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Unsere Gefängnisse sind zu billig – Gastkommentar für den FALTER 22/2014

Um Geld zu sparen, kommen psychisch Kranke nicht ins Krankenhaus, sondern in Haft. Das gehört geändert.
Gastkommentar: Oliver Scheiber 
Ein Mann, um die 30, steht vor Gericht. Er kroch in einen
Flaschenrückgabeautomat eines Supermarkts. Detektive nahmen den Mann mit von
Scherben zerschnittenen Armen am Flaschenförderband fest. Er wollte zehn
Flaschen neuerlich durchlaufen lassen und sich mit dem ergaunerten Leergutbon
ein Abendessen kaufen. Die Staatsanwaltschaft hat den potenziellen Schaden auf
zehn Euro geschätzt und beantragt, dass der Mann seine bedingte Strafe vom
letzten Mal –  gewerbsmäßiger Diebstahl
von Leerflaschen  – absitzen soll. Der Mann hätte dann rund ein Jahr
Haft vor sich.
Er ist dann einer von mehr als 8.000 Insassen unserer
Haftanstalten. Die Zahl der Häftlinge steigt seit Jahren, während die
Kriminalität sinkt. In Österreich kommen auf 100.000
Einwohner 104 Häftlinge. In Deutschland sind es 87, in Norwegen, Schweden,
Dänemark und den Niederlanden um die 70 und in Finnland nur 61 Insassen. Die
Quote der unter 18-Jährigen Häftlinge zählt mit 1,6 Prozent aller Gefangenen zu
den höchsten innerhalb der EU. Die Haft soll aber wenig kosten: Schweden (260
Euro), Norwegen (330 Euro) und die Niederlande (215 Euro) wenden pro Tag und
Häftling mehr als das Doppelte auf als Österreich (108 Euro).
Auch die Zahl der psychisch kranken Häftlinge
stieg in den letzten 20 Jahren rasant an. Die Justiz hat Aufgaben des
Gesundheitssystems übernommen und ist darauf nicht vorbereitet.
Justizwachebeamte mit Taserwaffen betreuen nun psychisch Kranke.
Noch vor zwanzig Jahren haben Gerichte
psychisch kranke Menschen meist nur nach schweren Gewaltexzessen in den
Justiz-Maßnahmenvollzug eingewiesen. Heute reichen dafür oft schwere
Sachbeschädigungen. Die Zwangsanhaltung kann dann Jahre andauern. Länder und
Gemeinden ersparen sich psychiatrische Infrastruktur. Die Entlassung aus dem
Maßnahmenvollzug scheitert regelmäßig an den fehlenden
Nachbetreuungseinrichtungen.
Seit den 1980er-Jahren entwickelt sich
der Strafvollzug in die falsche Richtung. Der Anteil der Justizwachebeamten
stieg (nun rd. 80%), Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen, Mediziner wurden
weniger und verloren intern an Einfluss. Die Justizwachegewerkschaft baute ihre
Macht immer weiter aus. An die Stelle des Resozialisierungsgedankens der
1970er-Jahre trat ein Sicherheitsdenken. Die Gerichte handhaben die bedingte
Entlassung oft sehr restriktiv. Das Führungspersonal des Strafvollzugs agiert
aus der Defensive heraus. Die Mienen vieler Verantwortlicher spiegeln
Ängstlichkeit und Resignation.
Die Bilder, die der Falter nun aus dem
Strafvollzug veröffentlicht, sind in ihrer Dramatik schockierend. Der Super-GAU
ist nicht mehr zu leugnen. Justizminister Brandstetter hat recht, wenn er von
strukturellen Missständen spricht und eine Totalreform fordert. Aber wie kann sie
aussehen?
Die Diagnose ist brutal: das
Gesamtsystem ist kollabiert. Grenzüberschreitungen sind zur Normalität
geworden. Quer durch die beteiligte Berufe hat sich Apathie breit gemacht. Wenn
einem Häftling der Fuß abfault, dann ist nicht ein einzelner Justizwachebeamter
schuld; dann gibt es keine funktionierende Sozialarbeit, keine angemessene
medizinische Versorgung, keine Aufsicht. Die oft behauptete Ressourcenknappheit
ist eine billige Ausrede. Das Problem ist die Kultur des Strafvollzugs: Wer dort
Missstände aufzeigt, wird gemobbt – wie etwa im Vorjahr bei den Skandalen in
der Justizanstalt Josefstadt. Die vielen engagierten Beamten werden zu
Außenseitern gemacht.
Notwendig ist zunächst die Halbierung
der Insassenzahlen – sie ist ohne jegliches Sicherheitsdefizit machbar. Durch
eine Beschleunigung der Ermittlungsverfahren ließe sich die Zahl der rund 1800
U-Häftlinge halbieren. Die psychisch kranken Insassen sollten im
Gesundheitssystem versorgt werden, soweit sie überhaupt eine stationäre
Unterbringung benötigen. Die meisten von ihnen kämen mit einer guten
individuellen ambulanten Betreuung aus. Die bedingte Entlassung muss zur Regel
werden, so wie es das Gesetz vorsieht; eine Klassenjustiz, die Menschen wie den
eingangs erwähnten Flaschendieb einsperrt, muss ein Ende finden. Mit diesen
Maßnahmen ließe sich rasch ein Häftlingsstand von knapp unter 6.000 erreichen –
es entspräche der Zahl des Jahres 1989.
Eine Reform hat nur dann eine Chance,
wenn die Regierungsspitze kraftvoll dahintersteht. Die Halbierung der
Haftzahlen und Überführung der Masse der psychisch kranken Häftlinge ins
Gesundheits- und Sozialsystems bedarf einer Ergänzung durch neue
Ausbildungsmodule nicht nur für die Justizwache, sondern auch für Richter und
Staatsanwälte. Massive Planstellenverschiebungen vom bewaffneten Personal hin
zu Sozialarbeit, Psychologie, Medizin sind nötig. Das gesamte System muss neu
aufgesetzt werden. Eine ernsthafte Reform wird Experten einbeziehen, die dem
System vor einigen Jahren zu unbequem geworden sind.
Die ersten Reformankündigungen des
Justizministers machen Hoffnung. Der Zorn des Ministers ist ein Weckruf – an
alle, die mit dem Strafvollzug zu tun haben, an Parlament und Regierung. Eine
Reform des Strafvollzugs wird auf viel Widerstand stoßen; die Reform nicht zu
versuchen wäre unverzeihlich.  
Der Autor ist Strafrichter und Lehrbeauftragter an der Universität
Wien. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

Mandatsverfahren nur für fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr

Text für DIE PRESSE – Printausgabe vom 26.5.2014
Kompromissvorschlag: Anwendungsbereich der Verurteilung per Post einschränken.
   (Die Presse)
Justizminister Wolfgang Brandstetter hat ein Reformpaket für den Strafprozess vorgelegt. Die meisten Punkte stießen auf allgemeine Zustimmung. Zum Teil heftigen Widerstand löste nur der Vorschlag eines Mandatsverfahrens aus (s. auch den Artikel oben). Richter sollen die Möglichkeit erhalten, aufgrund der Aktenlage und ohne Verhandlung eine Art Strafverfügung zu erlassen, die dem Angeklagten per Post zugestellt wird. Auf diese Weise sollen Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr verhängt werden können.
Gegen ein solches verkürztes Verfahren spricht der Entfall der Hauptverhandlung mit ihren vielfältigen Funktionen: Das Gericht verschafft sich in der Verhandlung einen Eindruck von der Person des Angeklagten, es kann Missverständnisse aufdecken, die Schuldfähigkeit besser beurteilen und mit Staatsanwaltschaft und Angeklagtem eine allfällige Sanktion erörtern und auf den Täter zuschneiden – etwa Weisungen aussprechen oder Bewährungshilfe anordnen. Auch dient die Hauptverhandlung einer raschen Schadensregulierung für das Opfer der Tat.

Vielen fehlt schon ein Ausweis

Ein gewichtiges Argument gegen ein schriftliches Verfahren ist auch, dass viele Menschen von ihrer Vorstrafenbelastung nichts erfahren würden – die betroffene Personengruppe behebt vielfach ihre Schriftstücke nicht auf dem Postamt, viele Menschen besitzen nicht einmal den für die Postabholung nötigen Lichtbildausweis.
Dennoch wäre ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Positionen möglich. Das Mandatsverfahren scheint nämlich für einen bestimmten Bereich sehr wohl geeignet: für Strafverfahren nach Verkehrsunfällen. Angeklagte in diesem Feld des Strafrechts gehören in der Regel nicht zu jener bildungsmäßig und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppe wie die meisten anderen Angeklagten der Strafprozesse. Es handelt sich also um eine Gruppe von Angeklagten, die sehr wohl ihre Poststücke vom Postamt abholt, prüft und einen Rechtsbeistand konsultiert.
Zudem hat hier die Schadensregulierungsfunktion der Hauptverhandlung weniger Bedeutung als sonst: Die Schäden sind ohnedies durch die Haftpflichtversicherung gedeckt und können vom Versicherten ohne Zustimmung der Versicherung gar nicht ohne Weiteres anerkannt werden. Das vorgeschlagene Mandatsverfahren könnte hier, auf den Bereich der fahrlässigen Körperverletzungen eingeschränkt, im Einzelfall durchaus zweckmäßig sein.
Die hohe Zahl an Mandatsverfahren in Deutschland  wird unter anderem dadurch erklärt, dass im Nachbarland für viele Straßenverkehrsdelikte nicht wie in Österreich die Verwaltungsbehörden, sondern die Gerichte zuständig sind. Und im Verkehrsrecht (auch im österreichischen Verwaltungsverfahren) haben sich Mandatsverfahren eben bewährt.

Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Der Beitrag gibt seine persönliche Ansicht wieder.

Vorschlag für eine Strafprozessreform: ein Schritt nach vorn mit einem großen Makel

Es ist gut,
dass wieder Justizpolitik stattfindet. Der heute zur Begutachtung versandte Vorschlag für eine Strafprozessreform  ist nicht mehr, wie viele Maßnahmen im Justizbereich der letzten Jahre, einseitig an Einsparungen orientiert. Der Gesetzesvorschlag hat vielmehr eine klare Leitidee – mehr Rechtsschutz für Verdächtige und Beschuldigte, Beschleunigung der Strafverfahren – und er ist sorgfältig ausgearbeitet und begründet. Der Vorschlag ist somit ein erfreuliches Signal dahingehend, dass
Qualität und Rechtsschutz auch etwas kosten dürfen. Dies gilt etwa für die
Wiedereinführung eines zweiten Berufsrichters im Schöffenverfahren: vor wenigen
Jahren war der zweite Berufsrichter aus Einsparungsgründen abgeschafft worden.
Es hat sich gezeigt, dass dies bei großen Verfahren eine unzumutbare Belastung
des einzigen im Schöffensenat verbliebenen Berufsrichters bedeutet. Die schnelle Korrektur dieses
Fehlers verdient Anerkennung. Dasselbe gilt für die Erhöhung des
Verteidigungskostenersatzes: seit Jahrzehnten wird beklagt, dass Menschen, die
in einem Strafverfahren freigesprochen werden, mit geringen Geldbeträgen
abgespeist werden und oft hohe Verteidigungskosten selbst tragen müssen. Wer
freigesprochen wird, ist unschuldig. Das Strafverfahren hat ihn finanziellen,
psychischen und sozialen Beeinträchtigungen und Risiken ausgesetzt. Es ist mehr
als angemessen, den Höchstsatz des Verteidigungskostenersatzes nun auf 10.000 Euro bei schwersten
Delikten und 1.000 Euro vor dem Bezirksgericht anzuheben. Selbst mit diesen Beträgen ist in der
Regel nur ein Teil der Kosten abgedeckt, es bedeutet aber eine Verdoppelung der
bisherigen Richtwerte – in Sparzeiten durchaus respektabel. Eine erfreuliche
Modernisierung liegt auch in der vorgeschlagenen sprachlichen Unterscheidung
zwischen Verdächtigen und Beschuldigten. Sie schützt Personen, die bloß einem
Anfangsverdacht ausgesetzt sind, besser vor einer frühen
Stigmatisierung. Die zuletzt viel diskutierte Frage, wieviel Mitsprache Staatsanwaltschaft und Verdächtiger bei der Auswahl des Sachverständigen haben, löst der Entwurf mit einer neuen Regelung, die in den Erläuterungen sehr eingehend argumentiert wird. Dabei wird auch die Diskussion der letzten Jahre breit referiert. 
Schließlich erscheint  auch das überraschend vorgeschlagene Zeitlimit
von drei Jahren im Ermittlungsverfahren sinnvoll. Der Gesetzesvorschlag ist umsichtig: dort wo etwa Verdächtige das Verfahren bewusst verschleppen, kann das
Gericht das Zeitlimit für die Staatsanwaltschaft ausdehnen. Für die Masse der
Fälle aber muss man sagen: ein Strafverfahren ist für den Verdächtigen in
vielerlei Hinsicht so belastend, dass nach drei Jahren zumindest eine
Entscheidung fallen muss, ob die Staatsanwaltschaft die Sache vor Gericht
bringen will oder nicht. Auch bei komplexen Familienrechts- oder
Unternehmensstreitigkeiten erwartet sich die Bevölkerung zu Recht, dass
Verfahren nach einigen Monaten zu einer Erstentscheidung kommen. Die neue Frist
sollte also ein Ansporn für alle Ermittlungsbehörden (Polizei und
Staatsanwaltschaft) sein.
Bleibt ein heikler Punkt: die
Wiedereinführung des Mandatsverfahrens, also eine schriftliche gerichtliche
Entscheidung ohne Hauptverhandlung. Das bedeutet: man kann vorbestraft sein,
ohne dass je eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat. Eine solche Neuerung
sollte sich das Parlament gut überlegen. Es empfiehlt sich der Besuch eines
Strafverhandlungstags an einem Bezirksgericht. Wie sieht die Realität aus? Die
Beschuldigten gehören zu einer Personengruppe, die vielfach Postsendungen nach
Verständigungen des Zustellers vom Postamt nicht abholt. Es sind Menschen, die
jede Woche mehrfach Schriftstücke von Behörden erhalten, die sie entweder nicht
abholen, nicht lesen oder nicht verstehen. Kaum jemand kann zwischen bloßen
Polizeistrafen und gerichtlichen Strafen unterscheiden. Die Betroffenen können
daher vielfach die Folgen einer gerichtlichen Verurteilung nicht abschätzen: der
jahrelange Ausschluss von einer Gewerbeberechtigung, von Ausbildungen, von einem
Dienstverhältnis bei Stadt, Land oder Bund. Und vielfach zeigt sich erst in der
Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte nicht schuldig ist; gerade auch in
Fällen, wo sich Menschen in Verkennung der Rechtslage schuldig bekennen. Das
betrifft etwa Anklagen wegen Taxibetrugs, wo Taxifahrgäste zu wenig Geld bei sich
hatten und sich schuldig bekennen, obwohl sie nie einen Betrugsvorsatz hatten
und daher auch nicht im strafrechtlichen Sinn schuldig sind. Und das betrifft
die vielen Fälle, in denen sich erst in der Hauptverhandlung Hinweise ergeben,
dass eine Notwehrsituation vorlag oder in denen Zweifel an der Schuldfähigkeit
auftauchen. Vielfach kommt erst in der Verhandlung heraus, dass der Beschuldigte
psychisch krank ist und seit Jahren unter Sachwalterschaft steht. Die Hauptverhandlung ist das Herzstück eines Strafverfahrens: der Angeklagte wird angehört,  der Bewährungshelfer kann Stellung nehmen, das Gericht kann die Pläne des
Beschuldigten bezüglich Aiusbildung, Job und Wohnung erfragen und besprechen. Wie soll
das Gericht eine passende Sanktion und Weisung finden, ohne dies in einer
Verhandlung mit Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem erörtert zu haben? 
Das Mandatsverfahren widerspricht aber auch der jüngsten Entwicklung hin zu einem umfassenden Opferschutz. Die Hauptverhandlung bietet die Möglichkeit,
Opferansprüche zu erörtern, rasch abzuklären und dem Opfer ein Zivilverfahren zu
ersparen. Ohne Verhandlung wird man den umfangreichen Opferschutzbestimmungen
der StPO schwer entsprechen können und auch schwerlich eine Entscheidung über
privatrechtliche Ansprüche fällen können.
Vor fünfzehn Jahren erst hat
man die alte Strafverfügung deshalb abgeschafft, weil man sich in Lehre und
Praxis einig war, dass viele Betroffene die Bedeutung des verurteilenden Schriftstücks nicht
erkennen. Menschen nehmen solche schriftlich zugestellten Strafen oft an, um ihre Ruhe zu haben. Viele der mit der alten Strafverfügung verurteilten Menschen wussten gar
nicht, dass sie nun gerichtlich vorbestraft sind. Eine Wiedereinführung der
Strafverfügung würde wohl dazu führen, dass weniger Fälle mit Diversion und mehr
mit der schnell versandten Strafverfügung erledigt werden. Für mutmasslich
fremdsprachige Personen müsste alles in die Muttersprache übersetzt werden – ein
Aufwand der höher wäre als der für eine Hauptverhandlung, die am Bezirksgericht
im Schnitt vielleicht 30 Minuten dauert. Überhaupt: die Strafverfahren am
Bezirksgericht dauern im Schnitt vier bis fünf Monate – wie will man da ohne
Qualitätsverlust verkürzen und warum auch? Mit der Strafverfügung riskiert man
also einen großen Rückschritt im Rechtsschutzsystem und eine zunehmende
Kriminalisierung, ohne dass ein Beschleunigungs- oder Einsparungseffekt
erkennbar wäre. Will man die Bezirksgerichte entlasten, so müsste man ihnen die vielen nicht-richterlichen Arbeiten abnehmen: etwa die aufwendige Abrechnung von Drogentherapien und Ähnliches.     
Während das restliche
Reformpaket sich also im Großen und Ganzen Qualitätsverbesserungen und mehr
Rechtsschutz verschreibt weist das geplante Mandatsverfahren in die
Gegenrichtung: man sollte diesen Punkt noch einmal überdenken und sich die
Erwägungen ansehen, mit denen die Strafverfügung vor 15 Jahren abgeschafft
wurde: niemand soll gerichtlich vorbestraft sein, ohne eine Gerichtsverhandlung
gehabt zu haben. Die Verhandlung ist schließlich die Kernkompetenz des
Richters/der Richterin und das wesentliche Qualitätskriteriums jedes
Behörden/Gerichtsverfahrens. Für ein angemessenes rechtliches Gehör und ein
faires Verfahren ist eine mündliche Verhandlung in einem gerichtlichen Strafverfahren
unabdingbar.

Eine neue Jugendhaftanstalt für Wien?

Justizminister Brandstetter hat Pläne für ein neues Jugendgefängnis in Wien (im früheren Strafbezirksgericht und nunmehrigen Polizeianhaltezentrum Hernalser Gürtel im 8. Bezirk) vorgestellt. Ein neues Jugendgefängnis ist dann zukunftsweisend, wenn es Teil einer Reform der Jugendgerichtsbarkeit ist. Folgende Punkte sind zentral:
– Schaffung von Jugendgerichtshöfen (Jugendkompetenzzentren) in den Ballungsräumen: Gericht, Staatsanwaltschaft, Sozialarbeit unter einem Dach, im besten Fall mit angeschlossenen universitären Einrichtungen (Jugendpsychiatrie, Kriminalsoziologie etc)
– Kommunikation im kurzen Weg in den neuen Jugendkompetenzzentren (interdisziplinäre Fallbesprechungen, runde Tische etc)
– bundesweiter Ausbau der hervorragend arbeitenden Wiener Jugendgerichtshilfe
– Ausbau der Alternativen zur Jugendhaft, Beschränkung des geschlossenen Vollzugs auf wenige gefährliche Täter
– Erhöhung der Ressourcen im Jugendstrafvollzug, v.a. mehr Sozialarbeit und Bildungsressourcen
– Reduzierung der langen Einschlusszeiten
– Schaffung eines Heranwachsendenstrafrechts: das Strafrecht muss flexibilisert werden, um reifeverzögerten jungen Straftätern die Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern (dzt greift das Jugendstrafrecht nur bis zur Volljährigkeit, einzelne Bestimmungen gelten bis zum Alter von 21 Jahren). Ein moderner Ansatz könnte flexiblere Ansätze bis zu einem Alter von 27 oder 28 Jahren bringen.
Hintergrund : 2002 hat der damalige Justizminister Böhmdorfer die Auflösung des Wiener Jugendgerichtshofs eingeleitet. Der Jugendgerichtshof war in den 70 Jahren seines Bestehens eine weltweit anerkannte Institution, deren Vorbildcharakter international anerkannt war. Eine spezialisierte Jugendgerichtsbarkeit hatte Vorteile: im Spezialgericht haben sich Richterinnen und Richter zusammengefunden, die gerne mit Jugendlichen arbeiten. Sie konnten besonders geschult werden und sich mit anderen Akteuren der Jugendarbeit – Jugendstaatsanwaltschaft, Polizei, Jugendamt, Sozialarbeit, PsychologInnen, JugendpsychiaterInnen – eng vernetzen. Die Stadt Wien etwa konzentrierte im Nachbarhaus des Jugendgerichtshofs die Jugendsozialarbeit – dies machte es möglich, dass Gericht, Staatsanwaltschaft und Sozialarbeit sich kurzfristig treffen konnten, um einzelne Fälle zu besprechen und jugendlichen Straftätern nicht nur Sanktionen anzudrohen, sondern auch Perspektiven zu eröffnen.
Dieses Netzwerk wurde mit der Auflösung des Jugendgerichtshofs zerschlagen. Die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofs wurde auf mehr als zehn Gerichte in Wien verteilt, Know how und Kontakte gingen verloren. Rund 85% der Wiener Richterinnen und Richter haben 2002 in einer Petition auf die Nachteile der Auflösung des Jugendgerichts hingewiesen – ein starkes Signal einer traditionell zurückhaltenden Richterschaft, was rechtspolitische Äußerungen betrifft.
Mit der Auflösung des Jugendgerichtshofs wurde die dem Gericht angeschlossene Haftanstalt geschlossen; die jugendlichen Straftäter und Untersuchungshäftlinge sind seither in der großen Justizanstalt Josefstadt (zwischen 88 und 1000 Häftlinge) untergebracht. Die gemeinsame Unterbringung jugendlicher und erwachsener Häftlinge in einer Einrichtung ist ein Unding – die Trennung der jugendlichen Häftlinge von den harten erwachsenen Kriminellen lässt sich in einem Gebäude nie strikt durchführen und widerspricht allen internationalen Expertenempfehlungen.
Ein neues Jugendgefängnis würde also die Trennung der jugendlichen von den erwachsenen Häftlingen mit sich bringen; in diesem Punkt ist der Plan uneingeschränkt zu begrüßen. Allerdings ist zu bedenken: das Polizeianhaltezentrum am Hernalser Gürtel ist für 400 Polizeihäftlinge ausgelegt. Die Zahl der jugendlichen Untersuchungs- und Strafhäftlinge in Wien liegt bei nicht einmal 10% dieser Größe. Mit Hafträumen ist es wie mit Autobahnen: wo Gefängnisse entstehen, werden sie gefüllt. Da derzeit bundesweit mehrere Neubauten für Gefängnisse im Gespräch sind ist es wichtig im Auge zu behalten, dass Österreich im internationalen Vergleich bereits derzeit hohe Häftlingszahlen hat (unter Berücksichtigung von Bevölkerungszahl und Kriminalitätsrate). Die Modernisierung von Hafträumen ist notwendig und sinnvoll, der Ausbau von Haftplätzen dagegen keinesfalls. Für jeden neu errichteten Haftplatz sollte mindestens ein alter Haftplatz zugesperrt werden. Bei Jugendlichen geht der Trend international zur weitgehenden Abschaffung von Untersuchungs- und Strafhaft. An ihre Stelle treten Spezialeinrichtungen des betreuten Wohnens und der Wohngemeinschaft. Österreich bräuchte an modernen Standards gemessen überhaupt nur eine Handvoll Haftplätze für besonders gefährliche Jugendliche. 
Am 1. Juli 2013 hat ein interdisziplinäres Team der Allianz gegen die Gleichgültigkeit nach konkreten Anlässen in einer Pressekonferenz eine Reform des Jugendstrafvollzugs eingefordert: https://www.oliverscheiber.eu/2013/07/allianz-gegen-die-gleichgultigkeit.html

Allianz gegen die Gleichgültigkeit – Aufruf gegen Rassismus und für Reformen im Strafvollzug

Allianz gegen die Gleichgültigkeit


Eine geringfügig gekürzte Version dieses Aufrufs erschien in der Zeitschrift falter Nr. 15/2014

Wir wiederholen unseren Aufruf zu Rassismus und Strafvollzug: Es ist Zeit,
Polizei und Justiz müssen handeln

Harsch kritisieren die Medien das Strafverfahren, das gegen Aktivisten der Refugee-
Bewegung in Wr. Neustadt wegen Schlepperei geführt wird. Zu Recht. Vor genau
einem Jahr (falter 14/2013) haben wir die Allianz gegen Gleichgültigkeit ins Leben
gerufen und an dieser Stelle begründet, warum Polizei und Justiz eine
Rassismusdebatte benötigen. Das Verfahren in Wr. Neustadt zeigt neuerlich die
Dringlichkeit des Anliegens. Viele Experten kritisierten die dünne Beweislage im
Neustädter Verfahren seit Beginn der Ermittlungen. Nun hat die zuständige Richterin
die Hauptverhandlung nach wenigen Tagen abgebrochen: mit diesem Aktenmaterial
könne sie nicht verhandeln. Die Staatsanwaltschaft zog den Haftantrag zurück,
nachdem die Verdächtigen acht (!) Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten.
Das Wiener Neustädter Verfahren wirft die Frage von institutionellem Rassismus neu
auf. Politisch missliebige Flüchtlinge, die eine Kirche besetzen, landen auf Zuruf der
wahlkämpfenden Innenministerin in Untersuchungshaft. Wir ziehen den Vergleich:
hätte eine ähnliche Drakonik auch Besitzer österreichischer Pässe getroffen? Legt man
denselben Maßstab, etwa was die Verhängung der Untersuchungshaft betrifft, in den
großen Wirtschaftsstrafsachen gegen Ex-Minister und Politiker an?
1999 startete mitten im Wahlkampf die „Operation Spring“, ein Großverfahren gegen
mutmaßliche Drogendealer, auf Zuruf des damaligen Innenministers. Am Ende stand
die Verurteilung von rund hundert Menschen dunkler Hautfarbe zu mehrjährigen
Haftstrafen. Bald war klar: man hatte keine Drogenbosse, sondern kleine Dealer
erwischt. Viele Verfahren strotzten vor Fehlern und Grundrechtsverstößen.
Dolmetscher hatten falsch übersetzt. Derselbe anonyme Zeuge machte in
Parallelverfahren unterschiedliche Angaben. Ein Großaufgebot der Polizei im
Gerichtsgebäude suggerierte der Öffentlichkeit die Gefährlichkeit der Angeklagten.
Die Strafen waren exzessiv. Der Film „Operation spring“ gibt anschauliche Einblicke.
Und nun die Wiederholung im Refugee-Verfahren: die Ermittlungen beginnen auf
Zuruf der Innenministerin kurz vor der Nationalratswahl. Fragliche Dolmetschungen
tauchen auf. Ein Dolmetscher habe etwa das Wort „Leute“ mit
„Schleppungsunwilligen“ übersetzt, berichten Medien. Ein solcher
Übersetzungsfehler passiert einem nicht einfach so.
Die Angeklagten haben nach der langen U-Haft weitere Zermürbung und enorme
Anwaltskosten vor sich. Die beabsichtigte Wirkung tritt ein: Einschüchterung der
Schwächsten der Gesellschaft. Und auch wer Flüchtlinge unterstützt, muss sich das
künftig drei Mal überlegen. Erst vor wenigen Wochen wurde eine Anklage gegen den
prominenten Flüchtlingshelfer Michael Genner von „Asyl in Not“ unmittelbar vor
Beginn der Hauptverhandlung zurückgezogen. Genners eindringliche Mahnung,
Fluchthelfer nicht a priori mit Verbrechern gleichzusetzen, hätte ihm beinahe eine
öffentliche Strafverhandlung wegen Gutheißens einer Straftat eingebracht.
Aus der Operation Spring hat man vor 15 Jahren keine ausreichenden Konsequenzen
gezogen. Der aktuelle Jahresbericht der Antirassismusinitiative „ZARA“ führt aus,
dass sich an der Rassimusproblematik in Polizei und Justiz „seit 15 Jahren offenbar
nichts Grundlegendes geändert“ hat und belegt dies mit Beispielen. Die Jahresberichte
von Amnesty International weisen regelmäßig auf strukturellen Rassismus hin. SOS
Mitmensch beklagt, dass der Verhetzungstatbestand bei verbalen Angriffen auf
Minderheiten nicht eingesetzt wird. Die laufende UN-Menschenrechtsprüfung
empfiehlt Österreich nachdrücklich, verstärkt Aktivitäten gegen Rassismus zu
unternehmen.
Nach wie vor verfügt die Justiz über keine strukturell angelegten Fehleranalysen, kein
Qualitätsmanagement, das nicht (überaus bremsend) rein auf disziplinäre
Konsequenzen abzielt, sondern – wesentlich produktiver – auf Systemverbesserungen
angelegt wäre. Polizei und Justiz benötigen dringender denn je eine andere
Fehlerkultur und professionelle Beratung zu Antirassismusstrategien und für den
Umgang mit Minderheiten und Schwachen. Es gibt dazu best practice-Modelle in
vielen Staaten und mit der Grundrechteagentur der EU Unterstützung direkt vor Ort in
Wien.
Zu einem solchen neuen Qualitätsmanagement sollte die richterliche Berufsvertretung
einen Beitrag leisten. Die Richtervereinigung hat zwar eine Ethikerklärung
verabschiedet. Allein, im Gerichtsalltag fehlt es immer wieder an der Umsetzung.
Eben erst wurde ein lange urgierter Workshop zum Thema „Institutioneller Rassismus
“ für das interne Seminar „Zukunft Justiz“ der Richtervereinigung abgelehnt. Man
versucht sich modern zu geben – und erstickt gleichzeitig internes kritisches
Engagement. Man vergibt die Chance, mit jungen ambitionierten Richterinnen und
Richtern neue Qualitätsstandards in Sachen Grundrechtsverständnis,
Kommunikationskompetenz und Europäisierung für eine multiethnische Gesellschaft
zu schaffen.
Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle neben einer Rassismusdebatte auch eine
Reform des Strafvollzugs eingefordert. Kurz nach Erscheinen unseres Aufrufs wurde
der Fall der Vergewaltigung eines 14-jährigen Untersuchungshäftlings in der
Justizanstalt Josefstadt bekannt. Für den Jugendstrafvollzug wurde in der Folge ein
kluges Papier formuliert. Die Umsetzung liegt, von kleineren Änderungen im
Jugendstrafvollzug in Wien abgesehen, weiter auf Eis. Der Erwachsenenstrafvollzug
und im Besonderen der so genannte Maßnahmenvollzug für psychisch kranke
Menschen benötigen ganz dringend struktureller Reformen.
Die Allianz gegen die Gleichgültigkeit appelliert seit einem Jahr an das Parlament, an
die Ministerien und an die Vereinigungen der Rechtsberufe, im Feld „institutioneller
Rassismus in Polizei und Justiz“ und im Strafvollzug endlich (gesetzliche)
Maßnahmenpakete – und Tempo – zu entwickeln. Im Ernst: Es wird Zeit. Worauf
wird eigentlich gewartet?
Die UnterzeichnerInnen geben, soweit sie auch Funktionen ausüben, einzig ihre

persönliche Meinung wieder.

Mia Wittmann-Tiwald, Richterin, Co-Vorsitzende der Fachgruppe Grundrechte in der
RichterInnenvereinigung
Hannes Tretter ist Leiter des renommierten Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte in Wien
Maria Windhager ist Rechtsanwältin und eine der führenden Medienrechtlerinnen in Wien
Richard Soyer ist Rechtsanwalt, Universitätsprofessor für Strafrecht und Sprecher der
StrafverteidigerInnenvereinigung
Thomas Höhne ist Rechtsanwalt. Er ist Mitinitiator des Universitätslehrgangs
Informationsrecht an der Uni Wien
Barbara Helige, Richterin, Präsidentin der Österreichischen Liga für Menschenrechte
Alfred J. Noll, Rechtsanwalt und Universitätsprofessor in Wien, Mitglied im Ausschuss der
Rechtsanwaltskammer Wien
Manfred Nowak ist Universitätsprofessor für Verfassungsrecht. Er war UNSonderberichterstatter
gegen die Folter.
Alexia Stuefer ist Rechtsanwältin in Wien und Generalsekretärin der
StrafverteidigerInnenvereinigung.
Oliver Scheiber, Richter, Lehrbeauftragter an der Univ. Wien, Mitgründer der Fachgruppe
Grundrechte der RichterInnenvereinigung