Bedeutung des Protokolls leitet sich aus unserer Behördenkultur ab, in der allem Verschriftlichten höchste Bedeutung zukommt.

Die betroffenen Personen feilschen selten um die genaue Formulierung – Nervosität, mangelndes Selbstvertrauen und Zeitdruck stehen dem in der Regel entgegen. Rechtlich macht es aber einen Unterschied, ob im Protokoll von Vorsatz oder Absicht die Rede ist, oder ob es heißt «ich hätte den Betrag zurückgezahlt» oder «ich hätte den Betrag wahrscheinlich zurückgezahlt». Umformulierungen, Auslassungen oder Beifügungen zur Aussage färben das Protokoll, oft in einer für den Laien kaum merkbaren Weise. Die Problematik wird dadurch verschärft, dass die Behörden dazu tendieren, umgangssprachliche Äußerungen in einer Vernehmung in eine Fach- oder Amtssprache zu übertragen, die die rechtlichen Folgen zumindest unbewusst im Hinterkopf hat. Der Fairness des Verfahrens entspricht eine Ton- oder Audioaufzeichnung von Verhandlungen und Befragungen deshalb entscheidend besser als die herkömmliche Protokollierungsmethode, in der Aussagen von den protokollführenden Richterinnen oder Beamten zusammengefasst oder zumindest umformuliert werden.

Ähnliche Bedeutung wie Protokollen kommt im Rechtsleben etwa Polizeiberichten zu. Jede sprachliche Nuance, mit der ein Polizeieinsatz beschrieben wird, beeinflusst den Ausgang des Verfahrens, auch wenn er noch Jahre in der Zukunft liegen mag, mit. Und schließlich stoßen wir auf genügend Beispiele, in denen die (Fach)Sprache im Rechtsleben bewusst zur Verschleierung eingesetzt wird – von verschiedensten Beteiligten und Institutionen, und zumeist im Vertrauen darauf, dass einer breiteren Öffentlichkeit – oder auch den Medien – das Durchschauen ohnedies komplexer Sachverhalte durch den Einsatz ausgefallener Fachvokabel vollends verunmöglicht wird. Das gilt für die Erklärungen der Verteidigung in einem brisanten Wirtschaftsverfahren genauso wie für manche Begründung der Staatsanwaltschaft für die Einstellung eines politisch brisanten Strafverfahrens. Die Macht der Fachsprache erstickt dann die Zweifel am Inhalt.

Sprache, Macht, Ermächtigung

Unsere Rechtsordnung formuliert die Wahrung der Würde der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz als höchste Ziele. Es gibt heute vielfältige sprachliche und kommunikative Mittel, um auch im Rechtsleben annähernd gleiche Bedingungen für alle herzustellen und Sprache auch zum Empowerment einzusetzen. Denken wir bei der mündlichen Kommunikation nur an den Fernsehkommissar Trautmann, der die Sprache der Bevölkerung spricht und so Vertrauen nicht nur für sich, sondern auch für das Recht gewinnt. Modernes Informationsmaterial, auch in audiovisuellen und sozialen Medien, kann den Zugang zum Recht erleichtern.

Wir konnten hier die Rolle der Sprache im Recht und im Rechtsleben nur anreißen. Allzu oft dient die Sprache im Alltag des Rechts zur Abgrenzung, oft selbst zwischen RechtsanwältInnen und ihren Mandanten. Die Verwendung von Fachsprache und Codes schafft dann Respekt, öfter noch Fremdheit, Unverständnis oder Angst. Im schlimmsten und nicht seltenen Fall trägt der Einsatz der falschen Sprache – oder der falsche Einsatz von Sprache – zur völligen Entrechtung von Menschen bei, wie sie Literaturnobelpreisträger Anatole France in seiner Erzählung Crainquebille aus dem Jahr 1901 beschreibt. Sprache und Rituale des Gerichts lassen den wenig gebildeten Angeklagten verstummen: «In dieser Umgebung verschlossen ihm Ehrfurcht und Angst den Mund.»

 

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