Dankesrede von Nikolaus Habjan anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Swoboda-Preises 2016

Der Schauspieler und Regisseur Nikolaus Habjan hat heute im Justizpalast in Wien in Anwesenheit von Justizminister Brandstetter den Wolfgang-Swoboda-Preis für Menschlichkeit im Strafverfahren erhalten. Der Preis wird von der Vereinigung der Österreichischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte verliehen. Im Folgenden die Dankesrede von Nikolaus Habjan im vollen Wortlaut (Quelle: https://www.facebook.com/nikolaus.habjan/posts/10205940856657165)

„Ich freue mich sehr, hier zu sein.
Es wäre auch für Friedrich Zawrel eine besonders große Freude gewesen, hier vor Ihnen zu stehen. Sein Leben wurde durch Verbrechen des Nationalsozialismus nachhaltig beschädigt. Er ließ sich aber von den Gräueltaten nicht brechen und predigte mir und allen Jugendlichen, denen er sein Leben erzählte, immer wieder den einen Satz: „Wehret den Anfängen, so etwas darf nie wieder passieren.“
Der Fall von Friedrich Zawrel ist beispielhaft für Tausende Schicksale. Es ist eine Justiz-Republiksgeschichte. Schmerzlich mussten wir lernen, dass 1945 nicht die Stunde Null war, sondern dass die Opfer weiterhin respektlos in das Eck der Verbrecher gestellt wurden.
Statt Resozialisierung betrieb man Entsozialisierung. Jahrzehnte nach dem Krieg tat sich die Justiz schwer, Lager- und Heiminsassen als Menschen vor dem Gesetz zu sehen.
Auch heute ist es in Österreich noch immer möglich, sich der NS-Sprache ungestraft zu bedienen:

Unter dem Titel „Mauthausen-Befreite als Massenmörder“ erschien vergangenen Sommer in der Zeitschrift Aula, ein Artikel von Manfred Duswald, der die Überlebenden des KZ in Oberösterreich pauschal als „Landplage“ und „Kriminelle“ darstellt. Darin heißt es:
„Raubend und plündernd, mordend und schändend plagten die Kriminellen das unter der ‚Befreiung‘ leidende Land. Eine Horde von 3.000 Befreiten wählte den Weg ins Waldviertel im Nordwesten von Niederösterreich und wetteiferte dort mit den sowjetischen ‚Befreiern‘ in der Begehung schwerster Verbrechen.“

Zur Erklärung: Bis 1945 befanden sich in Mauthausen 200.000 politische Gefangene, Homosexuelle, Kriegsgefangene und auch sogenannte „Asoziale“. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ermordet, viele starben bei der brutalen Zwangsarbeit in den Steinbrüchen.
Das von der Staatsanwaltschaft Graz aufgenommene Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Auf Antrag des Autors, Manfred Duswald, wurde seitens der Staatsanwaltschaft Graz die Einstellung des Verfahrens so begründet:
„Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“. Weiteres heißt es,da sich (unbestritten) unter den Inhaftierten Rechtsbrecher befanden.“
Anstatt sich mit der NS-Sprache historisch zu beschäftigen, schlug die zuständige Grazer Staatsanwältin Landplage im „Duden“ nach. Die Rechtschreibung stand ja nicht zur Diskussion. Nach Aussagen der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak geht die Etymologie des Gebrauchs von ‚Landplage‘ bis zu Martin Luther zurück und ist auch in der NS-Sprache
verankert.

Auch das Comité International de Mauthausen (CIM) als Dachverband von derzeit 21 nationalen Organisationen von Überlebenden des KZ Mauthausen und deren Angehörigen verwehrte sich auf das Heftigste gegen die vollkommen aus der Luft gegriffene Pauschalierung der Staatsanwaltschaft Graz und spricht von einer Verhöhnung der Überlebenden.
Nicht immer geschehen diese Dinge aus böser Absicht heraus, manchmal auch aus simpler Hirnlosigkeit, fehlender Empathie oder mangelnder Bildung. Es ist absolut überfällig, endlich Verständnis für die Opfer aufzubringen und nicht nur Verständnis für die Täter. Respekt für die Lebensumstände der Opfer. Verständnis dafür, dass einige unter den herrschenden Umständen der Zeit – wie Friedrich Zawrel- gezwungen waren, kriminell zu werden.
Und kein Verständnis aufzubringen für Menschen die solch menschenverachtenden Begründungen schreiben oder für ‚unbedenklich‘ empfinden.

Noch ist das NS-Verbotsgesetz ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung und muss es auch bleiben.
Friedrich Zawrel hat als Zeitzeuge zur Aufarbeitung der Verbrechen „Am Spiegelgrund“ ganz wesentlich beigetragen. Er hat unzählige Male vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse und Erfahrungen – über sein Leben erzählt. Es war ihm wichtig, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Naziverbrechen der Jugend vermittelt wird, damit diese Geschichte keine Wiederholung erfährt.
Im August stellten die ÖVP, SPÖ und die Grünen den Antrag, die Neue Mittelschule in der Hörnesgasse im 3.Bezirk nach Friedrich Zawrel zu benennen. Er selbst hatte diese Schule einige Monate lang besucht.
Alfred Strasser, der Vorsitzende der FPÖ des 3.Bezirks sprach sich gegen die Umbenennung der Schule aus und meinte, Friedrich Zawrel sei ein mehrfach vorbestrafter Krimineller…”und kein Vorbild für die Jugend. Er argumentierte auch mit Gerichtsurteilen, die vor 1945 gefällt wurden, und die alle bereits getilgt waren.
Am 7. Juni wird diese Schule in einer Feierstunde dieses großen Mannes gedenken und diesmal habe ich die Ehre, den Kindern von Friedrich Zawrel zu erzählen.

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Preis aufgrund dieser skandalösen Einstellungsbegründung durch die Staatsanwaltschaft Graz ablehnen soll.
Graz zeigt uns leider, dass für manche Mitarbeiter der Justiz Rechtssprechung nur aus Duden und Gesetz besteht, aber es gibt einige Menschen, die stark dagegenhalten und die ich mit meiner Arbeit als Künstler unterstützen und stärken will
Der Kommentar von Oliver Scheiber im Standard vom 23.2.2016, in dem er von einem schweren Rückschlag der Justiz spricht, aber auch von einer neuen Generation von Richtern und Staatsanwälten rund um Justizminister Brandstetter, die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht anstreben, hat mich das noch einmal stark überdenken lassen.

Oliver Scheiber ist es zu verdanken, dass Friedrich Zawrel, Jahrzehnte als Verbrecher abgestempelt, Vortragender der Justiz geworden ist, im Rahmen eines Ausbildungsmodul und von über 120 angehenden Staatsanwälten und Richtern gehört wurde.
Darum nehme ich diesen Preis mit Freuden an, und danke denjenigen, die sich trotz solcher Skandale in Graz nicht entmutigen lassen sich weiter für einen menschenwürdigen und respektvollen Umgang mit Menschen vor Gericht einzusetzen. Vielen Dank!“
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Der Justizapparat hat Geschichte gelernt

Langfassung eines Kommentars, der in der Printausgabe des Standard vom 24.2.2016 erschienen ist

Der Fall „Aula“ wirft die Frage auf, was die
Justiz aus der NS-Zeit gelernt hat. Später als andere Institutionen hat sie
sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die jüngsten Vorkommnisse sind aber
ein Rückschlag
Die heftige Kritik an der
Justiz, die Werner Winterstein und Ruth Wodak im Standard geübt haben, ist
nicht nur nachvollziehbar, sie ist wichtig und sie wird in die Aus- und
Fortbildungsveranstaltungen der Justiz einfließen. Ungeachtet der Enttäuschung
über den Anlassfall ist festzustellen, dass allein die Annahme solcher Kritik der
Justiz vor zwanzig Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Ich selbst hatte im
Jahr 1993 während der Ausbildung die anwaltliche Vertretung eines psychisch
kranken jungen Mannes in einem Strafverfahren zu führen. Die Anklage lautete
auf schwere Sachbeschädigung. In der Hauptverhandlung am Wiener
Straflandesgericht trat der Arzt Heinrich Gross als Sachverständiger auf. Bei
seiner Befragung und seinem mündlichen Gutachten in der Hauptverhandlung
verwendete Gross, für jeden Laien erkennbar, die Sprache der
Nationalsozialisten. Seine Schlussfolgerungen waren frei von jeder
medizinisch-sachlichen Würdigung. Begriffe wie „sozialschädlich“, „Parasit“, „biologisch
determiniert“, „sozial unsanierbar“ schwirrten durch den Raum. Die
Sozialschädlichkeit des Angeklagten machte Gross unter anderem daran fest, dass
der Bursche am Weg zum Tatort keine Schnellbahnfahrkarte gelöst hatte.
Die Geschichte des Heinrich
Gross war damals schon bekannt. Gross hatte im Nationalsozialismus am
vielfachen Mord an Kindern am Spiegelgrund in Wien mitgewirkt. Den von ihm getöteten
Kindern entnahm er die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine
Karriere in der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied
von BSA und SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Goldene Verdienstzeichen
der Republik, wurde meistbeschäftigter Gerichtspsychiater des Landes und
brachte in den 1970er-Jahren Friedrich Zawrel mittels eines böswilligen Tricks für
Jahre ins Gefängnis. Denselben Zawrel hatte der NS-Arzt Gross als Kind unter
den Nazis gefoltert.
Trotz Kenntnis der Vorgeschichte
des Gross war ich nach der Verhandlung am Straflandesgericht fassungslos
darüber, dass hier einer agierte, als wäre die Zeit im Jahr 1944 stehengeblieben.
Standard-Herausgeber Oscar Bronner hatte bereits in den 1960er-Jahren in einer
viel beachteten publizistischen Auseinandersetzung mit dem damaligen
Justizminister Broda darauf hingewiesen, dass allzu viele ehemals hochrangige
NS-Richter noch im Justizdienst stünden. Selbst ein Amtsvorgänger Brodas, Justizminister
Tschadek, hatte eine Karriere als gefürchteter NS-Richter hinter sich.
Nach der Strafverteidigung am
Straflandesgericht überlegte ich eine Disziplinaranzeige gegen Gross und die seinem
Treiben tatenlos zusehenden Richter. Nach einer Erörterung mit Freunden und
erfahreneren Kollegen war klar, dass solche Schritte für Gross ungefährlich
wären, aber das Ende meiner Justizkarriere bedeuten würden. Gross war in der
Justiz – noch – sakrosankt.
Ich habe mich entschieden, in
der Justiz zu bleiben und jene zu unterstützen, die auf einen Wandel drängten.
Bis heute bin ich überzeugt, dass machtvolle Apparate des Staates wie Polizei
und Justiz nicht den Ewiggestrigen und Unsensiblen überlassen werden dürfen.
Dass es neben der Kritik von außen die Möglichkeit und Notwendigkeit der
Veränderung von innen gibt. Dass es beider Flanken bedarf, um rechtsextremes
Gedankengut aus den Dienststellen der Republik zu vertreiben.
Der Arzt und Publizist Werner
Vogt hatte den Fall Gross bereits Ende der 1970er-Jahre publik gemacht und
Friedrich Zawrel gleichsam aus dem Gefängnis befreit. Für Gross wandte sich das
Blatt erst 1997, als der damalige Justizminister Michalek eine Mordanklage
gegen Gross anordnete.
Österreichs Umgang mit dem
Nationalsozialismus hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Später
als andere Institutionen hat sich die Justiz der notwendigen Auseinandersetzung
mit dem Thema gestellt. Vor etwa zehn Jahren entstand innerhalb der
Richterschaft eine Fachgruppe für Menschenrechte. Die Justizminister Michalek,
Berger und Brandstetter organisierten Symposien und Seminare unter dem Titel
„Justiz und Zeitgeschichte“. Friedrich Zawrel habe ich vor rund fünfzehn Jahren
als Vortragenden für die Justiz gewonnen; er hat diese Funktion bis zu seinem
Tod ausgeübt. Vor bald zehn Jahren konnte ich, dank der Unterstützung einer
neuen Generation von Beamten im Justizministerium, mit den Historikern Claudia
Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha ein zeitgeschichtliches Ausbildungsmodul
entwerfen. Etwa 120 angehende Richter und Staatsanwälte haben seither daran teilgenommen,
die Gedenkstätten in Mauthausen und Am Spiegelgrund besucht, mit Friedrich Zawrel
und Werner Vogt diskutiert. Bei diesen Lehrgängen fließen nicht selten Tränen; die
Seminare haben, so hoffe ich, nicht nur die Teilnehmenden, sondern die Justiz
als solche verändert und beeinflusst. Das Modell findet mittlerweile auch im
Ausland Interesse. Europaweit gibt es in der Justizausbildung bisher nämlich kaum
eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Faschismus.
Justizminister Brandstetter
hat seit seinem Amtsantritt all diese Initiativen unterstützt, Veranstaltungen
und geschichtliche Forschung forciert und Maßnahmen zur Sensibilisierung des
Justizpersonals gesetzt. Es geht schließlich darum, sich nicht nur der
Geschichte bewusst zu sein, sondern die Lehren aus früheren Verbrechen zu ziehen
und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht und in Haftanstalten zu entwickeln.
In seiner Stellungnahme zum
AULA-Verfahren in Graz bezeichnete der zuständige Sektionschef im Justizministerium,
Christian Pilnacek, die Einstellungsbegründung als „grobe Fehlleistung“ und
sprach von einer „unsäglichen Diktion.“ Die Begründung sei „unfassbar und in
sich menschenverachtend.“
Eine solch
klare, öffentliche Schelte ist für die Justiz ein Novum.
Der Fall Aula zeigt, dass die
vielfältigen Bemühungen des Ausbildungssystems der Justiz noch lange nicht am Ziel
sind. Wenn sich ein ähnlicher Fall in zehn Jahren wiederholen sollte, dann wird
die verbale Replik des Justizministeriums hoffentlich von der lauten Entrüstung
einer breiten Kollegenschaft und raschen Klarstellungen der Berufsvertretung begleitet
sein. Im besten Fall ist bis dahin eine Behördenkultur entstanden, in der auch
die unteren Behördenvertreter sich nach Fehlleistungen bei Opfern und
Öffentlichkeit entschuldigen.
Vor ziemlich genau einem Jahr,
am 20.2.2015, ist der große Friedrich Zawrel verstorben. Justizminister
Brandstetter hat Zawrel bei der Trauerfeier gewürdigt. Dem Justizkritiker
Werner Vogt hat Brandstetter im September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der
Republik überreicht. Die Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks
von Nikolaus Habjan über die Lebenswege von Zawrel und Gross im
Justizministerium hatte Zawrel gerade noch erlebt.
Der Justizapparat hat während
der letzten beiden Jahrzehnte einen Quantensprung zum Positiven hin erfahren. Die
Vorgänge in Graz sind ein Rückschlag und zeichnen ein Bild der
Widersprüchlichkeit, wie es der Zweiten Republik insgesamt noch immer zu eigen
ist.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Dieser Text
gibt seine persönliche Ansicht wieder.
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Richterkarrieren vor/während/nach dem Nationalsozialismus – Kontinuitäten und Brüche

Bericht über eine Veranstaltung am Bezirksgericht Meidling am 18.1.2016



Am 18. Jänner 2016 waren an die 100 Besucherinnen und Besucher zu einer Veranstaltung ins Bezirksgericht Meidling gekommen. Der Abend fand im Rahmen der Werkschau des Malers Josef Schützenhöfer und als Teil einer Veranstaltungsserie zum Republiksjubiläums statt.

Ilse Reiter (Universität Wien) referierte den Forschungsstand zu Richterkarrieren vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Der Standard-Beitrag von Sebastian Fellner (unten) gibt den wesentlichen Inhalt wieder. An das Referat schloss ein Gespräch mit Justizminister Wolfgang Brandstifter an. Moderiert wurde der Abend von Maria Wittmann-Tiwald, Präsidentin des Wiener Handelsgerichts.

Den Besucherinnen und Besuchern stand anschließend ein Buffet zur Verfügung – Interessierte konnten Josef Schützenhöfer folgen, der durch die Ausstellung führte und seine Werke erläuterte.


Die nächste Veranstaltung dieser Reihe findet am Montag, 14.3.2016, zu dem Thema „Polizei“ statt. Anmeldungen bitte an: bgmeidling.laedt.ein@gmail.com. Programm folgt.

Impressionen von der Veranstaltung (Fotos: BKA – Andy Wenzel, BG Meidling):




BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)

Oliver Scheiber (Foto: BKA- Andy Wenzel)

Ilse Reiter BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)

Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter

Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter

Josef Schützenhöfer bei der Führung durch die Ausstellung

Josef Schützenhöfer

BM Brandstetter, Josef Schützenhöfer – Bilder von Arbeitern
der Steyr Daimler Puch AG und der Fa Semperit

 Bericht des Standard:



Brandstetter fordert Erinnerungskultur der Justiz SEBASTIAN FELLNER 


20. Jänner 2016, 12:02 91 POSTINGS


Noch in den 1960ern versahen einstige NSDAP-Mitglieder Dienst als Richter und Staatsanwälte 


Wien – Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) bescheinigt der österreichischen Justiz eine mangelhafte Auseinandersetzung in der Vergangenheit mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Aus der Außensicht als Strafrechtsprofessor konnte er in den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren keine Vergangenheitsbewältigung beobachten, sagte der Minister bei einer Diskussionsveranstaltung zur Rolle der Justiz vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus am Bezirksgericht Meidling am Montagabend. 


Bedrohter Rechtsstaat 


Umso mehr lobte Justizminister Brandstetter aktuelle Bemühungen, die Rolle von NSDAP-treuen Richtern und Staatsanwälten auch in der Zweiten Republik aufzuarbeiten. „Gerade in Zeiten von Bedrohungsszenarien für den Rechtsstaat in Europa brauchen wir ein öffentliches Bekenntnis zu unseren Werten und besondere Sensibilität für das, was wir aus der Geschichte lernen müssen“, sagte er. Zu lernen gibt es viel. Denn die Entnazifizierung des österreichischen Justizapparats nach 1945 ist in teilweise haarsträubendem Ausmaß gescheitert, wie die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal in ihrem Vortrag schildert. Aus dem staatlichen Dienst zu entlassen seien nach dem Verbotsgesetz von 1945 die sogenannten „Illegalen“ gewesen – also jene Nationalsozialisten, die bereits während der Zeit des Austrofaschismus der NSDAP angehörten. 


Gescheiterte Entnazifizierung 


1945 und 1946 wurde fast die Hälfte der Belegschaft aufgrund des neuen Verbotsgesetzes aus der Justizverwaltung entfernt. Dennoch war 1946 im Sprengel des Landesgerichts Wien ein Drittel der Richter ehemalige Nationalsozialisten. Weil aber bald Personalmangel herrschte, wurden andere, ebenfalls belastete Richter und Staatsanwälte wieder eingestellt. „Schon drei Jahre nach Ende des NS-Regimes waren somit die Anfangserfolge der Entnazifizierung weitgehend wieder rückgängig gemacht“, sagte Reiter-Zatloukal. Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 herrschte lange Zeit eine „Schlussstrich“-Mentalität, stellte die Rechtshistorikerin fest. Erst in den 1960er-Jahren flammte die Debatte wieder auf. 


Die Nazis unter uns 


Unter dem Titel Die Richter sind unter uns enthüllte der spätere STANDARD-Gründer Oscar Bronner die Nazi-Vergangenheit aktiver Richter in Österreich. Die Replik von Justizminister Christian Broda (SPÖ) trug den Titel: „Die Republik hat den Schlussstrich gezogen. Was 1945 recht war, muss 1965 billig sein.“ Der Justizminister lehnte jeglichen weiteren Schritt zur Entnazifizierung der österreichischen Justiz ab, alle betroffenen Personen blieben bis zur Pension im Amt. Brandstetter sieht in der gescheiterten Entnazifizierung auch die Wirkung eines psychologischen Phänomens – vieles wolle man eben nicht wahrhaben. Ein Porträt Otto Tschadeks – SPÖ-Justizminister in den 1950er-Jahren – hängt nach wie vor im Justizministerium, obwohl seine Vergangenheit als Militärrichter im NS-Regime mittlerweile aufgearbeitet ist, erklärt Brandstetter. Das Bild wurde aber mit einer Zusatztafel ausgestattet, die auf die Vergangenheit des Ministers hinweist. 


(Sebastian Fellner, 20.1.2016) 


Die Diskussion fand im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum Republiksjubiläum am Bezirksgericht Meidling statt. Die Ausstellung des Künstlers Josef Schützenhöfer, „Schützenhöfer vor Gericht“, ist dort noch bis 30. Mai zu sehen. 



1945 – 1955 – 1995 – 2015

Veranstaltungsserie zum Republiksjubiläum  


Eine Kooperation von/mit Unterstützung von

Bundesministerium für Justiz
Bezirksgericht Meidling
Alte Schmiede Kunstverein Wien
Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
Mauthausen Komitee Österreich
Nationalfonds der Republik Österreich
Zukunftsfonds der Republik Österreich
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Recht. Gerecht?

Text für das Spectrum, DIE PRESSE – Printausgabe vom Samstag, 9.1.2016

Ist es gerecht, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Supermarktangestellte wegen eines verdorbenen Krapfens belangen, nicht aber Konzernverantwortliche, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Warum das Strafrecht eine Umorientierung braucht.
   (Die Presse

Ein Mann um die dreißig, ohne
Arbeit, befindet sich in der Parkgarage eines Wiener Lebensmittelmarkts. Dort
steht ein Flaschenrückgabeautomat, in den der Mann hineinkriecht – die Öffnung
ist schmal, doch dem Mann kommt hier seine Magerkeit nach jahrelanger
Drogenabhängigkeit zu Hilfe. Das Vorhaben, ein paar Leerflaschen herauszuholen,
scheitert. Der Mann wird von Ladendetektiven erwischt.

Ein paar Wochen später
schildern die Detektive den Vorfall vor einem Wiener Bezirksgericht. Sie müssen
schmunzeln. Irgendwie sei es schon schräg gewesen, wie der Mann da mit
blutenden Armen am Flaschenband gelegen sei. Er habe sich an den zahlreichen
Scherben Arme und Beine zerschnitten. Die Detektive hatten den Mann in ihrem
Dienstzimmer über eine Videokamera beobachten können.

Der gescheiterte Flaschendieb
heißt im Gerichtssaal Angeklagter. Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten
Diebstahl zur Last. Der potentielle Schaden wurde auf rund 5 Euro geschätzt,
anhand der Flaschen, die sich in Reichweite des Mannes neben dem Flaschenband
befanden.

Der Mann ist, wie Juristen es
ausdrücken, umfassend geständig. Seine Mutter, in deren Wohnung er lebte, habe
ihn an diesem Tag vor die Tür gesetzt. Er habe nicht gewusst wohin und auch
kein Geld für Essen gehabt. Wäre das mit den Flaschen gelungen, dann hätte er
sich im Markt mit dem Leergutbon eine Leberkässemmel und ein Bier gekauft. Er
sei verzweifelt und hungrig gewesen, mehr könne er dazu nicht sagen. Es tue ihm
leid.

Die Umstände dieses Falles sind
markant, an sich ist es aber ein klassisches Beispiel einer Strafverhandlung,
wie man sie täglich bei Wiener Bezirksgerichten verfolgen kann. In
Westösterreich ist man großzügiger, da legen die Staatsanwälte die Anzeigen zu
solchen Vorfällen oft zurück. In und um Wien wird von Gesetzesbestimmungen, die
mit „Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat“ oder „Entwendung“ überschrieben sind,
kaum Gebrauch gemacht. Anders als bei prominenten Wirtschaftsverfahren gibt es
keine Besprechungen hochrangiger Justizbeamter über die Richtigkeit der
Anklage. Und so kommen jedes Jahr hunderte Fälle vor Gericht, in denen jemand
ein Bier oder einen Nagellack stehlen wollte. Hat der Angeklagte Vorstrafen, so
kann er für den gescheiterten Bierdiebstahl für einige Monate ins Gefängnis gehen.
Gibt man diesen Angeklagten die Gelegenheit über ihr Leben zu sprechen, so
bekommt man ähnliche Biographien zu hören: oft ging der Tat ein Todesfall in
der Familie voraus, der Verlust des Partners oder eines Kindes, manchmal eine
Trennung, und oft sind die Angeklagten seit längerem depressiv oder in
psychiatrischer Behandlung. Als Erfahrungswert lässt sich sagen: ungefähr ein
Drittel der Angeklagten, die wegen eines Ladendiebstahls oder vergleichbaren
Delikts der Kleinkriminalität vor dem Bezirksrichter stehen, zeigen Symptome
einer schweren psychischen Erkrankung.

Diebstahl ist strafbar, seit
Jahrhunderten und in allen Teilen der Welt. Aber hat der Staat das Recht und
die Aufgabe, bei Bagatelldiebstählen das Unglück dieser Menschen mit
Gefängnisstrafen zu vergrößern? Was ist denn die Aufgabe des Strafrechts, und
wie ist es um den Unrechtsgehalt von Taten wie jener des Leerflaschendiebs
bestellt?

Das
Strafrecht,  so antwortet wikipedia auf
die entsprechende google-Suche, ziele vor allem auf den Schutz bestimmter 
Rechtsgüter wie beispielsweise Leben und Eigentum sowie Sicherheit und Integrität des Staates und elementarer Werte des Gemeinschaftslebens ab. Das
Strafrecht sanktioniert also die schwersten Verstöße gegen das
gesellschaftliche Zusammenleben. Strafgesetzbücher sind in der Regel
überschaubar, die vorherrschenden Delikte in Gesetz und Verhandlungssaal sind
in den meisten Staaten dieselben: Mord, Raub, Sexualverbrechen, Einbrüche,
Drogendelikte, Diebstähle. Die Vielzahl anderer Gesetzesverletzungen wird als
nicht so dramatisch verstanden, als dass die Strafgerichte einschreiten
müssten. Wer falsch parkt, wer ohne Fahrschein die U-Bahn benutzt, wer den Müll
im Park ausleert oder als Wirt die Sperrstunde überzieht, kommt nicht vor den
Strafrichter, sondern erhält eine Verwaltungsstrafe.

Die
Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist ein Prinzip des modernen
Rechtsstaats, der Gleichheitssatz ein anderes. Gleiche Sachverhalte sollen
gleich behandelt werden. Misst man das Strafrecht an diesen Maximen, dann
stellt sich – nicht nur für Österreich, sondern global – die Frage: behandelt
das Strafrecht alle gleich, handeln die Staaten verhältnismäßig? Schärfer
formuliert: ist das Strafrecht in der Aufklärung angekommen? Ist das Strafrecht
konsequent beim Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen?

Die einfache
Antwort lautet: nein. Je größer und breiter die Gefährdung von Gesundheit und
Menschenleben ist, umso schwächer ist der strafrechtliche Schutz. Und das liegt
nicht so sehr an den Strafgesetzen, als vielmehr an der Strafrechtspraxis.
Weltweit lässt sich beobachten, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mit der
Verfolgung der schwerwiegendsten Kriminalität überfordert sind – es fehlt gleichermaßen
an Kompetenz wie an Mut. Man verfolgt weiter das bereits seit Jahrhunderten Verfolgte.
Den Zweck des Strafrechts verfehlt man immer deutlicher.

Anschauliche
Beispiele dafür gibt es sonder Zahl. In Kampanien, in der Gegend von Neapel und
Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien
angelegt.  Haus- wie Sondermüll wurde und
wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit
Erde beschüttet und dienen als Gemüseplantagen. Die Region hat heute die
höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl
der Tumorerkrankungen hat sich allein
zwischen 2008 und 2012 mehr als
verdreifacht. Ärzte sprechen von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs.
Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt
ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Der Chef des
Nationalen Krebsforschungsinstituts in Neapel, Giuseppe Comella, stellte vor einiger
Zeit fest, es sei eindeutig, dass
die Sterblichkeitsrate der Bevölkerung
in der Nähe von Müllhalden und Orten, wo heimlich Abfälle vergraben werden,
höher ist. Ein Onkologe aus der Region, Antonio Marfella, berichtet, dass genau
jene Krebsarten zunähmen, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind.

Das Müllproblem Kampaniens ist
ein europäisches – bereits 1997 sagte der Mafiaaussteiger Carmine Schiavone in einem parlamentarischen
Untersuchungsausschuss in Rom aus, dass die Camorra in Süditalien Giftmüll aus
ganz Europa lagere. Schiavone nannte die Namen der beteiligten Transportfirmen,
er führte die Ermittler zu den illegalen Müllhalden und erzählte von Lastwagen,
die aus Deutschland radioaktive Abfälle in Bleikisten angeliefert hätten.
Schiavone erläuterte, wie sein Clan Anfang der Neunzigerjahre mit dem illegalen
Müllgeschäft monatlich mindestens 700.000 Euro verdiente und damit
Bürgermeister und Polizeibeamte schmierte.

Ernsthafte
strafrechtliche Maßnahmen gab es in den 17 Jahren seit Schiavones Aussagen
nicht. Und so verwundert es wenig, dass vor einem Jahr in Kampanien
sichergestelltes
Gemüse Kadmium, Arsen und Blei in einer
Konzentration aufwies, die den erlaubten Höchstwert um das 500-Fache
überschritt. Und auch die Unternehmer, die wissentlich verseuchte Lebensmittel
vertreiben, ihre Herkunft verschleiern, sie falsch deklarieren, haben nur in
den seltensten Fällen mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Die
Gefängnisse der Welt sind voll mit Einbrechern, Dieben und kleinen
Drogenhändlern; diejenigen, die Gesundheit und Leben einer Vielzahl von
Menschen durch vergiftete Lebensmittel, durch illegale Rodungen oder
Flussverschmutzungen gefährden oder die Kinder arbeiten lassen, sucht man in
Haftanstalten vergeblich.

An den Müllverbrechen
Kampaniens sind viele beteiligt, vor Ort, aber auch unter den Müllexporteuren
in mehreren europäischen Staaten. Sie wissen, dass letztendlich zehn-, wenn
nicht hunderttausende Menschen an den Folgen dieser Umweltverbrechen sterben
werden, und sie haben dennoch wenig zu befürchten. Und das ist beileibe kein
italienisches Phänomen. Im westlichen Ungarn brach am 4. Oktober 2010 ein
Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut
wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt.
350 Häuser wurden zerstört, der Schlamm verseuchte Flüsse und den Boden auf
einem Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern.

Fünf Jahre nach der Katastrophe
sind die Strafverfahren nicht abgeschlossen: Die Katastrophe hätte nicht
vorausgesehen werden können und sei nicht auf menschliches Versagen
zurückzuführen, hieß es zuletzt von Seiten der Gerichte. Für Sanierungsarbeiten
hat die Regierung 40 Milliarden Forint (130 Millionen Euro) öffentlicher Gelder
ausgegeben.

Oder Japan: dort sind nach
neueren Expertenschätzungen als direkte Folge der Atomkatastrophe von Fukushima
vom März 2011 zwischen
40.000 und 80.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten,
außerdem bis zu 37.000 Krebserkrankungen durch strahlenbelastete
Nahrungsmittel. Allein in der Region Fukushima wurden bisher bei mehr als
55.000 Kindern Schilddrüsenzysten festgestellt, die als Vorstufe von
Tumorerkrankungen gelten. Der Reaktorunfall in Fukushima wurde zudem erst nach
einem Monat von der japanischen Regierung auf die
Katastrophenstufe sieben gestellt, also als schwerer
Unfall qualifiziert. Genauso lange hatte es im Jahr 1986 gedauert, bis der
Atomunfall von Tschernobyl ebenfalls als Katastrophe der Stufe 7 eingeordnet
wurde. Regelmäßig wird die Bevölkerung bei solchen Störfällen zu spät gewarnt,
und es gibt weder Konsequenzen für die Verursacher der Katastrophen noch für
die Behördenvertreter, die Informationen zurückhalten. Und da es keine
Konsequenzen gibt, bleibt das Muster immer gleich. Auch der jüngste Kärntner
Fall von HCB-kontaminierter Milch folgt dem bekannten Schema. Als Greenpeace die
Giftbelastung der Milch im Dezember 2014 öffentlich macht, weisen Behörden und
Politik zunächst jede Verantwortung zurück. Stück für Stück wird bekannt, dass
die Gefahren des Brückler-Baukalks seit 2004 im Umweltbundesamt dokumentiert
sind. 2011 erging ein Entsorgungsauftrag zur Verwertung des giftstoffbelasteten
Restmülls. Bereits im März 2014 wussten die Behörden von Milchproben, bei denen
die HCB-Belastung deutlich über den Grenzwerten lag. Der für Lebensmittelsicherheit
zuständige Behördenleiter meint nun, dass das Amtsgeheimnis eine Warnung der
Bevölkerung verhindert hätte. Was für eine absurde Rechtsauslegung. Der
Sachverhalt ist angezeigt.

Die Liste der Umwelt- und Lebensmittelskandale
ließe sich fortsetzen. Das Strafrecht kommt seiner Aufgabe, die Gesellschaft
vor schweren Verletzungen von Eigentumsrechten und vor Gefahren für Leib und
Leben zu schützen, immer weniger nach. Weltweit übt sich die Strafrechtspraxis
in der Verfolgung von Kleinkriminalität, stecken Polizei und Justiz den
Großteil ihrer Ressourcen in die Untersuchung von Delikten, die sich von
vornherein durch einen geringen Unrechtsgehalt und geringes Gefahrenpotenzial
auszeichnen. Umwelt- und Lebensmittelkriminalität bedrohen weltweit das Leben von
Millionen Menschen und haben kaum ein Risiko einer strafrechtlichen Ahndung.
Ähnliches gilt für viele Bereiche der Finanz- und Wirtschaftskriminalität, die
manchmal Kommunen oder Länder in ihrer Existenz bedrohen bzw. auf einen Schlag
eine Vielzahl von Anlegern um ihr Vermögen bringt. Oft verlieren auf einen
Schlag tausende Menschen durch kriminelle Machenschaften ihre jahrzehntelang
angesparten Pensionen. Es ist oftmals beschrieben worden, dass die Politik die
Kontrolle über das internationale Finanzkapital verloren hat. Global agierenden
Konzernen gelingt es, trotz hoher Gewinne durch ausgeklügelte Konzernstrukturen
und geschickte Standortwahl die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Und genau so
schaffen es manche Unternehmen, in einem weitgehend strafrechtsfreien Feld nach
Belieben zu agieren.

Eine Ursache des Dilemmas liegt
darin begründet, dass das Strafrecht zumeist an den Tatort im Inland anknüpft.
Ein europäischer Konzern, der sich irgendwo in der Welt der Kinderarbeit
bedient oder die Umwelt vergiftet, wird deshalb in Europa nicht strafrechtlich
verfolgt. Das ist nicht zeitgemäß: wirtschaftliches Handeln kennt keine
Grenzen, nur die Strafverfolgung lässt sich noch durch Grenzen behindern.
Schwere Vergehen europäischer Staatsbürger und Unternehmen sollten in Europa
genau so verfolgt werden als ob die Tat in der Heimat begangen worden wäre. Bei
politischen Verbrechen ist diese Systemumstellung bereits vor einiger Zeit
geglückt: Diktatoren und Völkermörder werden heute weltweit für ihre Verbrechen
belangt, sie können sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen.

Und auch die Konsumenten tragen
ihren Teil zur verfahrenen Situation bei, sehen sie doch über Unrecht hinweg,
wenn es nur weit genug von zu Hause ausgeübt wird. Kaum jemand würde in Wien
ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbeit in Österreich entstand; liegt der
Produktionsort im fernen Asien, so sinkt das Unrechtsempfinden im Ausmaß der
Entfernung. Wenn ein Produzent einen heimischen Fluss mit Abwässern verseucht,
wird er am österreichischen Markt recht bald Absatz- und Imageprobleme
bekommen; anders, wenn die Flussverschmutzung an einer ausländischen
Produktionsstätte stattfindet. Und Giftmüll wird ja nur deshalb aus
Zentraleuropa nach Süditalien verschafft, weil die Lagerung in Ländern wie Deutschland
auf den Widerstand der Bevölkerung stößt.
Die Strafrechtspraxis erklärt
fehlende Erfolge bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität oft mit der
Komplexität der Materie, und verweist bei der Umwelt- und
Lebensmittelkriminalität auf den schwer zu belegenden Zusammenhang zwischen
Schadstoffausstoß und Erkrankung. Die Argumentation hat einen wahren Kern, ist
aber vor allem eine Schutzbehauptung. Es geht nämlich um den Ressourceneinsatz.
Würde man ähnlich viele Personen und Geldmittel im Kampf gegen Finanz- und Umweltkriminalität
einsetzen wie im Kampf gegen Ladendiebe, dann würden sich schnell ähnliche
Ermittlungserfolge und Verurteilungsraten einstellen. 

Das Strafrecht mit seinen
vielen archaischen Elementen bedarf einer völligen Umorientierung. Wir müssen
uns fragen: ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die
Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin
Angestellte von Supermärkten belangen, wenn ein verdorbener Krapfen verkauft
wurde, aber Konzernverantwortliche ungeschoren lassen, die systematisch
verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Es ist richtig, die
Ahndung der Kleinkriminalität hat Modernisierungen wie den
Täter-Opfer-Ausgleich oder die Alternative der gemeinnützigen Arbeit erfahren.
Seiner Aufgabe, die schwersten Störungen des gesellschaftlichen Friedens zu
sanktionieren, kommt das Strafrecht nur völlig unzureichend nach. Wir sollten
zumindest die Unverhältnismäßigkeit und Unzulänglichkeit des Systems im
Hinterkopf haben, wenn wir die Armen und Kranken durch die Strafjustiz
schleusen. 
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Einladung

Richterkarrieren
vor/während/nach dem Nationalsozialismus
Kontinuitäten und Brüche
Bezirksgericht Meidling
1120 Wien, Schönbrunner Straße
222-228 / Stiege 3 / 5.Stock


Montag, 18. Jänner 2016, um 18.30
Uhr

 


Anmeldung erbeten: bgmeidling.laedt.ein@gmail.com

Installation, Foto: Eva Schlegel
(Mahnmal vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien)




Programm 
Begrüßung:        Dr. Oliver Scheiber, Vorsteher des BG Meidling
                            Dr. Wolfgang Brandstetter, BM für Justiz
Vortrag:              Univ. Prof.in Dr.in Ilse
Reiter-Zatloukal
(Universität Wien)
Richterkarrieren vor/während und
nach dem Nationalsozialismus – Kontinuitäten und Brüche
anschließend
Diskussion mit BM für Justiz Dr. Wolfgang Brandstetter und Univ. Prof.
in Dr.in Ilse Reiter-Zatloukal   
Moderation:        Dr. in Maria Wittmann-Tiwald
Präsidentin
des Handelsgerichts Wien, Co-Vorsitzende der Fachgruppe Grundrechte in der
Richtervereinigung
ca 19.45 Uhr:      Josef Schützenhöfer führt durch die
Ausstellung „Schützenhöfer vor Gericht“
Imbiss
1945 – 1955 – 1995 – 2015
Veranstaltungsserie zum
Republiksjubiläum 
Eine Kooperation von/mit Unterstützung von
Bundesministerium für Justiz
Bezirksgericht Meidling
Alte Schmiede Kunstverein Wien
Forschungsstelle
Nachkriegsjustiz
Mauthausen Komitee Österreich
Nationalfonds der Republik
Österreich
Zukunftsfonds der Republik
Österreich
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