Alle Beiträge von Oliver Scheiber

Massimo Cacciari im Teatro Goldoni: Sul Sogno

Zu den vielen Faktoren, die Italiens Kultur und Gesellschaft bei aller Widersprüchlichkeit so einzigartig, kraftvoll und großartig machen, zählt die starke Beteiligung der Intellektuellen am politischen Diskurs. Immer wieder finden Intellektuelle auch selbst den Weg in die Politik. Massimo Cacciari ist ein Beispiel dafür. Der Philosoph bekleidete zunächst Funktionen an der Universität und gründete mehrere Fachzeitschriften, ehe er für das Bürgermeisteramt in seiner Geburtsstadt Venedig kandidierte. Von 1993 bis 2000 repräsentierte er das weltoffene, kunst- und wissenschaftsaffine Venedig. Anschließend war er für kurze Zeit Abgeordneter zum Europäischen Parlament. 2010 zog sich Cacciari ganz aus der Politik zurück.

Cacciari steht für eine weitere Besonderheit, die Italien auszeichnet – die niederschwellige Vermittlung von Wissenschaft und Kunst an breite Bevölkerungsschichten. Roberto Benigni hat mit seinen Rezitationen aus Dantes Göttlicher Komödie auf öffentlichen Plätzen ein faszinierendes Beispiel dafür gegeben. Massimo Cacciari, der im Juni dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feiern wird, hat nun im Teatro Goldoni in Venedig über die Bedeutung von Träumen referiert und dazu Texte aus Stücken von Shakespeare zusammengestellt, die von jungen Schauspielerinnen und Schauspielern rezitiert wurden.

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Massimo_Cacciari  

https://www.youtube.com/watch?v=zQhNnrOJ0A8

https://www.teatrostabileveneto.it/spettacolo/810_826_sul_sogno__letture_shakespeariane_da_la_tempesta

Österreich im Wahljahr 2024: Grund zur Sorge, doch Hoffnung besteht. Eine Einschätzung.

Österreich steht am Beginn eines Wahljahres. Vor bald zwei Jahren hat profil-Redakteurin Eva Linsinger einen Befund gestellt, der unverändert gilt: „Österreich hat ein veritables und tief sitzendes Korruptionsproblem. Wesentliche Säulen von Staat und Demokratie zeigen sich gefährlich verrottet. Im Machtrausch verwechseln Politiker ungeniert Staat und Partei, achten keine moralischen Grenzen, werden Spitzenbeamte nach Parteibuch ausgewählt.“ (profil 14/2022). Der Bundespräsident stellte angesichts der zahlreichen Korruptionsfälle ebenfalls 2022 einen Wasserschaden in der Republik fest. Den Installateur hat dennoch bis heute niemand gerufen, von der notwendigen Generalsanierung des Hauses Österreich ist schon gar keine Rede.

Problematisch ist nicht nur die verbreitete Korruption, ebenso verhängnisvoll ist die Ideen- und Visionslosigkeit der Regierung. Österreichs Politik ist, mehr noch als in anderen Ländern, von der ganz kurzfristigen Perspektive der wöchentlichen Umfragen getrieben. Statt eine große gemeinsame Anstrengung des Landes für Reformen einzuleiten, treibt man eine Polarisierung voran, die man selbst beklagt. Das beste Beispiel ist die Klimastrategie, die von der Grünen Umweltministerin den EU-Behörden vorgelegt und von der türkisen Europaministerin ebendort wieder zurückgezogen wurde. Als Ergebnis drohen Österreich Verfahren und Strafzahlungen.

Der Unmut der Bevölkerung ob dieser Politik ist nachvollziehbar und führt, im globalen Trend, zu guten Umfragewerten für rechtspopulistische und destruktive Gruppierungen. Doch sind die Warnungen vor einem demnächst schon autoritär regierten Österreich wirklich berechtigt?

Die vergangenen Jahre haben den Boden für autoritäres Regieren aufbereitet. Mit der Übernahme der Parteiführung durch Sebastian Kurz 2017 hat die Volkspartei ihre Verantwortung als staatstragende Partei abgestreift und sich dem Rechtspopulismus verschrieben. Bedeutende Christdemokraten wie Franz Fischler, Jean Claude Juncker oder Karl Schwarzenberg haben frühzeitig auf die Gefährlichkeit dieses Wegs hingewiesen. Der Kreis um Kurz hat sich in seinen Chats treffend selbst beschrieben. Die Etiketten der Niedertracht, Gier und Hybris, die politische Kommentatoren für die Ära Kurz fanden, sprechen für sich.

Die letzten beiden Regierungen – Türkis/Blau und Türkis/Grün – haben die Institutionen der Republik geschwächt. Dabei sei an die Verweigerung von gesetzlich vorgesehenen Aktenlieferungen (des Finanzministeriums an das Parlament, des Bundeskanzleramts an die Staatsanwaltschaft) erinnert – in der Zweiten Republik beispiellose Vorgänge. Oder an die teilweise jahrelange Nichtbesetzung von Leitungsfunktionen in der Verwaltung durch die Regierung oder an das Amtsverständnis des Nationalratspräsidenten. Das Parlament verfügt im internationalen Vergleich über wenig Ressourcen und wenig Selbstbewusstsein. Mit Wolfgang Sobotka den nach allen Umfragen unbeliebtesten Politiker des Landes an die Spitze der Volksvertretung zu wählen war ein Akt der Selbstbeschädigung des Parlaments. Regierungsmitglieder führten zudem die letzten Jahre laufend verbale Angriffe auf die Justiz und auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse.

Diese autoritären Vorzeichen werden begleitet von einer unglücklichen Medienstruktur, in der die Regierung die Medien von Regierungsinseraten abhängig gemacht hat und zugleich die Gremien des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks dominiert. Österreich hat heute wohl so viele gut ausgebildete Journalistinnen und Journalisten wie nie zuvor, ihr Potenzial kann aber in den herrschenden Strukturen nicht wirksam werden. Nähe, Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeit von Politik und Medieninhabern verhindern das.

Viel spricht dafür, dass FPÖ und ÖVP nach der anstehenden Nationalratswahl eine gemeinsame Regierung bilden, wenn sie – was nach aktuellen Umfragen offen ist – über eine Mehrheit verfügen. Die FPÖ wird, führt sie eine Regierung an, das tun, was sie seit längerem offen ankündigt – ein illiberales System nach dem Vorbild Ungarns aufbauen, in dem das Recht der Politik folgt.

Aber sind die Voraussetzungen für einen autoritären Umbau im Sinne Orbans oder Kaczynskis in Österreich überhaupt gegeben? Wohl ja. Denn sowohl bei der Unabhängigkeit der Medien als auch Justiz, entscheidend für die Abwehr autoritärer Versuchungen, hat Österreich Defizite. Wie beim Klimawandel gibt es auch in Rechtsstaatfragen Kipppunkte. Bereits geschwächte Strukturen fallen ab einem bestimmten Zeitpunkt in sich zusammen. In der beschriebenen Medienstruktur haben autoritäre Projekte wenig Widerstand von breitenwirksamen Medien zu erwarten. Die Gremien des ORF sind mehrheitlich von der Regierung bestimmt. Ähnliches gilt für den Verfassungsgerichtshof, dessen Entscheidungen in den letzten Jahren ein wichtiges Korrektiv zu offenkundig rechtswidrigen Regierungsprojekten waren. De facto bestimmt die Regierung alle Mitglieder des Gerichtshofs; gehen nur wenige Richter:innen in Pension (weil man sie etwa mit Golden Handshakes oder persönlichen Angriffen dahin drängt) und ernennt neue linientreue („steuerbare“) Wegbegleiter, so fällt das Verfassungsgericht als Korrektiv zu Regierung und Gesetzgeber aus. Inhaltlich verfassungswidrige Gesetze würden von einem regierungstreuen Verfassungsgericht formal gehalten werden, eine FPÖ-geführte Regierung das von ihr bereits ausgegebene Motto „Das Recht muss der Politik folgen“ umsetzen. Ein solches Szenario hat zuletzt Polen erlebt, wo der Kaczynski-Regierung nach längeren Kämpfen der Umbau des Verfassungsgerichts gelungen ist. Der Blick in die Geschichte der Ersten Republik erinnert uns außerdem daran, wie leicht es für das autoritäre christlichsoziale Regime Anfang der 1930er-Jahre war, den Verfassungsgerichtshof auszuschalten. Die Verfassung war damals dieselbe wie heute.

Nicht besser sieht es für die Korruptionsbekämpfung aus. Die Angriffe der ÖVP auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sind ein deutlicher Hinweis darauf, was der Justiz unter Blau-türkis bevorstünde. Die vielen anhängigen Ermittlungsverfahren wegen Wirtschaftskriminalität und Korruption wird eine blau-türkise Regierung binnen Wochen entweder einstellen, oder, wenn sie es geschickter anlegt, durch umfassende Berichtsaufträge zu Tode administrieren. Das österreichische System mit dem Weisungsrecht der Justizminister ermöglicht den vollen Durchgriff der Regierung auf die Strafverfahren. Das Justizministerium hat aber nicht nur das Weisungsrecht in der Hand, es bestimmt auch über die Karrieren der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Ein solches System ist kontraproduktiv, wenn man sich selbstbewusste Staatsanwaltschaften wünscht. Der eine zentrale taktische Fehler von Sebastian Kurz war es, das Innenministerium für bedeutender für seine Politik zu halten als das Justizministerium; er unterschätzte die Wirkungskraft unabhängig arbeitender Ermittlungsbehörden und überließ das Justizministerium den Grünen. Eine rechtspopulistische Regierung wird kein zweites Mal auf den Zugriff auf die Justiz verzichten. Wichtig(st)es Gebot im Wahljahr 2024 wäre es, den allgemeinen politischen Konsens darüber herzustellen, das Justizressort in dieser politisch sensiblen Phase auch künftig einer über den Parteien stehenden anerkannten Persönlichkeit des Rechtslebens anzuvertrauen. Diesen Konsens sollte man am besten schon vor der Wahl anstreben.

Im Ergebnis: die Gefahr einer autoritären Wende in Österreich nach der Wahl 2024 ist real. Es ist wichtig, dafür ein breites Bewusstsein zu erzeugen. Österreich steht ja nicht allein da: die USA haben vor drei Jahren einen Putschversuch erlebt, Polen hat acht autoritäre Jahre hinter sich, Ungarn, Argentinien, Israel sind autoritär regiert, in Italien macht sich Premierministerin Meloni gerade an den Abbau der Demokratie, indem sie einen Gesetzesvorschlag vorlegte, wonach die stimmenstärkste Partei künftig stets eine absolute Mehrheit der Parlamentsmandate erhalten soll – so will Meloni ihrer eigenen Partei dauerhaft die absolute Macht verschaffen. Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug, jedes Jahr kippen einige Demokratien. Die demokratische Aufbruchsstimmung der 1970er- und 1980er-Jahre war trügerisch. Heute sehen wir: um die Demokratie werden wir dauerhaft kämpfen müssen.

Das Bild, das die österreichische Politik in den letzten Jahren abgegeben hat, hat dazu beigetragen, dass große Teile des Landes in Lethargie und Resignation verfallen sind, dass Beamtenschaft wie Wirtschaft eine Kanzlerschaft Kickls als unausweichlich sehen. Diese Lethargie und Apathie ist gefährlich; denn radikale politische Gruppen erringen selten Mehrheiten, sondern gelangen erst durch die Passivität und Duldung der Mehrheit an die Macht. Warum aber sollen zwei Drittel der Bevölkerung das Experiment des weiteren Drittels mitgehen, dessen schlechter Ausgang vorhersehbar ist?

Machen sich breite Kreise der Bevölkerung die Ausgangssituation bewusst, dann wäre auch der erste Schritt dahin getan, die Lethargie aufzugeben und Allianzen für die Demokratie und den Rechtsstaat zu bilden. Diese Allianzen, die über mehrere Parteien und die Zivilgesellschaft hinweg reichen müssen, werden notwendig sein, um eine autoritär gesinnte Regierung zu verhindern; und, sollte sie doch kommen, um den Rechtsstaat mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Machtanspruch der Gegner der Demokratie verlangt, dass sich in diesem Jahr Alle deklarieren und beteiligen. Neutral zu sein, sich nicht einzumischen, ist keine Option, wenn es um die Demokratie geht.

Seit kurzem demonstrieren in Deutschland hunderttausende Menschen gegen das Wiedererstarken der extremen Rechten, nachdem in den letzten Wochen quer durch Europa faschistische Reden und Wortbilder zu hören sind. Dieses starke, sichtbare Bekenntnis zur und Eintreten für die Demokratie greift auf Österreich über. Die Demonstrationen sind ein wichtiges Zeichen an die Politik und ein Zusammenrücken der demokratischen Kräfte, mit dem sich die bisher schweigende Mehrheit durch Solidarität stärkt.

Für die Bildung einer breiten Allianz hilfreich wäre die Rückbesinnung darauf, dass die Grundlagen der großen politischen Lager, Sozialismus einerseits, christlich-soziales Denken andererseits, zu denselben bestimmenden Werten führen: Menschlichkeit und Solidarität. Dies sollte der Gesellschaft als Grundlage für einen breiten gesellschaftlichen Konsens dienen. Die Personen dafür sind vorhanden. Die SPÖ hat, so turbulent die Umstände waren, erstmals seit langem mehrere Kandidaten für die Parteispitze zur Wahl gestellt. Mit Andreas Babler hat sich der Bewerber durchgesetzt, der über viele Jahre bei der schwierigsten denkbaren Ausgangslage – eine kleine Stadt mit überfülltem, schlecht verwaltetem Flüchtlingslager – mit einer Politik erfolgreich war, die auf fremdenfeindliches Sentiment verzichtet und das Miteinander Aller ins Zentrum stellt. Und auch im konservativen Lager gibt es an vielen Stellen und erst recht an der Basis Menschen, die der Idee der staatstragenden, verantwortungsvollen konservativen Partei verbunden sind. Es ist wichtig, dass sich zuletzt auch aus der Volkspartei mit Othmar Karas eine starke Persönlichkeit klar positioniert hat und als Sammelpunkt der Rückbesinnung dienen kann. Erste Landeshauptleute schienen sich zuletzt der Politik der Mitte von Karas anzuschließen. Es gilt, einen Schlussstrich unter die Verwerfungen der Ära Kurz zu ziehen und auch den Mitläufern des Systems Kurz die Hand zu reichen bei ihrer Rückkehr in die politische Mitte.

Es bleibt nicht viel Zeit. Es sollte kein Tag mehr verloren gehen, wo wir nicht über alle Parteien und Gruppierungen hinweg darüber sprechen, wie wir den Rechtsstaat absichern. Worüber wir reden müssen, was wir anstreben sollten: die Gremien des ORF rasch entpolitisieren, die Ernennungsverfahren für die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs so reformieren, dass die Ernennungserfordernisse erhöht werden und kein beherrschender Einfluss der Regierung mehr besteht, die Medien aus der Abhängigkeit der Regierungsinserate befreien. Auch die Staatsanwaltschaften müssen endlich dem Einfluss der Regierung entzogen und tatsächlich unabhängig gestellt werden. Die WKStA, die oft in politisch heiklen Causen ermittelt, bedarf eines besonderen Schutzes der Unabhängigkeit. Schließlich sollten wir zur Belebung der Demokratie die Möglichkeit von Minderheitsregierungen in die Überlegungen einbeziehen und mehr Menschen den Zugang zum Wahlrecht geben. Durch das restriktive Staatsbürgerschaftsrecht ist in Wien etwa ein Drittel der in der 2-Millionen-Stadt lebenden Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen; auch dieser eingeschränkte demokratische Prozess gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Je nach Ergebnis sollte nach der Wahl auch die Möglichkeit einer Konzentrationsregierung zur Vermeidung einer weiteren Polarisierung diskutiert werden.

Österreich hatte nach dem Abgang von Sebastian Kurz mehrere Jahre Zeit, die Institutionen wieder zu stärken. Das wurde nicht genutzt. Jetzt ist die Zeit knapp. Es lohnt sich darum zu kämpfen, Österreich die bittere Erfahrung von rund zehn verlorenen Jahren zu ersparen, wie sie etwa Polen gemacht hat. Dort zeigt sich gerade, wie schnell rechtsstaatliche und demokratische Strukturen zu beschädigen sind und wie mühsam es ist, sie wieder aufzubauen. Darum braucht Österreich 2024 eine breite, geeinte Allianz aller Verteidiger:innen von Demokratie und Rechtsstaat, von Einrichtungen und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft über alle politischen Anschauungen hinweg. Ein Einverständnis Aller, die fest am Boden der Menschenrechtsordnung und des demokratischen Grundkonsenses 1945 stehen. Das Potenzial von Österreichs Zivilgesellschaft mit der auch wieder intellektuell pulsierenden Hauptstadt Wien ist groß, damit lässt sich viel bewegen.

Österreich steht am Beginn eines Wahljahres. Erlauben wir uns wieder Träume und langfristige Strategien und setzen wir sie gemeinsam um. Österreich kann sehr gute Jahre vor sich haben.

 

Mehr in: „Sozialdemokratie – Letzter Aufruf!“ (bahoe books, 2019), „Mut zum Recht“ (falter-Verlag 2019), „Die Krise der Volkspartei“ (bahoe books, 2023).

 

 

 

Welche Reformen in der Justiz heute gefragt wären

Von der juristischen Ausbildung über die Organisation des Ministeriums bis zur Berufsausübung und Forschung: Eine Reihe von Veränderungen tut not.

Gastbeitrag für Die Presse – Rechtspanorama vom 15.1.2024 

Oliver Scheiber

Der Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit, aus dem Alltag herauszutreten und Grundsätzliches zu überdenken. Das gilt auch für den Rechtsbereich. Die letzten Jahre waren durch die Diskussion über Korruptionsprozesse und die Stellung der Staatsanwaltschaften bestimmt. Andere Themen kommen zu kurz. Auch wenn das Wahljahr im Allgemeinen kein guter Zeitpunkt für Reformen sein mag – Ideen für künftige Regierungsprogramme kann es nie genug geben, wenn man Stillstand vermeiden will. Im Folgenden ein paar Gedanken, wo künftige Reformen ansetzen könnten.

  1. Das Jusstudium

Die Inhalte des Jusstudiums sind seit Jahrzehnten recht unverändert. Die Gesellschaft und auch der Alltag der Rechtsberufe haben sich aber stark verändert. So kommt heute außergerichtlichen Konfliktlösungen viel mehr Bedeutung zu. Vor Gericht sind die Verfahren in Zivilsachen und Strafsachen nicht so starr wie früher, es gibt eine ganze Palette an Handlungsmöglichkeiten für Gericht und Anwaltschaft. Dadurch sind Kreativität und Kommunikationsfähigkeiten in den Rechtsberufen ungleich wichtiger als früher. Vor den Gerichten nimmt die Beschäftigung mit vulnerablen Personengruppen (Kinder, Pflegebedürftige, psychisch Kranke) viel Raum ein, das Familienrecht ist eines der größten Tätigkeitsfelder der Gerichte und damit auch der Anwaltschaft. All dem trägt die Universitätsausbildung nur unzureichend Rechnung. Der verstärkte Einbau von Grundkenntnissen der Soziologie, der Psychologie und Psychiatrie, der Mediations- und Kommunikationstechniken in die Lehrpläne könnte Studierende besser auf den Berufsalltag vorbereiten; das Familienrecht könnte entsprechend seiner praktischen Bedeutung mehr Beachtung finden. Das immer wichtiger werdende Klima- und Umweltrecht findet bereits vereinzelt seine Verankerung in den Fakultäten. Angesichts des weltweiten Rückzugs der Demokratie wäre zu überlegen, ob nicht am Beginn der rechtswissenschaftlichen Studien die geschichtlichen Entwicklungen vermittelt werden sollten, die der Anlass zur heutigen europäischen Menschenrechtsordnung waren. Die Umbrüche des 20. Jahrhunderts mit Weltkriegen, Faschismus und darauf folgendem Aufbau der modernen Grundrechtsordnung sind offenkundig zu wenig im kollektiven juristischen Bewusstsein verankert.

  1. Das Justizministerium

Die schon angeführten Umwälzungen des Alltags im Rechtsleben finden sich auch in der Organisation des Justizministeriums kaum wieder. Eine Neuordnung des Ministeriums könnte der Entwicklung der Gerichtsbarkeit wichtige Impulse geben. So könnte eine eigene Sektion für Soziologie und Kriminologie die Begleitforschung zur Gerichtsbarkeit koordinieren und zugleich der Legistik des Ministeriums Grundlagen liefern. Für die Justiz relevante gesellschaftliche Entwicklungen könnten ebenso fundiert beobachtet werden wie Entwicklungen in der Rechtsprechung und im Strafvollzug. Die bisher nach Straf- und Zivilrecht getrennten Legislativsektionen könnten zusammengeführt werden, um Gesamtbetrachtungen des Rechtssystems zu fördern; zugleich könnte der europarechtliche Fokus der Legistik gestärkt werden.

  1. Die Gesetzgebung

Die Justizgesetzgebung ist heute ein weites Feld. In erster Linie könnte man Reformen angehen, die seit Jahren überfällig sind. Im Jahr 2008 etwa ist das neue strafrechtliche Vorverfahren in Kraft getreten. Die damit verbundene Reform des Hauptverfahrens wurde nie begonnen. Dabei könnte eine neue Hauptverhandlung wichtige Verbesserungen bringen: durch eine Zweiteilung des Verfahrens in die Schuld- und Straffrage würden – dem Beispiel anderer Staaten folgend – mehr Ressourcen in die Überlegung der Strafe fließen. Damit könnte die Sanktion besser ausgewählt werden, unnötige Haftjahre eingespart und die Rückfallsquote gesenkt werden. Die könnte mit der oben erwähnten stärkeren Vernetzung zur Wissenschaft unterstützt werden.

Ein weiteres Reformprojekt wäre die Umsetzung der Stärkung der Kinderrechte, die in dieser Legislaturperiode von der so genannten Griss-Kommission mit zahlreichen Vorschlägen konkretisiert wurde. Dabei geht es vielfach um die Änderung der Gerichtsverfahren – ganz generell gilt, dass die Qualität der Gerichtsverfahren vor allem über Änderungen der Verfahren erreicht werden kann. International steht die so genannte Verfahrensgerechtigkeit stark im Fokus. Es geht zB darum, mehr an mündlichen Verhandlungen, runden Tischen und Fallkonferenzen vorzusehen, da auf diese Weise eine weitaus bessere Entscheidungsgrundlage für die Gerichte entsteht als etwa durch Schriftsätze und schriftliche Gutachten.

  1. Rechtsprechung

 Jede Berufsgruppe ist gut beraten, ihre Tätigkeit laufend zu hinterfragen. Das gilt auch für die Rechtsprechung. Gerichte und Staatsanwaltschaften sind hier gefordert, nicht nur allein, auch gemeinsam mit den anderen Rechtsberufen, Notariat und Anwaltschaft. Alle Rechtsberufe arbeiten im gesellschaftlichen Auftrag und müssen sich fragen: gehen wir mit ausreichend Empathie mit Mandanten und Verfahrensbeteiligten um? Werden wir unserer Verpflichtung zum Schutz vulnerabler Gruppen (der Kinder im Familienrecht, der psychisch Kranken im Erwachsenenschutzrecht und Strafrecht) ausreichend gerecht? Wären vielleicht gemeinsam regelmäßige Diskussionen zu diesen Fragen auf lokaler Ebene hilfreich? Die Strafjustiz muss sich fragen, ob sie ihre härtesten Mittel entsprechend den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und ultima ration einsetzt und wie sehr sie sich  – etwa im Bereich Schlepperei oder Klimakleber – bewusst oder unbewusst von tagespolitischen Stimmungen treiben lässt. Überfüllte Gefängnisse, in denen moldawische Familienväter sitzen, die sich gegen geringes Entgelt dazu verleiten ließen, Flüchtlinge Richtung Nordwesten zu chauffieren und am Ende als Mitglied einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden, sollten Anlass zu einem solchen Hinterfragen sein.

Das sind nur einige der Gedanken, die sich aufdrängen. Natürlich sollte auch die einganhgs erwähnte Frage der Aufsicht über die Staatsanwaltschaften einer Lösung zugeführt werden. Die letzten Jahre weisen eher in die Richtung, dass Österreich nicht reif ist für eine politische Aufsicht über die Staatsanwaltschaften. Zwei Reformmodelle sind daher naheliegend: erstens das System der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft. Hier hat man sich dafür entschieden, einen Instanzenzug innerhalb der Staatsanwaltschaft selbst einzurichten. Ist man also mit der Entscheidung einer Staatsanwältin und eines Staatsanwalts nicht einverstanden, so kann man ein großes Gremium innerhalb der Europäischen Staatsanwaltschaft anrufen. Eine Alternative dazu wäre das italienische Modell, in dem Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ähnlich unabhängig sind wie Gerichte. Ein Rechtsschutzdefizit besteht auch hier nicht, da nahezu alle wichtigen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Sicherzustellen wäre nur, dass es im Falle des Untätigbleibens von Staatsanwaltschaften ein Mittel gibt, Ermittlungsverfahren in Gang zu bringen. Dafür gibt es wiederum verschiedene Modelle, auch hier könnte man ein Gericht einschalten, das darüber entscheidet, ob ein Verfahren einzuleiten ist oder nicht.

Oliver Scheiber ist Richter und Lehrbeauftragter (Univ. Wien, FHWKW) sowie Autor von Büchern zu Justiz und zu Politik.

Wahljahr 2024. Die Aussichten sind gut, wenn wir wieder lernen zu träumen.

Wahljahr in den USA, in der Europäischen Union, in Österreich. Die Angst geht um. Vor einer Wiederwahl Trumps, vor einem Bundeskanzler Kickl, vor einer autoritären Wende im Sinne Ungarns. Medien scheinen die ungünstigsten Szenarien mitunter herbeizuschreiben.

Die größte Gefahr für die Demokratie sind nicht rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien, sondern Apathie und Lethargie einer schweigenden Mehrheit. Nach allen Umfragen gibt es in Österreich eine stabile Mehrheit für unser bewährtes System des demokratischen Rechtsstaats. Hosea Rathschiller hat vor wenigen Tagen in einem starken Text in der Presse die Argumente dargelegt, die für Zuversicht sprechen. Spitzenpolitiker der Europäischen Union haben ebenfalls in einem Gastkommentar im Standard zum 25-Jahr-Jubiläum der gemeinsamen Währung beschrieben, wie aus einem Traum ein Projekt und am Ende der Euro zur Wirklichkeit wurde. Das ist auch das Stichwort: ein Traum. Wir brauchen die Träume. Die Gründungsväter der Europäischen Union, der vor kurzem verstorbene legendäre Kommissionspräsident Jacques Delors: sie alle hatten Träume – niemand hätte sich unmittelbar nach dem Krieg ein Europa ohne Grenzen, mit gemeinsamer Währung, ohne Zölle und mit einem einheitlichen Universitätssystem und offenem Arbeitsmarkt vorstellen können.

Der neue SPÖ-Obmann Andreas Babler ist wohl unter anderem deshalb an die Spitze seiner Partei gelangt, weil er in seiner Bewerbungsrede von Träumen sprach, die Wirklichkeit geworden sind: Gemeindewohnungen, soziale Absicherung, 40-Stunden-Woche. Der Glaube an die Träume hat die Delegierten überzeugt.

Einer guten Zukunft des Landes stehen vor allem Resignation und Lethargie entgegen. Sobald wir alle, in unserem Umfeld, im Kleinen, zu handeln beginnen, sind unser aller Zukunftschancen wieder da. Der Machtanspruch der Gegner der Demokratie verlangt, dass wir uns deklarieren und dass wir uns beteiligen. Zuzusehen, neutral zu bleiben, sich zurückzuziehen, sich nicht einzumischen: das sind keine Optionen, wenn es um die Demokratie geht. Die starken Persönlichkeiten, die sich im Kampf um die Erhaltung von Demokratie und Rechtsstaat bereits bewiesen und klar positioniert haben, sind am politischen Feld. Andreas Babler wurde bereits genannt. Es ist wichtig, dass sich auch aus der Volkspartei mit Othmar Karas eine maßgebliche Persönlichkeit wieder für die staatstragende, verantwortungsvolle Rolle der konservativen Partei stark macht. Gute Politik entsteht nicht aus Angst und Ressentiment, sie entsteht aus den Träumen. In diesem Sinne: Gutes Neues Jahr!

Ist das wirklich ein Punkt für Sobotka?

 

Replik. Österreich ist ein Sonderfall, da ein politisches Organ an der Spitze der Staatsanwaltschaften steht und weisungsbefugt ist.

In einem an dieser Stelle erschienenen Gastkommentar („Wo Wolfgang Sobotka leider einen Punkt hat“) hat Christoph Kletzer vor der Gefahr einer die ganze Republik zusammenschießenden Staatsanwaltschaft gewarnt. Er begründet das u. a. mit der „Vernichtung der öffentlichen Person Straches“ und den „glücksritterlichen Anreizen“, weil der Chance auf historischen Ruhm in den Staatsanwaltschaften nur ein vernachlässigbares Risiko gegenüberstünde. Damit werden den Staatsanwaltschaften sehr deutlich sachfremde Motive bei Anklageerhebung, somit nicht weniger als die Missachtung wesentlicher rechtsstaatlicher Prinzipien des Strafverfahrens und der eigenen Berufspflichten, vorgeworfen. Sind diese Vorwürfe berechtigt?

Kletzers Beitrag stellt die reale Lage auf den Kopf. Ein Blick in internationale Evaluierungen, etwa die maßgebliche Einschätzung der Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (Greco), belegt dies. Der letzte Bericht zu Österreich vom Dezember 2022 fordert mehr entschlossenere Korruptionsermittlungen und mehr (!) Unabhängigkeit für die Staatsanwaltschaften. Die österreichischen Staatsanwaltschaften verfügen nämlich nicht, wie der Text von Kletzer suggeriert, über besondere Freiheiten. Vielmehr ist Österreich insofern ein Sonderfall, als ein politisches Organ – Justizminister:in – an der Spitze der Staatsanwaltschaften steht und weisungsbefugt ist. Das Justizministerium entscheidet über Ermittlungen und zugleich auch über die Karrieren der Staatsanwält:innen. Die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaften von der Regierung widerspricht dem modernen Verständnis des demokratischen Rechtsstaats mit seinen Checks and Balances.

Die Argumentation Kletzers geht an Gesetzeslage und Praxis vorbei. Die Staatsanwaltschaften sind verpflichtet, jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Anfangsverdacht strafbaren Verhaltens aufzuklären (§ 2 Abs 1 StPO). Ermittlungsschritte, insbesondere alle Grundrechtseingriffe wie Hausdurchsuchungen, Untersuchungshaft oder Telefonüberwachung unterliegen der gerichtlichen Kontrolle. Auch die Anklageschrift kann noch beim Oberlandesgericht beeinsprucht werden, das bei Stattgebung des Einspruchs das Verfahren einstellt. Dennoch hält Kletzer den Einspruch gegen die Anklageschrift ohne nähere Begründung für „letztlich zahnlos“. Beschuldigte, ob unbekannt oder mächtig, sind gut beraten, die vielen Rechtsmittel zu nutzen.

Die häufiger gewordenen Korruptionsermittlungen entsprechen dem europäischen Standard. Wir finden ganz ähnliche Szenarien in Italien, Frankreich, Israel oder Belgien; ähnliche Sachverhalte, ähnlich geführte Ermittlungen, eine ähnliche Litigation PR und Diffamierung von Staatsanwaltschaften durch Politiker:innen, die im Verdacht von Straftaten stehen.

Aktenvorlage verweigert

Grenzüberschreitungen hat es zuletzt tatsächlich gegeben, allerdings nicht vonseiten der Staatsanwaltschaften, sondern etwa vonseiten des Bundeskanzleramts oder Finanzministeriums, die gesetzlich vorgesehene Aktenvorlagen verweigerten. Der Beitrag von Kletzer hat einen wichtigen Punkt, der allerdings für alle Beschuldigten, nicht nur Politiker gilt: Nach einem Freispruch sollte es einen höheren Kostenersatz geben. Genau das ist im Budget 2024 vorgesehen.

Man sollte die Dinge beim Namen nennen: Österreich erlebt eine Vielzahl an Verdachtsfällen im Korruptionsbereich. Es gibt mit der WKStA eine nach internationalen Standards aufgestellte Strafverfolgungsbehörde, die ermittelt. Das tut dem betroffenen Politikfeld naturgemäß weh. Rechtsstaatliche Normalität.

Reaktionen an: debatte@diepresse.com

Die Autoren

Mag. Wilfried Embacher ist Rechtsanwalt in Wien

Dr. Oliver Scheiber ist Richter und Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der Fachhochschule FH Wien der WKW.