Der Schauspieler und Regisseur Nikolaus Habjan hat heute im Justizpalast in Wien in Anwesenheit von Justizminister Brandstetter den Wolfgang-Swoboda-Preis für Menschlichkeit im Strafverfahren erhalten. Der Preis wird von der Vereinigung der Österreichischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte verliehen. Im Folgenden die Dankesrede von Nikolaus Habjan im vollen Wortlaut (Quelle: https://www.facebook.com/nikolaus.habjan/posts/10205940856657165)
„Ich freue mich sehr, hier zu sein.
Es wäre auch für Friedrich Zawrel eine besonders große Freude gewesen, hier vor Ihnen zu stehen. Sein Leben wurde durch Verbrechen des Nationalsozialismus nachhaltig beschädigt. Er ließ sich aber von den Gräueltaten nicht brechen und predigte mir und allen Jugendlichen, denen er sein Leben erzählte, immer wieder den einen Satz: „Wehret den Anfängen, so etwas darf nie wieder passieren.“
Der Fall von Friedrich Zawrel ist beispielhaft für Tausende Schicksale. Es ist eine Justiz-Republiksgeschichte. Schmerzlich mussten wir lernen, dass 1945 nicht die Stunde Null war, sondern dass die Opfer weiterhin respektlos in das Eck der Verbrecher gestellt wurden.
Statt Resozialisierung betrieb man Entsozialisierung. Jahrzehnte nach dem Krieg tat sich die Justiz schwer, Lager- und Heiminsassen als Menschen vor dem Gesetz zu sehen.
Auch heute ist es in Österreich noch immer möglich, sich der NS-Sprache ungestraft zu bedienen:
Unter dem Titel „Mauthausen-Befreite als Massenmörder“ erschien vergangenen Sommer in der Zeitschrift Aula, ein Artikel von Manfred Duswald, der die Überlebenden des KZ in Oberösterreich pauschal als „Landplage“ und „Kriminelle“ darstellt. Darin heißt es:
„Raubend und plündernd, mordend und schändend plagten die Kriminellen das unter der ‚Befreiung‘ leidende Land. Eine Horde von 3.000 Befreiten wählte den Weg ins Waldviertel im Nordwesten von Niederösterreich und wetteiferte dort mit den sowjetischen ‚Befreiern‘ in der Begehung schwerster Verbrechen.“
Zur Erklärung: Bis 1945 befanden sich in Mauthausen 200.000 politische Gefangene, Homosexuelle, Kriegsgefangene und auch sogenannte „Asoziale“. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ermordet, viele starben bei der brutalen Zwangsarbeit in den Steinbrüchen.
Das von der Staatsanwaltschaft Graz aufgenommene Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Auf Antrag des Autors, Manfred Duswald, wurde seitens der Staatsanwaltschaft Graz die Einstellung des Verfahrens so begründet:
„Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“. Weiteres heißt es,da sich (unbestritten) unter den Inhaftierten Rechtsbrecher befanden.“
Anstatt sich mit der NS-Sprache historisch zu beschäftigen, schlug die zuständige Grazer Staatsanwältin Landplage im „Duden“ nach. Die Rechtschreibung stand ja nicht zur Diskussion. Nach Aussagen der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak geht die Etymologie des Gebrauchs von ‚Landplage‘ bis zu Martin Luther zurück und ist auch in der NS-Sprache
verankert.
Auch das Comité International de Mauthausen (CIM) als Dachverband von derzeit 21 nationalen Organisationen von Überlebenden des KZ Mauthausen und deren Angehörigen verwehrte sich auf das Heftigste gegen die vollkommen aus der Luft gegriffene Pauschalierung der Staatsanwaltschaft Graz und spricht von einer Verhöhnung der Überlebenden.
Nicht immer geschehen diese Dinge aus böser Absicht heraus, manchmal auch aus simpler Hirnlosigkeit, fehlender Empathie oder mangelnder Bildung. Es ist absolut überfällig, endlich Verständnis für die Opfer aufzubringen und nicht nur Verständnis für die Täter. Respekt für die Lebensumstände der Opfer. Verständnis dafür, dass einige unter den herrschenden Umständen der Zeit – wie Friedrich Zawrel- gezwungen waren, kriminell zu werden.
Und kein Verständnis aufzubringen für Menschen die solch menschenverachtenden Begründungen schreiben oder für ‚unbedenklich‘ empfinden.
Noch ist das NS-Verbotsgesetz ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung und muss es auch bleiben.
Friedrich Zawrel hat als Zeitzeuge zur Aufarbeitung der Verbrechen „Am Spiegelgrund“ ganz wesentlich beigetragen. Er hat unzählige Male vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse und Erfahrungen – über sein Leben erzählt. Es war ihm wichtig, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Naziverbrechen der Jugend vermittelt wird, damit diese Geschichte keine Wiederholung erfährt.
Im August stellten die ÖVP, SPÖ und die Grünen den Antrag, die Neue Mittelschule in der Hörnesgasse im 3.Bezirk nach Friedrich Zawrel zu benennen. Er selbst hatte diese Schule einige Monate lang besucht.
Alfred Strasser, der Vorsitzende der FPÖ des 3.Bezirks sprach sich gegen die Umbenennung der Schule aus und meinte, Friedrich Zawrel sei ein mehrfach vorbestrafter Krimineller…”und kein Vorbild für die Jugend. Er argumentierte auch mit Gerichtsurteilen, die vor 1945 gefällt wurden, und die alle bereits getilgt waren.
Am 7. Juni wird diese Schule in einer Feierstunde dieses großen Mannes gedenken und diesmal habe ich die Ehre, den Kindern von Friedrich Zawrel zu erzählen.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Preis aufgrund dieser skandalösen Einstellungsbegründung durch die Staatsanwaltschaft Graz ablehnen soll.
Graz zeigt uns leider, dass für manche Mitarbeiter der Justiz Rechtssprechung nur aus Duden und Gesetz besteht, aber es gibt einige Menschen, die stark dagegenhalten und die ich mit meiner Arbeit als Künstler unterstützen und stärken will
Der Kommentar von Oliver Scheiber im Standard vom 23.2.2016, in dem er von einem schweren Rückschlag der Justiz spricht, aber auch von einer neuen Generation von Richtern und Staatsanwälten rund um Justizminister Brandstetter, die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht anstreben, hat mich das noch einmal stark überdenken lassen.
Oliver Scheiber ist es zu verdanken, dass Friedrich Zawrel, Jahrzehnte als Verbrecher abgestempelt, Vortragender der Justiz geworden ist, im Rahmen eines Ausbildungsmodul und von über 120 angehenden Staatsanwälten und Richtern gehört wurde.
Darum nehme ich diesen Preis mit Freuden an, und danke denjenigen, die sich trotz solcher Skandale in Graz nicht entmutigen lassen sich weiter für einen menschenwürdigen und respektvollen Umgang mit Menschen vor Gericht einzusetzen. Vielen Dank!“
Langfassung eines Kommentars, der in der Printausgabe des Standard vom 24.2.2016 erschienen ist
Der Fall „Aula“ wirft die Frage auf, was die Justiz aus der NS-Zeit gelernt hat. Später als andere Institutionen hat sie sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die jüngsten Vorkommnisse sind aber ein Rückschlag
Die heftige Kritik an der Justiz, die Werner Winterstein und Ruth Wodak im Standard geübt haben, ist nicht nur nachvollziehbar, sie ist wichtig und sie wird in die Aus- und Fortbildungsveranstaltungen der Justiz einfließen. Ungeachtet der Enttäuschung über den Anlassfall ist festzustellen, dass allein die Annahme solcher Kritik der Justiz vor zwanzig Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Ich selbst hatte im Jahr 1993 während der Ausbildung die anwaltliche Vertretung eines psychisch kranken jungen Mannes in einem Strafverfahren zu führen. Die Anklage lautete auf schwere Sachbeschädigung. In der Hauptverhandlung am Wiener Straflandesgericht trat der Arzt Heinrich Gross als Sachverständiger auf. Bei seiner Befragung und seinem mündlichen Gutachten in der Hauptverhandlung verwendete Gross, für jeden Laien erkennbar, die Sprache der Nationalsozialisten. Seine Schlussfolgerungen waren frei von jeder medizinisch-sachlichen Würdigung. Begriffe wie „sozialschädlich“, „Parasit“, „biologisch determiniert“, „sozial unsanierbar“ schwirrten durch den Raum. Die Sozialschädlichkeit des Angeklagten machte Gross unter anderem daran fest, dass der Bursche am Weg zum Tatort keine Schnellbahnfahrkarte gelöst hatte.
Die Geschichte des Heinrich Gross war damals schon bekannt. Gross hatte im Nationalsozialismus am vielfachen Mord an Kindern am Spiegelgrund in Wien mitgewirkt. Den von ihm getöteten Kindern entnahm er die Gehirne und baute auf dieser Gehirnsammlung seine Karriere in der Nachkriegsmedizin und Nachkriegsjustiz auf. Er wurde Mitglied von BSA und SPÖ, erhielt ein Boltzmann-Institut, das Goldene Verdienstzeichen der Republik, wurde meistbeschäftigter Gerichtspsychiater des Landes und brachte in den 1970er-Jahren Friedrich Zawrel mittels eines böswilligen Tricks für Jahre ins Gefängnis. Denselben Zawrel hatte der NS-Arzt Gross als Kind unter den Nazis gefoltert.
Trotz Kenntnis der Vorgeschichte des Gross war ich nach der Verhandlung am Straflandesgericht fassungslos darüber, dass hier einer agierte, als wäre die Zeit im Jahr 1944 stehengeblieben. Standard-Herausgeber Oscar Bronner hatte bereits in den 1960er-Jahren in einer viel beachteten publizistischen Auseinandersetzung mit dem damaligen Justizminister Broda darauf hingewiesen, dass allzu viele ehemals hochrangige NS-Richter noch im Justizdienst stünden. Selbst ein Amtsvorgänger Brodas, Justizminister Tschadek, hatte eine Karriere als gefürchteter NS-Richter hinter sich.
Nach der Strafverteidigung am Straflandesgericht überlegte ich eine Disziplinaranzeige gegen Gross und die seinem Treiben tatenlos zusehenden Richter. Nach einer Erörterung mit Freunden und erfahreneren Kollegen war klar, dass solche Schritte für Gross ungefährlich wären, aber das Ende meiner Justizkarriere bedeuten würden. Gross war in der Justiz – noch – sakrosankt.
Ich habe mich entschieden, in der Justiz zu bleiben und jene zu unterstützen, die auf einen Wandel drängten. Bis heute bin ich überzeugt, dass machtvolle Apparate des Staates wie Polizei und Justiz nicht den Ewiggestrigen und Unsensiblen überlassen werden dürfen. Dass es neben der Kritik von außen die Möglichkeit und Notwendigkeit der Veränderung von innen gibt. Dass es beider Flanken bedarf, um rechtsextremes Gedankengut aus den Dienststellen der Republik zu vertreiben.
Der Arzt und Publizist Werner Vogt hatte den Fall Gross bereits Ende der 1970er-Jahre publik gemacht und Friedrich Zawrel gleichsam aus dem Gefängnis befreit. Für Gross wandte sich das Blatt erst 1997, als der damalige Justizminister Michalek eine Mordanklage gegen Gross anordnete.
Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Später als andere Institutionen hat sich die Justiz der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema gestellt. Vor etwa zehn Jahren entstand innerhalb der Richterschaft eine Fachgruppe für Menschenrechte. Die Justizminister Michalek, Berger und Brandstetter organisierten Symposien und Seminare unter dem Titel „Justiz und Zeitgeschichte“. Friedrich Zawrel habe ich vor rund fünfzehn Jahren als Vortragenden für die Justiz gewonnen; er hat diese Funktion bis zu seinem Tod ausgeübt. Vor bald zehn Jahren konnte ich, dank der Unterstützung einer neuen Generation von Beamten im Justizministerium, mit den Historikern Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha ein zeitgeschichtliches Ausbildungsmodul entwerfen. Etwa 120 angehende Richter und Staatsanwälte haben seither daran teilgenommen, die Gedenkstätten in Mauthausen und Am Spiegelgrund besucht, mit Friedrich Zawrel und Werner Vogt diskutiert. Bei diesen Lehrgängen fließen nicht selten Tränen; die Seminare haben, so hoffe ich, nicht nur die Teilnehmenden, sondern die Justiz als solche verändert und beeinflusst. Das Modell findet mittlerweile auch im Ausland Interesse. Europaweit gibt es in der Justizausbildung bisher nämlich kaum eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Faschismus.
Justizminister Brandstetter hat seit seinem Amtsantritt all diese Initiativen unterstützt, Veranstaltungen und geschichtliche Forschung forciert und Maßnahmen zur Sensibilisierung des Justizpersonals gesetzt. Es geht schließlich darum, sich nicht nur der Geschichte bewusst zu sein, sondern die Lehren aus früheren Verbrechen zu ziehen und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht und in Haftanstalten zu entwickeln.
In seiner Stellungnahme zum AULA-Verfahren in Graz bezeichnete der zuständige Sektionschef im Justizministerium, Christian Pilnacek, die Einstellungsbegründung als „grobe Fehlleistung“ und sprach von einer „unsäglichen Diktion.“ Die Begründung sei „unfassbar und in sich menschenverachtend.“ Eine solch klare, öffentliche Schelte ist für die Justiz ein Novum.
Der Fall Aula zeigt, dass die vielfältigen Bemühungen des Ausbildungssystems der Justiz noch lange nicht am Ziel sind. Wenn sich ein ähnlicher Fall in zehn Jahren wiederholen sollte, dann wird die verbale Replik des Justizministeriums hoffentlich von der lauten Entrüstung einer breiten Kollegenschaft und raschen Klarstellungen der Berufsvertretung begleitet sein. Im besten Fall ist bis dahin eine Behördenkultur entstanden, in der auch die unteren Behördenvertreter sich nach Fehlleistungen bei Opfern und Öffentlichkeit entschuldigen.
Vor ziemlich genau einem Jahr, am 20.2.2015, ist der große Friedrich Zawrel verstorben. Justizminister Brandstetter hat Zawrel bei der Trauerfeier gewürdigt. Dem Justizkritiker Werner Vogt hat Brandstetter im September 2015 das Goldene Verdienstzeichen der Republik überreicht. Die Aufführung des Nestroy-Preis-gekrönten Theaterstücks von Nikolaus Habjan über die Lebenswege von Zawrel und Gross im Justizministerium hatte Zawrel gerade noch erlebt.
Der Justizapparat hat während der letzten beiden Jahrzehnte einen Quantensprung zum Positiven hin erfahren. Die Vorgänge in Graz sind ein Rückschlag und zeichnen ein Bild der Widersprüchlichkeit, wie es der Zweiten Republik insgesamt noch immer zu eigen ist.
Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien. Dieser Text gibt seine persönliche Ansicht wieder.
Bericht über eine Veranstaltung am Bezirksgericht Meidling am 18.1.2016
Am 18. Jänner 2016 waren an die 100 Besucherinnen und Besucher zu einer Veranstaltung ins Bezirksgericht Meidling gekommen. Der Abend fand im Rahmen der Werkschau des Malers Josef Schützenhöfer und als Teil einer Veranstaltungsserie zum Republiksjubiläums statt.
Ilse Reiter (Universität Wien) referierte den Forschungsstand zu Richterkarrieren vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Der Standard-Beitrag von Sebastian Fellner (unten) gibt den wesentlichen Inhalt wieder. An das Referat schloss ein Gespräch mit Justizminister Wolfgang Brandstifter an. Moderiert wurde der Abend von Maria Wittmann-Tiwald, Präsidentin des Wiener Handelsgerichts.
Den Besucherinnen und Besuchern stand anschließend ein Buffet zur Verfügung – Interessierte konnten Josef Schützenhöfer folgen, der durch die Ausstellung führte und seine Werke erläuterte.
Die nächste Veranstaltung dieser Reihe findet am Montag, 14.3.2016, zu dem Thema „Polizei“ statt. Anmeldungen bitte an: bgmeidling.laedt.ein@gmail.com. Programm folgt.
Impressionen von der Veranstaltung (Fotos: BKA – Andy Wenzel, BG Meidling):
BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Oliver Scheiber (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Ilse Reiter BM Brandstetter (Foto: BKA- Andy Wenzel)
Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter
Ilse Reiter, Maria Wittmann-Tiwald, BM Brandstetter
Josef Schützenhöfer bei der Führung durch die Ausstellung
Josef Schützenhöfer
BM Brandstetter, Josef Schützenhöfer – Bilder von Arbeitern der Steyr Daimler Puch AG und der Fa Semperit
Brandstetter fordert Erinnerungskultur der Justiz SEBASTIAN FELLNER
20. Jänner 2016, 12:02 91 POSTINGS
Noch in den 1960ern versahen einstige NSDAP-Mitglieder Dienst als Richter und Staatsanwälte
Wien – Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) bescheinigt der österreichischen Justiz eine mangelhafte Auseinandersetzung in der Vergangenheit mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Aus der Außensicht als Strafrechtsprofessor konnte er in den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren keine Vergangenheitsbewältigung beobachten, sagte der Minister bei einer Diskussionsveranstaltung zur Rolle der Justiz vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus am Bezirksgericht Meidling am Montagabend.
Bedrohter Rechtsstaat
Umso mehr lobte Justizminister Brandstetter aktuelle Bemühungen, die Rolle von NSDAP-treuen Richtern und Staatsanwälten auch in der Zweiten Republik aufzuarbeiten. „Gerade in Zeiten von Bedrohungsszenarien für den Rechtsstaat in Europa brauchen wir ein öffentliches Bekenntnis zu unseren Werten und besondere Sensibilität für das, was wir aus der Geschichte lernen müssen“, sagte er. Zu lernen gibt es viel. Denn die Entnazifizierung des österreichischen Justizapparats nach 1945 ist in teilweise haarsträubendem Ausmaß gescheitert, wie die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal in ihrem Vortrag schildert. Aus dem staatlichen Dienst zu entlassen seien nach dem Verbotsgesetz von 1945 die sogenannten „Illegalen“ gewesen – also jene Nationalsozialisten, die bereits während der Zeit des Austrofaschismus der NSDAP angehörten.
Gescheiterte Entnazifizierung
1945 und 1946 wurde fast die Hälfte der Belegschaft aufgrund des neuen Verbotsgesetzes aus der Justizverwaltung entfernt. Dennoch war 1946 im Sprengel des Landesgerichts Wien ein Drittel der Richter ehemalige Nationalsozialisten. Weil aber bald Personalmangel herrschte, wurden andere, ebenfalls belastete Richter und Staatsanwälte wieder eingestellt. „Schon drei Jahre nach Ende des NS-Regimes waren somit die Anfangserfolge der Entnazifizierung weitgehend wieder rückgängig gemacht“, sagte Reiter-Zatloukal. Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 herrschte lange Zeit eine „Schlussstrich“-Mentalität, stellte die Rechtshistorikerin fest. Erst in den 1960er-Jahren flammte die Debatte wieder auf.
Die Nazis unter uns
Unter dem Titel Die Richter sind unter uns enthüllte der spätere STANDARD-Gründer Oscar Bronner die Nazi-Vergangenheit aktiver Richter in Österreich. Die Replik von Justizminister Christian Broda (SPÖ) trug den Titel: „Die Republik hat den Schlussstrich gezogen. Was 1945 recht war, muss 1965 billig sein.“ Der Justizminister lehnte jeglichen weiteren Schritt zur Entnazifizierung der österreichischen Justiz ab, alle betroffenen Personen blieben bis zur Pension im Amt. Brandstetter sieht in der gescheiterten Entnazifizierung auch die Wirkung eines psychologischen Phänomens – vieles wolle man eben nicht wahrhaben. Ein Porträt Otto Tschadeks – SPÖ-Justizminister in den 1950er-Jahren – hängt nach wie vor im Justizministerium, obwohl seine Vergangenheit als Militärrichter im NS-Regime mittlerweile aufgearbeitet ist, erklärt Brandstetter. Das Bild wurde aber mit einer Zusatztafel ausgestattet, die auf die Vergangenheit des Ministers hinweist.
(Sebastian Fellner, 20.1.2016)
Die Diskussion fand im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum Republiksjubiläum am Bezirksgericht Meidling statt. Die Ausstellung des Künstlers Josef Schützenhöfer, „Schützenhöfer vor Gericht“, ist dort noch bis 30. Mai zu sehen.
Ist es gerecht, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Supermarktangestellte wegen eines verdorbenen Krapfens belangen, nicht aber Konzernverantwortliche, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Warum das Strafrecht eine Umorientierung braucht.
Von Oliver Scheiber (Die Presse)
Ein Mann um die dreißig, ohne Arbeit, befindet sich in der Parkgarage eines Wiener Lebensmittelmarkts. Dort steht ein Flaschenrückgabeautomat, in den der Mann hineinkriecht – die Öffnung ist schmal, doch dem Mann kommt hier seine Magerkeit nach jahrelanger Drogenabhängigkeit zu Hilfe. Das Vorhaben, ein paar Leerflaschen herauszuholen, scheitert. Der Mann wird von Ladendetektiven erwischt.
Ein paar Wochen später schildern die Detektive den Vorfall vor einem Wiener Bezirksgericht. Sie müssen schmunzeln. Irgendwie sei es schon schräg gewesen, wie der Mann da mit blutenden Armen am Flaschenband gelegen sei. Er habe sich an den zahlreichen Scherben Arme und Beine zerschnitten. Die Detektive hatten den Mann in ihrem Dienstzimmer über eine Videokamera beobachten können.
Der gescheiterte Flaschendieb heißt im Gerichtssaal Angeklagter. Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten Diebstahl zur Last. Der potentielle Schaden wurde auf rund 5 Euro geschätzt, anhand der Flaschen, die sich in Reichweite des Mannes neben dem Flaschenband befanden.
Der Mann ist, wie Juristen es ausdrücken, umfassend geständig. Seine Mutter, in deren Wohnung er lebte, habe ihn an diesem Tag vor die Tür gesetzt. Er habe nicht gewusst wohin und auch kein Geld für Essen gehabt. Wäre das mit den Flaschen gelungen, dann hätte er sich im Markt mit dem Leergutbon eine Leberkässemmel und ein Bier gekauft. Er sei verzweifelt und hungrig gewesen, mehr könne er dazu nicht sagen. Es tue ihm leid.
Die Umstände dieses Falles sind markant, an sich ist es aber ein klassisches Beispiel einer Strafverhandlung, wie man sie täglich bei Wiener Bezirksgerichten verfolgen kann. In Westösterreich ist man großzügiger, da legen die Staatsanwälte die Anzeigen zu solchen Vorfällen oft zurück. In und um Wien wird von Gesetzesbestimmungen, die mit „Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat“ oder „Entwendung“ überschrieben sind, kaum Gebrauch gemacht. Anders als bei prominenten Wirtschaftsverfahren gibt es keine Besprechungen hochrangiger Justizbeamter über die Richtigkeit der Anklage. Und so kommen jedes Jahr hunderte Fälle vor Gericht, in denen jemand ein Bier oder einen Nagellack stehlen wollte. Hat der Angeklagte Vorstrafen, so kann er für den gescheiterten Bierdiebstahl für einige Monate ins Gefängnis gehen. Gibt man diesen Angeklagten die Gelegenheit über ihr Leben zu sprechen, so bekommt man ähnliche Biographien zu hören: oft ging der Tat ein Todesfall in der Familie voraus, der Verlust des Partners oder eines Kindes, manchmal eine Trennung, und oft sind die Angeklagten seit längerem depressiv oder in psychiatrischer Behandlung. Als Erfahrungswert lässt sich sagen: ungefähr ein Drittel der Angeklagten, die wegen eines Ladendiebstahls oder vergleichbaren Delikts der Kleinkriminalität vor dem Bezirksrichter stehen, zeigen Symptome einer schweren psychischen Erkrankung.
Diebstahl ist strafbar, seit Jahrhunderten und in allen Teilen der Welt. Aber hat der Staat das Recht und die Aufgabe, bei Bagatelldiebstählen das Unglück dieser Menschen mit Gefängnisstrafen zu vergrößern? Was ist denn die Aufgabe des Strafrechts, und wie ist es um den Unrechtsgehalt von Taten wie jener des Leerflaschendiebs bestellt?
Das Strafrecht,so antwortet wikipedia auf die entsprechende google-Suche, ziele vor allem auf den Schutz bestimmterRechtsgüterwie beispielsweiseLebenundEigentumsowie Sicherheit und Integrität desStaatesund elementarer Werte des Gemeinschaftslebens ab. Das Strafrecht sanktioniert also die schwersten Verstöße gegen das gesellschaftliche Zusammenleben. Strafgesetzbücher sind in der Regel überschaubar, die vorherrschenden Delikte in Gesetz und Verhandlungssaal sind in den meisten Staaten dieselben: Mord, Raub, Sexualverbrechen, Einbrüche, Drogendelikte, Diebstähle. Die Vielzahl anderer Gesetzesverletzungen wird als nicht so dramatisch verstanden, als dass die Strafgerichte einschreiten müssten. Wer falsch parkt, wer ohne Fahrschein die U-Bahn benutzt, wer den Müll im Park ausleert oder als Wirt die Sperrstunde überzieht, kommt nicht vor den Strafrichter, sondern erhält eine Verwaltungsstrafe.
Die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist ein Prinzip des modernen Rechtsstaats, der Gleichheitssatz ein anderes. Gleiche Sachverhalte sollen gleich behandelt werden. Misst man das Strafrecht an diesen Maximen, dann stellt sich – nicht nur für Österreich, sondern global – die Frage: behandelt das Strafrecht alle gleich, handeln die Staaten verhältnismäßig? Schärfer formuliert: ist das Strafrecht in der Aufklärung angekommen? Ist das Strafrecht konsequent beim Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen?
Die einfache Antwort lautet: nein. Je größer und breiter die Gefährdung von Gesundheit und Menschenleben ist, umso schwächer ist der strafrechtliche Schutz. Und das liegt nicht so sehr an den Strafgesetzen, als vielmehr an der Strafrechtspraxis. Weltweit lässt sich beobachten, dass Polizei und Staatsanwaltschaft mit der Verfolgung der schwerwiegendsten Kriminalität überfordert sind – es fehlt gleichermaßen an Kompetenz wie an Mut. Man verfolgt weiter das bereits seit Jahrhunderten Verfolgte. Den Zweck des Strafrechts verfehlt man immer deutlicher.
Anschauliche Beispiele dafür gibt es sonder Zahl. In Kampanien, in der Gegend von Neapel und Caserta, hat die Camorra seit den 1970er-Jahren illegale Giftmülldeponien angelegt.Haus- wie Sondermüll wurde und wird dort ungesichert ausgeschüttet. Sind die Deponien voll, werden sie mit Erde beschüttet und dienen als Gemüseplantagen. Die Region hat heute die höchste Unfruchtbarkeitsrate Italiens und die meisten Autismusfälle. Die Zahl der Tumorerkrankungen hat sich allein zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht. Ärzte sprechen von einer regelrechten Epidemie von Schilddrüsenkrebs. Die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern steigt ungebremst an, die Lebenserwartung der Menschen der Region sinkt. Der Chef des Nationalen Krebsforschungsinstituts in Neapel, Giuseppe Comella, stellte vor einiger Zeit fest, es sei eindeutig, dass die Sterblichkeitsrate der Bevölkerung in der Nähe von Müllhalden und Orten, wo heimlich Abfälle vergraben werden, höher ist. Ein Onkologe aus der Region, Antonio Marfella, berichtet, dass genau jene Krebsarten zunähmen, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind.
Das Müllproblem Kampaniens ist ein europäisches – bereits 1997 sagte der Mafiaaussteiger Carmine Schiavone in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Rom aus, dass die Camorra in Süditalien Giftmüll aus ganz Europa lagere. Schiavone nannte die Namen der beteiligten Transportfirmen, er führte die Ermittler zu den illegalen Müllhalden und erzählte von Lastwagen, die aus Deutschland radioaktive Abfälle in Bleikisten angeliefert hätten. Schiavone erläuterte, wie sein Clan Anfang der Neunzigerjahre mit dem illegalen Müllgeschäft monatlich mindestens 700.000 Euro verdiente und damit Bürgermeister und Polizeibeamte schmierte.
Ernsthafte strafrechtliche Maßnahmen gab es in den 17 Jahren seit Schiavones Aussagen nicht. Und so verwundert es wenig, dass vor einem Jahr in Kampanien sichergestelltes Gemüse Kadmium, Arsen und Blei in einer Konzentration aufwies, die den erlaubten Höchstwert um das 500-Fache überschritt. Und auch die Unternehmer, die wissentlich verseuchte Lebensmittel vertreiben, ihre Herkunft verschleiern, sie falsch deklarieren, haben nur in den seltensten Fällen mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Die Gefängnisse der Welt sind voll mit Einbrechern, Dieben und kleinen Drogenhändlern; diejenigen, die Gesundheit und Leben einer Vielzahl von Menschen durch vergiftete Lebensmittel, durch illegale Rodungen oder Flussverschmutzungen gefährden oder die Kinder arbeiten lassen, sucht man in Haftanstalten vergeblich.
An den Müllverbrechen Kampaniens sind viele beteiligt, vor Ort, aber auch unter den Müllexporteuren in mehreren europäischen Staaten. Sie wissen, dass letztendlich zehn-, wenn nicht hunderttausende Menschen an den Folgen dieser Umweltverbrechen sterben werden, und sie haben dennoch wenig zu befürchten. Und das ist beileibe kein italienisches Phänomen. Im westlichen Ungarn brach am 4. Oktober 2010 ein Deponiebecken der Aluminiumhütte MAL AG. Eine meterhohe ätzende Giftschlammflut wälzte sich über das Land. Zehn Menschen starben darin, 200 wurden verletzt. 350 Häuser wurden zerstört, der Schlamm verseuchte Flüsse und den Boden auf einem Gebiet in der Größe von 40 Quadratkilometern.
Fünf Jahre nach der Katastrophe sind die Strafverfahren nicht abgeschlossen: Die Katastrophe hätte nicht vorausgesehen werden können und sei nicht auf menschliches Versagen zurückzuführen, hieß es zuletzt von Seiten der Gerichte. Für Sanierungsarbeiten hat die Regierung 40 Milliarden Forint (130 Millionen Euro) öffentlicher Gelder ausgegeben.
Oder Japan: dort sind nach neueren Expertenschätzungen als direkte Folge der Atomkatastrophe von Fukushima vom März 2011 zwischen 40.000 und 80.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten, außerdem bis zu 37.000 Krebserkrankungen durch strahlenbelastete Nahrungsmittel. Allein in der Region Fukushima wurden bisher bei mehr als 55.000 Kindern Schilddrüsenzysten festgestellt, die als Vorstufe von Tumorerkrankungen gelten. Der Reaktorunfall in Fukushima wurde zudem erst nach einem Monat von der japanischen Regierung auf die Katastrophenstufe sieben gestellt, also als schwerer Unfall qualifiziert. Genauso lange hatte es im Jahr 1986 gedauert, bis der Atomunfall von Tschernobyl ebenfalls als Katastrophe der Stufe 7 eingeordnet wurde. Regelmäßig wird die Bevölkerung bei solchen Störfällen zu spät gewarnt, und es gibt weder Konsequenzen für die Verursacher der Katastrophen noch für die Behördenvertreter, die Informationen zurückhalten. Und da es keine Konsequenzen gibt, bleibt das Muster immer gleich. Auch der jüngste Kärntner Fall von HCB-kontaminierter Milch folgt dem bekannten Schema. Als Greenpeace die Giftbelastung der Milch im Dezember 2014 öffentlich macht, weisen Behörden und Politik zunächst jede Verantwortung zurück. Stück für Stück wird bekannt, dass die Gefahren des Brückler-Baukalks seit 2004 im Umweltbundesamt dokumentiert sind. 2011 erging ein Entsorgungsauftrag zur Verwertung des giftstoffbelasteten Restmülls. Bereits im März 2014 wussten die Behörden von Milchproben, bei denen die HCB-Belastung deutlich über den Grenzwerten lag. Der für Lebensmittelsicherheit zuständige Behördenleiter meint nun, dass das Amtsgeheimnis eine Warnung der Bevölkerung verhindert hätte. Was für eine absurde Rechtsauslegung. Der Sachverhalt ist angezeigt.
Die Liste der Umwelt- und Lebensmittelskandale ließe sich fortsetzen. Das Strafrecht kommt seiner Aufgabe, die Gesellschaft vor schweren Verletzungen von Eigentumsrechten und vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen, immer weniger nach. Weltweit übt sich die Strafrechtspraxis in der Verfolgung von Kleinkriminalität, stecken Polizei und Justiz den Großteil ihrer Ressourcen in die Untersuchung von Delikten, die sich von vornherein durch einen geringen Unrechtsgehalt und geringes Gefahrenpotenzial auszeichnen. Umwelt- und Lebensmittelkriminalität bedrohen weltweit das Leben von Millionen Menschen und haben kaum ein Risiko einer strafrechtlichen Ahndung. Ähnliches gilt für viele Bereiche der Finanz- und Wirtschaftskriminalität, die manchmal Kommunen oder Länder in ihrer Existenz bedrohen bzw. auf einen Schlag eine Vielzahl von Anlegern um ihr Vermögen bringt. Oft verlieren auf einen Schlag tausende Menschen durch kriminelle Machenschaften ihre jahrzehntelang angesparten Pensionen. Es ist oftmals beschrieben worden, dass die Politik die Kontrolle über das internationale Finanzkapital verloren hat. Global agierenden Konzernen gelingt es, trotz hoher Gewinne durch ausgeklügelte Konzernstrukturen und geschickte Standortwahl die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Und genau so schaffen es manche Unternehmen, in einem weitgehend strafrechtsfreien Feld nach Belieben zu agieren.
Eine Ursache des Dilemmas liegt darin begründet, dass das Strafrecht zumeist an den Tatort im Inland anknüpft. Ein europäischer Konzern, der sich irgendwo in der Welt der Kinderarbeit bedient oder die Umwelt vergiftet, wird deshalb in Europa nicht strafrechtlich verfolgt. Das ist nicht zeitgemäß: wirtschaftliches Handeln kennt keine Grenzen, nur die Strafverfolgung lässt sich noch durch Grenzen behindern. Schwere Vergehen europäischer Staatsbürger und Unternehmen sollten in Europa genau so verfolgt werden als ob die Tat in der Heimat begangen worden wäre. Bei politischen Verbrechen ist diese Systemumstellung bereits vor einiger Zeit geglückt: Diktatoren und Völkermörder werden heute weltweit für ihre Verbrechen belangt, sie können sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen.
Und auch die Konsumenten tragen ihren Teil zur verfahrenen Situation bei, sehen sie doch über Unrecht hinweg, wenn es nur weit genug von zu Hause ausgeübt wird. Kaum jemand würde in Wien ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbeit in Österreich entstand; liegt der Produktionsort im fernen Asien, so sinkt das Unrechtsempfinden im Ausmaß der Entfernung. Wenn ein Produzent einen heimischen Fluss mit Abwässern verseucht, wird er am österreichischen Markt recht bald Absatz- und Imageprobleme bekommen; anders, wenn die Flussverschmutzung an einer ausländischen Produktionsstätte stattfindet. Und Giftmüll wird ja nur deshalb aus Zentraleuropa nach Süditalien verschafft, weil die Lagerung in Ländern wie Deutschland auf den Widerstand der Bevölkerung stößt.
Die Strafrechtspraxis erklärt fehlende Erfolge bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität oft mit der Komplexität der Materie, und verweist bei der Umwelt- und Lebensmittelkriminalität auf den schwer zu belegenden Zusammenhang zwischen Schadstoffausstoß und Erkrankung. Die Argumentation hat einen wahren Kern, ist aber vor allem eine Schutzbehauptung. Es geht nämlich um den Ressourceneinsatz. Würde man ähnlich viele Personen und Geldmittel im Kampf gegen Finanz- und Umweltkriminalität einsetzen wie im Kampf gegen Ladendiebe, dann würden sich schnell ähnliche Ermittlungserfolge und Verurteilungsraten einstellen.
Das Strafrecht mit seinen vielen archaischen Elementen bedarf einer völligen Umorientierung. Wir müssen uns fragen: ist es gerecht und effizient, Leergutdiebe zu verfolgen, aber die Untersuchung der Finanzkriminalität zu vernachlässigen? Wollen wir weiterhin Angestellte von Supermärkten belangen, wenn ein verdorbener Krapfen verkauft wurde, aber Konzernverantwortliche ungeschoren lassen, die systematisch verbotene Lebensmittelzusätze in die Nahrungskette bringen? Es ist richtig, die Ahndung der Kleinkriminalität hat Modernisierungen wie den Täter-Opfer-Ausgleich oder die Alternative der gemeinnützigen Arbeit erfahren. Seiner Aufgabe, die schwersten Störungen des gesellschaftlichen Friedens zu sanktionieren, kommt das Strafrecht nur völlig unzureichend nach. Wir sollten zumindest die Unverhältnismäßigkeit und Unzulänglichkeit des Systems im Hinterkopf haben, wenn wir die Armen und Kranken durch die Strafjustiz schleusen.