Österreich im Wahljahr 2024: Grund zur Sorge, doch Hoffnung besteht. Eine Einschätzung.

Österreich steht am Beginn eines Wahljahres. Vor bald zwei Jahren hat profil-Redakteurin Eva Linsinger einen Befund gestellt, der unverändert gilt: „Österreich hat ein veritables und tief sitzendes Korruptionsproblem. Wesentliche Säulen von Staat und Demokratie zeigen sich gefährlich verrottet. Im Machtrausch verwechseln Politiker ungeniert Staat und Partei, achten keine moralischen Grenzen, werden Spitzenbeamte nach Parteibuch ausgewählt.“ (profil 14/2022). Der Bundespräsident stellte angesichts der zahlreichen Korruptionsfälle ebenfalls 2022 einen Wasserschaden in der Republik fest. Den Installateur hat dennoch bis heute niemand gerufen, von der notwendigen Generalsanierung des Hauses Österreich ist schon gar keine Rede.

Problematisch ist nicht nur die verbreitete Korruption, ebenso verhängnisvoll ist die Ideen- und Visionslosigkeit der Regierung. Österreichs Politik ist, mehr noch als in anderen Ländern, von der ganz kurzfristigen Perspektive der wöchentlichen Umfragen getrieben. Statt eine große gemeinsame Anstrengung des Landes für Reformen einzuleiten, treibt man eine Polarisierung voran, die man selbst beklagt. Das beste Beispiel ist die Klimastrategie, die von der Grünen Umweltministerin den EU-Behörden vorgelegt und von der türkisen Europaministerin ebendort wieder zurückgezogen wurde. Als Ergebnis drohen Österreich Verfahren und Strafzahlungen.

Der Unmut der Bevölkerung ob dieser Politik ist nachvollziehbar und führt, im globalen Trend, zu guten Umfragewerten für rechtspopulistische und destruktive Gruppierungen. Doch sind die Warnungen vor einem demnächst schon autoritär regierten Österreich wirklich berechtigt?

Die vergangenen Jahre haben den Boden für autoritäres Regieren aufbereitet. Mit der Übernahme der Parteiführung durch Sebastian Kurz 2017 hat die Volkspartei ihre Verantwortung als staatstragende Partei abgestreift und sich dem Rechtspopulismus verschrieben. Bedeutende Christdemokraten wie Franz Fischler, Jean Claude Juncker oder Karl Schwarzenberg haben frühzeitig auf die Gefährlichkeit dieses Wegs hingewiesen. Der Kreis um Kurz hat sich in seinen Chats treffend selbst beschrieben. Die Etiketten der Niedertracht, Gier und Hybris, die politische Kommentatoren für die Ära Kurz fanden, sprechen für sich.

Die letzten beiden Regierungen – Türkis/Blau und Türkis/Grün – haben die Institutionen der Republik geschwächt. Dabei sei an die Verweigerung von gesetzlich vorgesehenen Aktenlieferungen (des Finanzministeriums an das Parlament, des Bundeskanzleramts an die Staatsanwaltschaft) erinnert – in der Zweiten Republik beispiellose Vorgänge. Oder an die teilweise jahrelange Nichtbesetzung von Leitungsfunktionen in der Verwaltung durch die Regierung oder an das Amtsverständnis des Nationalratspräsidenten. Das Parlament verfügt im internationalen Vergleich über wenig Ressourcen und wenig Selbstbewusstsein. Mit Wolfgang Sobotka den nach allen Umfragen unbeliebtesten Politiker des Landes an die Spitze der Volksvertretung zu wählen war ein Akt der Selbstbeschädigung des Parlaments. Regierungsmitglieder führten zudem die letzten Jahre laufend verbale Angriffe auf die Justiz und auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse.

Diese autoritären Vorzeichen werden begleitet von einer unglücklichen Medienstruktur, in der die Regierung die Medien von Regierungsinseraten abhängig gemacht hat und zugleich die Gremien des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks dominiert. Österreich hat heute wohl so viele gut ausgebildete Journalistinnen und Journalisten wie nie zuvor, ihr Potenzial kann aber in den herrschenden Strukturen nicht wirksam werden. Nähe, Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeit von Politik und Medieninhabern verhindern das.

Viel spricht dafür, dass FPÖ und ÖVP nach der anstehenden Nationalratswahl eine gemeinsame Regierung bilden, wenn sie – was nach aktuellen Umfragen offen ist – über eine Mehrheit verfügen. Die FPÖ wird, führt sie eine Regierung an, das tun, was sie seit längerem offen ankündigt – ein illiberales System nach dem Vorbild Ungarns aufbauen, in dem das Recht der Politik folgt.

Aber sind die Voraussetzungen für einen autoritären Umbau im Sinne Orbans oder Kaczynskis in Österreich überhaupt gegeben? Wohl ja. Denn sowohl bei der Unabhängigkeit der Medien als auch Justiz, entscheidend für die Abwehr autoritärer Versuchungen, hat Österreich Defizite. Wie beim Klimawandel gibt es auch in Rechtsstaatfragen Kipppunkte. Bereits geschwächte Strukturen fallen ab einem bestimmten Zeitpunkt in sich zusammen. In der beschriebenen Medienstruktur haben autoritäre Projekte wenig Widerstand von breitenwirksamen Medien zu erwarten. Die Gremien des ORF sind mehrheitlich von der Regierung bestimmt. Ähnliches gilt für den Verfassungsgerichtshof, dessen Entscheidungen in den letzten Jahren ein wichtiges Korrektiv zu offenkundig rechtswidrigen Regierungsprojekten waren. De facto bestimmt die Regierung alle Mitglieder des Gerichtshofs; gehen nur wenige Richter:innen in Pension (weil man sie etwa mit Golden Handshakes oder persönlichen Angriffen dahin drängt) und ernennt neue linientreue („steuerbare“) Wegbegleiter, so fällt das Verfassungsgericht als Korrektiv zu Regierung und Gesetzgeber aus. Inhaltlich verfassungswidrige Gesetze würden von einem regierungstreuen Verfassungsgericht formal gehalten werden, eine FPÖ-geführte Regierung das von ihr bereits ausgegebene Motto „Das Recht muss der Politik folgen“ umsetzen. Ein solches Szenario hat zuletzt Polen erlebt, wo der Kaczynski-Regierung nach längeren Kämpfen der Umbau des Verfassungsgerichts gelungen ist. Der Blick in die Geschichte der Ersten Republik erinnert uns außerdem daran, wie leicht es für das autoritäre christlichsoziale Regime Anfang der 1930er-Jahre war, den Verfassungsgerichtshof auszuschalten. Die Verfassung war damals dieselbe wie heute.

Nicht besser sieht es für die Korruptionsbekämpfung aus. Die Angriffe der ÖVP auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sind ein deutlicher Hinweis darauf, was der Justiz unter Blau-türkis bevorstünde. Die vielen anhängigen Ermittlungsverfahren wegen Wirtschaftskriminalität und Korruption wird eine blau-türkise Regierung binnen Wochen entweder einstellen, oder, wenn sie es geschickter anlegt, durch umfassende Berichtsaufträge zu Tode administrieren. Das österreichische System mit dem Weisungsrecht der Justizminister ermöglicht den vollen Durchgriff der Regierung auf die Strafverfahren. Das Justizministerium hat aber nicht nur das Weisungsrecht in der Hand, es bestimmt auch über die Karrieren der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Ein solches System ist kontraproduktiv, wenn man sich selbstbewusste Staatsanwaltschaften wünscht. Der eine zentrale taktische Fehler von Sebastian Kurz war es, das Innenministerium für bedeutender für seine Politik zu halten als das Justizministerium; er unterschätzte die Wirkungskraft unabhängig arbeitender Ermittlungsbehörden und überließ das Justizministerium den Grünen. Eine rechtspopulistische Regierung wird kein zweites Mal auf den Zugriff auf die Justiz verzichten. Wichtig(st)es Gebot im Wahljahr 2024 wäre es, den allgemeinen politischen Konsens darüber herzustellen, das Justizressort in dieser politisch sensiblen Phase auch künftig einer über den Parteien stehenden anerkannten Persönlichkeit des Rechtslebens anzuvertrauen. Diesen Konsens sollte man am besten schon vor der Wahl anstreben.

Im Ergebnis: die Gefahr einer autoritären Wende in Österreich nach der Wahl 2024 ist real. Es ist wichtig, dafür ein breites Bewusstsein zu erzeugen. Österreich steht ja nicht allein da: die USA haben vor drei Jahren einen Putschversuch erlebt, Polen hat acht autoritäre Jahre hinter sich, Ungarn, Argentinien, Israel sind autoritär regiert, in Italien macht sich Premierministerin Meloni gerade an den Abbau der Demokratie, indem sie einen Gesetzesvorschlag vorlegte, wonach die stimmenstärkste Partei künftig stets eine absolute Mehrheit der Parlamentsmandate erhalten soll – so will Meloni ihrer eigenen Partei dauerhaft die absolute Macht verschaffen. Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug, jedes Jahr kippen einige Demokratien. Die demokratische Aufbruchsstimmung der 1970er- und 1980er-Jahre war trügerisch. Heute sehen wir: um die Demokratie werden wir dauerhaft kämpfen müssen.

Das Bild, das die österreichische Politik in den letzten Jahren abgegeben hat, hat dazu beigetragen, dass große Teile des Landes in Lethargie und Resignation verfallen sind, dass Beamtenschaft wie Wirtschaft eine Kanzlerschaft Kickls als unausweichlich sehen. Diese Lethargie und Apathie ist gefährlich; denn radikale politische Gruppen erringen selten Mehrheiten, sondern gelangen erst durch die Passivität und Duldung der Mehrheit an die Macht. Warum aber sollen zwei Drittel der Bevölkerung das Experiment des weiteren Drittels mitgehen, dessen schlechter Ausgang vorhersehbar ist?

Machen sich breite Kreise der Bevölkerung die Ausgangssituation bewusst, dann wäre auch der erste Schritt dahin getan, die Lethargie aufzugeben und Allianzen für die Demokratie und den Rechtsstaat zu bilden. Diese Allianzen, die über mehrere Parteien und die Zivilgesellschaft hinweg reichen müssen, werden notwendig sein, um eine autoritär gesinnte Regierung zu verhindern; und, sollte sie doch kommen, um den Rechtsstaat mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Machtanspruch der Gegner der Demokratie verlangt, dass sich in diesem Jahr Alle deklarieren und beteiligen. Neutral zu sein, sich nicht einzumischen, ist keine Option, wenn es um die Demokratie geht.

Seit kurzem demonstrieren in Deutschland hunderttausende Menschen gegen das Wiedererstarken der extremen Rechten, nachdem in den letzten Wochen quer durch Europa faschistische Reden und Wortbilder zu hören sind. Dieses starke, sichtbare Bekenntnis zur und Eintreten für die Demokratie greift auf Österreich über. Die Demonstrationen sind ein wichtiges Zeichen an die Politik und ein Zusammenrücken der demokratischen Kräfte, mit dem sich die bisher schweigende Mehrheit durch Solidarität stärkt.

Für die Bildung einer breiten Allianz hilfreich wäre die Rückbesinnung darauf, dass die Grundlagen der großen politischen Lager, Sozialismus einerseits, christlich-soziales Denken andererseits, zu denselben bestimmenden Werten führen: Menschlichkeit und Solidarität. Dies sollte der Gesellschaft als Grundlage für einen breiten gesellschaftlichen Konsens dienen. Die Personen dafür sind vorhanden. Die SPÖ hat, so turbulent die Umstände waren, erstmals seit langem mehrere Kandidaten für die Parteispitze zur Wahl gestellt. Mit Andreas Babler hat sich der Bewerber durchgesetzt, der über viele Jahre bei der schwierigsten denkbaren Ausgangslage – eine kleine Stadt mit überfülltem, schlecht verwaltetem Flüchtlingslager – mit einer Politik erfolgreich war, die auf fremdenfeindliches Sentiment verzichtet und das Miteinander Aller ins Zentrum stellt. Und auch im konservativen Lager gibt es an vielen Stellen und erst recht an der Basis Menschen, die der Idee der staatstragenden, verantwortungsvollen konservativen Partei verbunden sind. Es ist wichtig, dass sich zuletzt auch aus der Volkspartei mit Othmar Karas eine starke Persönlichkeit klar positioniert hat und als Sammelpunkt der Rückbesinnung dienen kann. Erste Landeshauptleute schienen sich zuletzt der Politik der Mitte von Karas anzuschließen. Es gilt, einen Schlussstrich unter die Verwerfungen der Ära Kurz zu ziehen und auch den Mitläufern des Systems Kurz die Hand zu reichen bei ihrer Rückkehr in die politische Mitte.

Es bleibt nicht viel Zeit. Es sollte kein Tag mehr verloren gehen, wo wir nicht über alle Parteien und Gruppierungen hinweg darüber sprechen, wie wir den Rechtsstaat absichern. Worüber wir reden müssen, was wir anstreben sollten: die Gremien des ORF rasch entpolitisieren, die Ernennungsverfahren für die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs so reformieren, dass die Ernennungserfordernisse erhöht werden und kein beherrschender Einfluss der Regierung mehr besteht, die Medien aus der Abhängigkeit der Regierungsinserate befreien. Auch die Staatsanwaltschaften müssen endlich dem Einfluss der Regierung entzogen und tatsächlich unabhängig gestellt werden. Die WKStA, die oft in politisch heiklen Causen ermittelt, bedarf eines besonderen Schutzes der Unabhängigkeit. Schließlich sollten wir zur Belebung der Demokratie die Möglichkeit von Minderheitsregierungen in die Überlegungen einbeziehen und mehr Menschen den Zugang zum Wahlrecht geben. Durch das restriktive Staatsbürgerschaftsrecht ist in Wien etwa ein Drittel der in der 2-Millionen-Stadt lebenden Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen; auch dieser eingeschränkte demokratische Prozess gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Je nach Ergebnis sollte nach der Wahl auch die Möglichkeit einer Konzentrationsregierung zur Vermeidung einer weiteren Polarisierung diskutiert werden.

Österreich hatte nach dem Abgang von Sebastian Kurz mehrere Jahre Zeit, die Institutionen wieder zu stärken. Das wurde nicht genutzt. Jetzt ist die Zeit knapp. Es lohnt sich darum zu kämpfen, Österreich die bittere Erfahrung von rund zehn verlorenen Jahren zu ersparen, wie sie etwa Polen gemacht hat. Dort zeigt sich gerade, wie schnell rechtsstaatliche und demokratische Strukturen zu beschädigen sind und wie mühsam es ist, sie wieder aufzubauen. Darum braucht Österreich 2024 eine breite, geeinte Allianz aller Verteidiger:innen von Demokratie und Rechtsstaat, von Einrichtungen und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft über alle politischen Anschauungen hinweg. Ein Einverständnis Aller, die fest am Boden der Menschenrechtsordnung und des demokratischen Grundkonsenses 1945 stehen. Das Potenzial von Österreichs Zivilgesellschaft mit der auch wieder intellektuell pulsierenden Hauptstadt Wien ist groß, damit lässt sich viel bewegen.

Österreich steht am Beginn eines Wahljahres. Erlauben wir uns wieder Träume und langfristige Strategien und setzen wir sie gemeinsam um. Österreich kann sehr gute Jahre vor sich haben.

 

Mehr in: „Sozialdemokratie – Letzter Aufruf!“ (bahoe books, 2019), „Mut zum Recht“ (falter-Verlag 2019), „Die Krise der Volkspartei“ (bahoe books, 2023).

 

 

 

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