Kirchberger Gespräch zu Justiz, Gesellschaft und Politik 2014

Beitrag erschienen in der Österreichischen Richterzeitung, Heft 1/2015
Im vergangenen Oktober wurde in
Tirol über Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit diskutiert

Von Oliver Scheiber
 

Ähnlich den Universitäten hat sich die Justiz sehr lange in einem
Elfenbeinturm befunden. Die Abschottung von der übrigen Gesellschaft wurde vormals
überhaupt als zwingende Konsequenz der richterlichen Unabhängigkeit verstanden.
Diese Sichtweise hat sich in den letzten Jahren radikal verändert. Ganz im
europäischen Trend setzt sich die Betrachtungsweise durch, dass die Justiz nur
dann das Vertrauen der Bevölkerung behält, wenn sie ihre Arbeit öffentlich
erklärt und sich mit der Zivilgesellschaft austauscht. Die Einrichtung von
Medienstellen, die Zusammenarbeit mit Schulen oder Vorlesungen an den
juridischen Fakultäten, in denen sich die Justiz präsentiert, belegen diesen
geänderten Zugang.
Die Kirchberger Gespräche zu Justiz, Gesellschaft und Politik, die vom
Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck im Zweijahresrhythmus veranstaltet
werden, sehen sich als ein solches Forum des Austauschs zwischen Justiz und
Gesellschaft. Die Veranstaltung will ein Forum der Reflexion und der offenen
Diskussion, ein Ort des Nach- und Vordenkens zu rechts- und gesellschaftspolitischen
Fragen sein. Vom 5. bis 8. Oktober 2014 fand dieses Justizseminar bereits zum vierten
Mal statt und es gab erfreulicherweise den bisherigen Rekord an Anmeldungen zu
dieser Veranstaltung. Das Feld der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war
bundesweit und über die verschiedenen Gerichtsebenen gestreut. Mit MMag. Birgit
Ertl-Grätzel war zudem eine Kollegin  des
Bundesverwaltungsgerichts vertreten.
Die Kirchberger Veranstaltung reserviert traditionell viel Zeit für
Diskussionen. Im Jahr 2014 waren die Debatten besonders lebhaft; dazu
beigetragen hat auch die Einrichtung des sogenannten „Beobachterboards“: An
jedem Seminartag stellten sich zwei Kolleginnen bzw. Kollegen zur Verfügung,
die bei Wortmeldungen gleichsam bevorrechtet sind und die Diskussion beleben
sollen. In diesem Jahr haben Uli Schmidt, Barbara Prantl, Martin Neid und
Martin Weber diese Rolle mit viel Esprit und Engagement ausgefüllt.
Das Leitthema der diesjährigen Tagung waren Aspekte der richterlichen
Unabhängigkeit. Das abendliche Eröffnungsreferat dazu hielt der Doyen der
österreichischen Politikwissenschaft, Anton Pelinka. Er stellte das Thema der
Unabhängigkeit in einen geschichtlichen und globalen Kontext, erinnerte etwa an
die Kopenhagener Demokratiekriterien der Europäischen Union und an die Rolle
des Supreme Court in den USA. Für Österreich sieht Pelinka einige Eckpfeiler,
die die Wertordnung der Republik abstecken und damit der Justiz eine
humanistisch-aufgeklärte Verpflichtung auferlegen. Zu diesen Eckpfeilern zählt
Pelinka die MRK, die Unabhängigkeitserklärung vom 27.4.1945, das Symbol der
gesprengten Ketten im Bundesadler, die die Befreiung vom NS-Regime
symbolisieren, und schließlich die Beitrittsakte Österreichs zur Europäischen
Union. Pelinka streifte auch aktuelle Fragen, etwa wenn er zum Weisungsrecht
meinte, dass Einstellungsweisungen der Politik grundsätzlich inakzeptabel
seien, während die Weisung, ein Verfahren weiterzuführen, legitim erscheine.
Zur Qualität der Legistik meinte Pelinka, dass eine bewahrende Politik häufig
mit Generalklauseln agiere, während eine reformorientierte Politik ohne
Detailregeln und stärkeren gesetzlichen Aktivismus nicht auskomme. Trotz der
fortgeschrittenen Abendstunde schloss sich an den Vortrag Pelinkas eine
längere, lebhafte Diskussion.
Ein gesamter Seminartag war dem Thema des Verhältnissen der westlichen
Grundwerte zu unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen gewidmet. Durch
die mediale Diskussion um islamistischen Fundamentalismus hatte das Thema zur
Zeit des Seminars an Brisanz gewonnen. Im Eröffnungsvortrag zu diesem
Themenkreis arbeitete die vielfach preisgekrönte Journalistin Sibylle Hamann
eine Reihe von Werte- und Justizdebatten der letzten Jahre auf. So meinte sie
zur Diskussion um die Strafbarkeit von Beschneidungen nach jüdischem Ritus,
dass sich diese Debatte in Österreich und Deutschland nicht unter Ausblendung
der Verbrechen des Nationalsozialismus führen lasse. Zur Schächtung von Tieren
wiederum erinnerte Hamann daran, dass wesentlich brutalere Vorgänge, wie etwa
bestimmte Formen der Massentierhaltung und des Tiertransports, weit weniger
intensiv und weniger emotional geführt würden. Hamann machte auf diese Weise deutlich,
dass viele vordergründig an Religionen festgemachten Diskussionen sehr stark
von gesellschaftlichen Vorurteilen geprägt sind. Gleichzeitig warnte sie aber
vor den realen Gefahren fundamentalistischer Bewegungen, wie sie sich etwa in
der Begeisterung einzelner Jugendlicher für den Krieg im Nahen Osten zeigen. Hamann
wies an dieser Stelle auf den Unterschied fundamentalistisch getriebener
Verbrechen zu sonstigen Straftaten hin: Fundamentalisten fehle in der Regel
jedes Unrechtsbewusstsein.
Weiteren Input zu diesem Themenkreis lieferten die Referate des Präsidenten
des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, Rupert Wolff, sowie der
Professorin der Universität Innsbruck, Lamiss Khakzadeh-Leiler. In ihrem
ausgesprochen lebhaften Vortrag referierte Khakzadeh-Leiler die Rechtsprechung
des EGMR zu Religionsfreiheit und Meinungspluralismus. Sie brachte die
europäische Sicht ein, indem sie sich etwa mit dem Burka-Verbot im gesamten
öffentlichen Raum nach neuerem französischem Recht auseinandersetzte. Die
diesbezügliche EGMR-Entscheidung, die das Vorgehen Frankreichs billigt, stellte
Khakzadeh-Leiler in Frage. Pluralismus und Minderheitenrechte würden auf diese
Weise abgeschafft.
In den nachmittäglichen Workshops wurde versucht, den Input der Referate
für den Gerichtsalltag umzusetzen. Dabei wurde der Wandel der justizinternen
Meinungsbilder deutlich. So fanden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer etwa
weitgehend Einvernehmen dazu, dass Kruzifixe und sonstige religiöse Symbole im
Verhandlungssaal oder auch im Richterzimmer, wenn dort Verhandlungen oder
Befragungen stattfinden, störend seien. Die Richterinnen und Richter sehen
dadurch die Neutralität, mit der sie auftreten wollen, konterkariert. Mehrfach
wurde darauf hingewiesen, dass etwa auch Kreuze, die an einer Halskette als
Anhänger getragen werden, bei der Ausübung des Richteramts unter der Kleidung
verdeckt werden sollten; nur dann sei es legitim  zu verlangen, dass Richterinnen und Richter
bei der Berufsausübung kein Kopftuch tragen sollen.
Der zweite Seminartag hatte als Überschrift die „Richterliche Tätigkeit im
Spannungsfeld zwischen Effizienz und Qualität“. Es sollte über verschiedene
mögliche Instrumentarien der Qualitätssicherung für die Rechtsprechung
nachgedacht werden. Das Einleitungsreferat zu diesem Thema hielt Volksanwältin
Gertrude Brinek, die innerhalb der Volksanwaltschaft für die Justiz zuständig
ist und bereits zum zweiten Mal bei den Kirchberger Gesprächen vortrug. Volksanwältin
Brinek hob u.a. die Bedeutung der Sprache für das Ansehen und die Akzeptanz der
Justiz hervor. Sie machte darauf aufmerksam, dass es auch in einem
hochentwickelten Staat wie Österreich rund 75.000 funktionale Analphabetinnen
und Analphabeten gibt und dass in manchen Gerichtssprengeln der Anteil der
Gerichtsparteien mit migrantischem Hintergrund 50% beträgt. Unter diesem Aspekt
sei es besonders wichtig, dass die Justiz auf eine einfache, verständliche
Sprache achte. Volksanwältin Brinek machte auf Tools wie die Internetseite
www.leichterlesen.at oder die Einrichtung der Schreibwerkstatt, wie sie
der Rechnungshof in Zusammenarbeit mit dem Grazer Universitätsprofessor Rudolf
Muhr entwickelt hat, aufmerksam. Zur Verbesserung der Qualität der
Rechtssprache regte sie den Aufbau eines Legistischen Dienstes im Parlament an.
Der Präsident des Landesverwaltungsgerichts für Oberösterreich, Johannes
Fischer, skizzierte in seinem Referat Funktion, Aufgaben und Möglichkeiten der
neuen Verwaltungsgerichte. Er ging näher auf das in Oberösterreich entwickelte
vorausschauende Verfahrensmanagement ein. Durch einen engen, aber
formalisierten Kontakt zwischen Landesverwaltungsgericht und
Verwaltungsbehörden einerseits, Verwaltungsgerichtshof andererseits, wird
sichergestellt, dass auch bei einer Welle starker Arbeitsbelastung für das
Landesverwaltungsgericht schnell Rechtsprechungslinien entwickelt werden. In
solchen Fällen werden durch gezielte Steuerungsmaßnahmen bewusst rasche
Präjudizentscheidungen von Landesverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof
herbeigeführt, sodass für die Bürgerinnen und Bürger sehr rasch
Rechtssicherheit besteht. Gleichzeitig wird die Arbeitsbelastung der
Verwaltungsgerichte immer im bewältigbaren Maß gehalten. In diesem System ist
man sehr stark auf eine einheitliche Rechtsprechung hin orientiert.
Michael Ortner, Richter und Vorsitzender der GÖD in Innsbruck, stellte in
seinem Vortrag das Kriterium der Verfahrensdauer als zentrales Messparameter
der richterlichen Arbeit in Frage. Er betonte, dass in der berechtigten
Erwartung der Bevölkerung heute die Sozialkompetenz des Richters zumindest
gleichberechtigt neben der Sachkompetenz stehe und eine zu starke Fokussierung
auf die Verfahrensdauer viele Kriterien für die Qualität eines
Gerichtsverfahrens vernachlässige. Michael Ortner fand darin viel Zustimmung
aus dem Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Auch an diesem Seminartag war der Nachmittag der Bearbeitung des Inputs aus
den Vorträgen in Workshops gewidmet. Wiewohl auch hier die Diskussion lebhaft
war, zeigte sich viel Übereinstimmung und ein Paradigmenwechsel der letzten
Jahre wurde deutlich: So wie die sozialen Fähigkeiten der Richterinnen und
Richter ganz einhellig als zentral gesehen werden, so ist etwa auch die
Verwendung einer einfachen, verständlichen Sprache zum allgemein anerkannten
Qualitätskriterium geworden.
Der letzte Seminartag widmete sich dem künftigen Richterbild und wurde mit
einem Grundsatzreferat des Rechtsanwaltes und Universitätsprofessors Alfred Noll
eingeleitet. Dieser stellte die Funktion der Justiz als sozialer Einrichtung
und als staatliche Wohlfahrtseinrichtung im Sinne von Franz Klein heraus. Noll
betonte die Bedeutung von Transparenz, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit
gerichtlichen Handelns als zentrale Bausteine für das Vertrauen der Bevölkerung
in das Rechtsprechungssystem. An diesen Vortrag schloss eine Podiumsdiskussion
mit dem Vizepräsidenten des OLG Innsbruck Wigbert Zimmermann, dem Leiter der
Personalabteilung im Bundesministerium für Justiz, Gerhard Nogratnig, der
Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Vorarlberg, Birgitt Breinbauer, und dem
Präsidenten der Richtervereinigung, Werner Zinkl, an. Sowohl das Podium als
auch das Plenum trugen zu einem anregenden Abschluss der diesjährigen Kirchberger
Gespräche bei.  


Weiterführende Literatur:

Zum
Paradigmenwechsel in der Justiz vgl. Pilgermair (Hrsg), Wandel in der Justiz
(2013); 
http://www.sibyllehamann.com/Brinek, Vom wahren Leben im Rechtsstaat (2012); Fischer/Fischlehner,
Die
(künftige) Realisierung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer in
Verwaltungsverfahren, ZfV 2012, 211; 
Zum Paradigmenwechsel in der Justiz vgl. Pilgermair (Hrsg), Wandel in der Justiz (2013).
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Der Autor dieses Beitrags war in die Organisation der Veranstaltung eingebunden und dankt an dieser Stelle dem Fortbildungsleiter des OLG Innsbruck Klaus-Dieter Gosch sehr herzlich für die anregende, freundschaftliche Zusammenarbeit.
 
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