Wie entwickelt sich die Justizpolitik? Eine Jahresbilanz.

Die aktuelle Politik wird vorherrschend mit Begriffen wie
Stillstand und Lähmung beschrieben. Das stimmt für viele Bereiche; für die Justizpolitik des abgelaufenen Jahres trifft es nicht zu.
Wolfgang Brandstetter amtiert nunmehr seit rund zwei Jahren als Justizminister.
Mit der Ankündigung von Reformen hat er sich im ersten Jahr seiner
Ministerschaft die Latte hochgelegt.
Im Jahr 2015 hat sich Brandstetter gute Rahmenbedingungen
für künftige Reformen geschaffen. Vieles ist noch nicht nach außen sichtbar, sollte sich aber bald positiv bemerkbar machen. Die zentrale Sektion des Justizministeriums, die Präsidialsektion, hat erstmals seit Jahren wieder einen intellektuellen Leiter mit Ideen und Visionen (Michael Schwanda), der an Vorgänger wie den legendären
 Sektionschef Otto Oberhammer anschließt. Die Strafvollzugsdirektion wurde aufgelöst.
Die Strafvollzugsleitung ist nun (wieder) ins Ministerium integriert, die
Entscheidungen sind näher am Minister. Beide Änderungen sind Teil einer Neuorganisation des Ministeriums. Unter dem Strich wurden Schlüsselpositionen mit
vordenkenden, liberalen Kräften besetzt; Themen wie Aus- und Fortbildung und
Qualitätssicherung sind intern gestärkt. Wie jede Reorganisation war auch diese
von Unruhe begleitet; die Chancen, dass die Reorganisation einen Innovationsschub bringen wird, stehen dennoch gut. Bedenkt man,
dass die Möglichkeiten eines Ministers generell überschätzt, die Beharrungskraft
des Apparats unterschätzt wird, dann ist dem Minister hier tatsächlich ein
Kraftakt gelungen.
Aber auch nach außen sind Reformen sichtbar. Im
Zivilrechtsbereich wurde das Erbrecht modernisiert, im Strafbereich konnte die
angestrebte Reform zum 40. Geburtstag des Strafgesetzbuches beschlossen werden.
Mit großem Engagement und Beharren widmet sich
Brandstetter Bereichen, in denen es tagespolitisch nichts zu gewinnen gibt: vor
allem dem Strafvollzug und der Jugendgerichtsbarkeit. Die österreichische
Gefängnisverwaltung blickt auf viele Jahre der Stagnation zurück. Die Justizwache
gewann immer mehr Einfluss, während die Sozialarbeit hinausgedrängt wurde und die
Gefängnisse mehr und mehr Aufgaben des Gesundheitssystems übernahmen. Die Zahl
der psychisch schwer kranken Gefängnisinsassen hat sich alleine in den letzten zehn
Jahren vervierfacht. 2015 wurde neben der Straffung der Organisation auch mit
dem (baulichen) Ausbau der medizinisch orientierten Kapazitäten des so
genannten Maßnahmenvollzugs für psychisch kranke Menschen begonnen.
Im Jugendstrafrecht tritt 2016 der größte Reformschritt
der letzten 25 Jahre in Kraft. Sowohl Untersuchungshaft als auch Strafhaft
sollen dadurch bei Jugendlichen weiter zurückgedrängt werden. Bereits 2015
konnten hier Erfolge erzielt werden. Im Strafverfahren selbst wird künftig das
Umfeld der jugendlichen Straftäter einbezogen. In Sozialnetzkonferenzen erarbeiten
jugendliche Verdächtige gemeinsam mit Verwandten, Schule, Arbeitgeber,
Jugendamt und Staatsanwaltschaft Zukunftsperspektiven. Das erfolgreiche Modell
der Wiener Jugendgerichtshilfe wurde zu diesem Zweck im Laufe des Jahres 2015 auf
ganz Österreich ausgebreitet. Schwierigkeiten wie der islamistischen
Radikalisierung in der Haft begegnet der Minister nicht mit Populismus, sondern
mit der Umsetzung von Expertenkonzepten.
Die österreichischen Gerichtsgebühren gehören zu den
höchsten in Europa, der Zugang zum Recht wird so für viele erschwert. 2015 wurden
nun erstmals wieder Gerichtsgebühren gesenkt, im Familienrecht entfallen einige
Gebühren überhaupt. Gleichzeitig forciert die Justiz den Ausbau von Servicecentern
bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften. Besonders geschulte Mitarbeiter
stehen dort den nicht durch AnwältInnen vertretenen BürgerInnen mit Informationen zur
Seite, Abläufe werden vereinfacht.
Brandstetter kommt von der Universität, er intensiviert den
Austausch der Justiz mit der Wissenschaft. Ein besonderer Schwerpunkt liegt
derzeit bei zeitgeschichtlichen Projekten. Den als Zeitzeugen bekannt
gewordenen, bereits schwer erkrankten Friedrich Zawrel, der als Kind von den
Nationalsozialisten am Spiegelgrund gefoltert wurde, hat Brandstetter noch im
Justizministerium empfangen; Zawrel verstarb im vergangenen Februar. Werner
Vogt, der Zawrel aus den Fängen des NS-Arztes und späteren Gerichtssachverständigen
Heinrich Gross sprichwörtlich befreit hat, erhielt im November das Goldene Verdienstzeichen
der Republik aus den Händen des Justizministers. Einer der größten Sündenfälle
der Nachkriegsjustiz hat so zumindest eine angemessene Aufarbeitung und
Berichtigung erfahren.
Ebenso wichtig: Brandstetter denkt europäisch und
international und tritt in Brüssel initiativ auf. Mit dem Vorschlag für ein
gemeinsames Europäisches Asylrecht und seinem Einsatz für die Erhaltung der
Reisefreiheit hat der Minister europäische Haltung in schwierigen Zeiten demonstriert. Zur UN-Menschenrechtsprüfung ließ sich Brandstetter vom österreichischen Topexperten und früheren UN-Sonderbotschafter Manfred Nowak begleiten – nicht nur taktisch ein kluger Zug, sondern auch ein wichtiges Signal nach innen. Generell etabliert der Minister nach innen
 eine Diskussionskultur, die vermittelt: Initiative
wird belohnt, kritisches Denken ist kein Karrierehindernis; dies schlägt sich in einer insgesamt
gelungenen, vorausblickenden Personalpolitik nieder.
Die im abgelaufenen Jahr im Parlament beschlossenen neuen Justizgesetze stellen auch dem Justizausschuss des Parlaments ein gutes Zeugnis aus. Dort dominiert Sacharbeit, auch die Abgeordneten der Opposition verzichten auf Polemik und arbeiten aktiv an der Verbesserung der zu behandelnden Gesetzesvorschläge mit.
Über diese positive Bilanz sollen Defizite nicht
vergessen werden. Die sich seit Jahren dahinschleppenden großen
Wirtschaftsstrafverfahren sind eine Achillesferse der Justiz, und viele
Reformen verlieren sich nach wie vor in den Mühlen der Bürokratie. Der
Strafvollzug hat derart viele Probleme, dass jede Reform auf viele Jahre
gedacht werden muss. Einige zugesagte Verbesserungen, wie die dringend nötige Verlängerung der Gerichtspraxis für junge Juristinnen und Juristen (sie dauert nur mehr fünf statt früher neun Monaten) lassen weiter auf sich warten. 
Und trotzdem: Brandstetter hat die Justizpolitik nach den verlorenen Jahren unter seinen beiden Vorgängerinnen wieder in
Gang gesetzt und frischen Wind gebracht. Gute Aussichten
für 2016.
Der
Autor gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Beiträge per Email abonnieren