Der Justizapparat hat Geschichte gelernt

Langfassung eines Kommentars, der in der Printausgabe des Standard vom 24.2.2016 erschienen ist

Der Fall „Aula“ wirft die Frage auf, was die
Justiz aus der NS-Zeit gelernt hat. Später als andere Institutionen hat sie
sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die jüngsten Vorkommnisse sind aber
ein Rückschlag
Die heftige Kritik an der
Justiz, die Werner Winterstein und Ruth Wodak im Standard geübt haben, ist
nicht nur nachvollziehbar, sie ist wichtig und sie wird in die Aus- und
Fortbildungsveranstaltungen der Justiz einfließen. Ungeachtet der Enttäuschung
über den Anlassfall ist festzustellen, dass allein die Annahme solcher Kritik der
Justiz vor zwanzig Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Ich selbst hatte im
Jahr 1993 während der Ausbildung die anwaltliche Vertretung eines psychisch
kranken jungen Mannes in einem Strafverfahren zu führen. Die Anklage lautete
auf schwere Sachbeschädigung. In der Hauptverhandlung am Wiener
Straflandesgericht trat der Arzt Heinrich Gross als Sachverständiger auf. Bei
seiner Befragung und seinem mündlichen Gutachten in der Hauptverhandlung
verwendete Gross, für jeden Laien erkennbar, die Sprache der
Nationalsozialisten. Seine Schlussfolgerungen waren frei von jeder
medizinisch-sachlichen Würdigung. Begriffe wie „sozialschädlich“, „Parasit“, „biologisch
determiniert“, „sozial unsanierbar“ schwirrten durch den Raum. Die
Sozialschädlichkeit des Angeklagten machte Gross unter anderem daran fest, dass
der Bursche am Weg zum Tatort keine Schnellbahnfahrkarte gelöst hatte.
Die Geschichte des Heinrich
Gross war damals schon bekannt. Gross hatte im Nationalsozialismus am
vielfachen Mord an Kindern am Spiegelgrund in Wien mitgewirkt. Den von ihm getöteten
Kindern entnahm er die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine
Karriere in der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied
von BSA und SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Goldene Verdienstzeichen
der Republik, wurde meistbeschäftigter Gerichtspsychiater des Landes und
brachte in den 1970er-Jahren Friedrich Zawrel mittels eines böswilligen Tricks für
Jahre ins Gefängnis. Denselben Zawrel hatte der NS-Arzt Gross als Kind unter
den Nazis gefoltert.
Trotz Kenntnis der Vorgeschichte
des Gross war ich nach der Verhandlung am Straflandesgericht fassungslos
darüber, dass hier einer agierte, als wäre die Zeit im Jahr 1944 stehengeblieben.
Standard-Herausgeber Oscar Bronner hatte bereits in den 1960er-Jahren in einer
viel beachteten publizistischen Auseinandersetzung mit dem damaligen
Justizminister Broda darauf hingewiesen, dass allzu viele ehemals hochrangige
NS-Richter noch im Justizdienst stünden. Selbst ein Amtsvorgänger Brodas, Justizminister
Tschadek, hatte eine Karriere als gefürchteter NS-Richter hinter sich.
Nach der Strafverteidigung am
Straflandesgericht überlegte ich eine Disziplinaranzeige gegen Gross und die seinem
Treiben tatenlos zusehenden Richter. Nach einer Erörterung mit Freunden und
erfahreneren Kollegen war klar, dass solche Schritte für Gross ungefährlich
wären, aber das Ende meiner Justizkarriere bedeuten würden. Gross war in der
Justiz – noch – sakrosankt.
Ich habe mich entschieden, in
der Justiz zu bleiben und jene zu unterstützen, die auf einen Wandel drängten.
Bis heute bin ich überzeugt, dass machtvolle Apparate des Staates wie Polizei
und Justiz nicht den Ewiggestrigen und Unsensiblen überlassen werden dürfen.
Dass es neben der Kritik von außen die Möglichkeit und Notwendigkeit der
Veränderung von innen gibt. Dass es beider Flanken bedarf, um rechtsextremes
Gedankengut aus den Dienststellen der Republik zu vertreiben.
Der Arzt und Publizist Werner
Vogt hatte den Fall Gross bereits Ende der 1970er-Jahre publik gemacht und
Friedrich Zawrel gleichsam aus dem Gefängnis befreit. Für Gross wandte sich das
Blatt erst 1997, als der damalige Justizminister Michalek eine Mordanklage
gegen Gross anordnete.
Österreichs Umgang mit dem
Nationalsozialismus hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Später
als andere Institutionen hat sich die Justiz der notwendigen Auseinandersetzung
mit dem Thema gestellt. Vor etwa zehn Jahren entstand innerhalb der
Richterschaft eine Fachgruppe für Menschenrechte. Die Justizminister Michalek,
Berger und Brandstetter organisierten Symposien und Seminare unter dem Titel
„Justiz und Zeitgeschichte“. Friedrich Zawrel habe ich vor rund fünfzehn Jahren
als Vortragenden für die Justiz gewonnen; er hat diese Funktion bis zu seinem
Tod ausgeübt. Vor bald zehn Jahren konnte ich, dank der Unterstützung einer
neuen Generation von Beamten im Justizministerium, mit den Historikern Claudia
Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha ein zeitgeschichtliches Ausbildungsmodul
entwerfen. Etwa 120 angehende Richter und Staatsanwälte haben seither daran teilgenommen,
die Gedenkstätten in Mauthausen und Am Spiegelgrund besucht, mit Friedrich Zawrel
und Werner Vogt diskutiert. Bei diesen Lehrgängen fließen nicht selten Tränen; die
Seminare haben, so hoffe ich, nicht nur die Teilnehmenden, sondern die Justiz
als solche verändert und beeinflusst. Das Modell findet mittlerweile auch im
Ausland Interesse. Europaweit gibt es in der Justizausbildung bisher nämlich kaum
eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Faschismus.
Justizminister Brandstetter
hat seit seinem Amtsantritt all diese Initiativen unterstützt, Veranstaltungen
und geschichtliche Forschung forciert und Maßnahmen zur Sensibilisierung des
Justizpersonals gesetzt. Es geht schließlich darum, sich nicht nur der
Geschichte bewusst zu sein, sondern die Lehren aus früheren Verbrechen zu ziehen
und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht und in Haftanstalten zu entwickeln.
In seiner Stellungnahme zum
AULA-Verfahren in Graz bezeichnete der zuständige Sektionschef im Justizministerium,
Christian Pilnacek, die Einstellungsbegründung als „grobe Fehlleistung“ und
sprach von einer „unsäglichen Diktion.“ Die Begründung sei „unfassbar und in
sich menschenverachtend.“
Eine solch
klare, öffentliche Schelte ist für die Justiz ein Novum.
Der Fall Aula zeigt, dass die
vielfältigen Bemühungen des Ausbildungssystems der Justiz noch lange nicht am Ziel
sind. Wenn sich ein ähnlicher Fall in zehn Jahren wiederholen sollte, dann wird
die verbale Replik des Justizministeriums hoffentlich von der lauten Entrüstung
einer breiten Kollegenschaft und raschen Klarstellungen der Berufsvertretung begleitet
sein. Im besten Fall ist bis dahin eine Behördenkultur entstanden, in der auch
die unteren Behördenvertreter sich nach Fehlleistungen bei Opfern und
Öffentlichkeit entschuldigen.
Vor ziemlich genau einem Jahr,
am 20.2.2015, ist der große Friedrich Zawrel verstorben. Justizminister
Brandstetter hat Zawrel bei der Trauerfeier gewürdigt. Dem Justizkritiker
Werner Vogt hat Brandstetter im September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der
Republik überreicht. Die Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks
von Nikolaus Habjan über die Lebenswege von Zawrel und Gross im
Justizministerium hatte Zawrel gerade noch erlebt.
Der Justizapparat hat während
der letzten beiden Jahrzehnte einen Quantensprung zum Positiven hin erfahren. Die
Vorgänge in Graz sind ein Rückschlag und zeichnen ein Bild der
Widersprüchlichkeit, wie es der Zweiten Republik insgesamt noch immer zu eigen
ist.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Dieser Text
gibt seine persönliche Ansicht wieder.
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